Abrissfraktur am Sitzbein

Zusammenfassung

  • Definition:Avulsionsfraktur des Tuber ischiadicum.
  • Häufigkeit:Seltene Sportverletzung bei Jugendlichen.
  • Symptome:Bei explosiver Belastung der hinteren Oberschenkelmuskulatur (z. B. Sprint) treten akute Schmerzen am hinteren Oberschenkel und Gesäß auf.
  • Befunde:Druckschmerz über dem Tuber ischiadicum.
  • Diagnostik:Röntgen, evtl. MRT.
  • Therapie:Operative Therapie; positive Prognose bei frühzeitiger Therapie.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Synonym: Avulsionsfraktur des Tuber ischiadicum
  • Abrissfraktur des Tuber ischiadicum

Häufigkeit

  • Apophysen gehören zu den bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten verletzten Strukturen beim Sport.1
  • Im Beckenbereich betreffen Avulsionsfrakturen am häufigsten das Tuber ischiadicum sowie die Spinae iliacae anterior superior und inferior.1-2

Klinische Anatomie

  • Apophysen sind sekundär verknöchernde Knochenvorsprünge, an denen Sehnen ansetzen.1
  • Vom 13.–18. Lebensjahr tritt der Apophysenkern am Os ischium auf. Durch den Zug der ischiokruralen Muskulatur bildet sich der Tuber ischiadicum aus.1
    • Schluss der Apophysenfuge zwischen dem 20.–25. Lebensjahr

Ätiologie und Pathogenese

  • Frakturen treten in der Regel in dem Alter auf, in dem die Apophyse das schwächste Glied in der Kette der Muskeln, Sehnen und Knochen bildet.
  • Bei schnellkräftigen sportlichen Aktivitäten mit Richtungswechseln und ex-/konzentrischer Muskelaktivität kann die einwirkende Belastung die Festigkeit der Apophysenfuge übersteigen.2
    • Es resultieren in der Adoleszenz teilweise oder komplette Ausrisse der Apophysen im Sinne einer Avulsionsverletzung.
    • Im Gegensatz dazu reißt bei Erwachsenen eher die Muskulatur.
  • Die Ursache der Abrissfraktur vom Tuber ischiadicum ist in der Regel eine starke Kontraktion der hinteren Oberschenkelmuskulatur, wie z. B. beim Sprint und Hürdenlauf.

Prädisponierende Faktoren

  • Zeitraum der offenen Apophysenfuge
  • Sportarten mit starker Anspannung der hinteren Oberschenkelmuskulatur, z. B. Skifahren, Sprint, Hürdenlauf

ICPC-2

  • L76 Fraktur, andere

ICD-10

  • S76.3 Verletzung von Muskeln und Sehnen der posterioren Muskelgruppe in Höhe des Oberschenkels

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Verdachtsdiagnose durch Anamnese und klinische Untersuchung
  • Bestätigung der Diagnose durch Röntgen

Differenzialdiagnostik

Anamnese

  • In der Regel sind Jugendliche betroffen.
  • Typische Symptomatik1
    • starker Spontanschmerz nach explosiver Muskelanstrengung mit Ausstrahlung in den proximalen dorsalen Oberschenkel
    • mehr Schmerz beim Sitzen als beim Stehen

Klinische Untersuchung

Inspektion

  • Abhängig vom Alter der Verletzung
    • frisch: Hämatom, Schwellung
    • alt: evtl. beginnende Atrophie der hinteren Oberschenkelmuskulatur

Palpation

  • Lokaler Druckschmerz über dem Sitzbein

Funktionsprüfung

  • Schmerzprovokation durch isometrische Krafttestung
    • Patient*in in Bauchlage
    • leichte Hüftstreckung
    • Kniebeugung gegen Widerstand von Untersucher*in (Hand drückt gegen Ferse oder Unterschenkel)
  • Evtl. positives Lasègue-Zeichen beim Anheben des gestreckten Beins
    • bei Irritation des N. ischiadicus durch Knochenfragment und/oder Hämatom

Weitere Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Nicht notwendig

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Dynamische Ultraschalluntersuchung
    • Darstellung von Muskulatur und Sehne
  • Röntgen: Becken Übersicht1
    • Nachweis eines knöchernen Ausrisses
  • Schnittbildgebung in der Regel entbehrlich2

Indikationen zur Überweisung

  • Bei V. a. Avulsionsfraktur Überweisung an pädiatrisch erfahrene Unfallchirurg*in

Therapie

Therapieziele

  • Schmerzlinderung
  • Schnelle Wiederaufnahme der sportlichen Aktivitäten

Allgemeines zur Therapie

  • Therapeutisch steht eine konservative Behandlung mithilfe von physikalischer Therapie und Teilentlastung im Vordergrund.2
  • Im Fall einer Fragmentdislokation > 1,5–2 cm sowie bei im Leistungssport aktiven Patient*innen ist eine operative Behandlung zu erwägen.2

Konservative Therapie

  • Akut PECH-Schema
    • Pause, Kühlen, Kompression
  • Modifikation der körperlichen Aktivität
    • Verzicht auf explosive Anspannung der ischiokruralen Muskulatur (Sportpause)
    • ggf. Teilentlastung der Oberschenkelmuskulatur durch Unterarmgehstützen

Operative Therapie

  • Anatomische Refixation des Fragments mittels offener Reposition und Schrauben oder Ankern1
    • Implantatentfernung wird nur bei Beschwerden durch das Fremdmaterial empfohlen.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Wegen der starken Zugkräfte der ischiokruralen Muskulatur kann es sowohl direkt bei der Verletzung als auch im Verlauf, insbesondere bei fehlender körperlicher Schonung, zu einer deutlichen Dislokation des Avulsionsfragments kommen.
    • In diesem Fall ist eine Operation notwendig.1

Komplikationen

  • Sekundäre Dislokation des Fragments1
  • Pseudarthrose1
  • Pseudotumor, ggf. mit Störung N. ischiadicus1
  • Heterotope Ossifikation1

Prognose

  • Gut2
  • Wiederherstellung der vollen Kraft in der Regel nach 3–4 Monaten1

Patienteninformation

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Gaulrapp H, Lackner TA, Mellerowicz H. Verletzungen und Überlastungsschäden der großen Apophysen. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2020; 15(5): 447-63. www.thieme-connect.com
  2. Schulze A, Schmittenbecher PP. Apophysenausrisse in der Beckenregion im Kindes- und Adoleszentenalter. Der Unfallchirurg 2021; 124: 519-25. link.springer.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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