Zusammenfassung
- Definition:Frakturen im Bereich der Femurkondylen, eingeteilt in intra- oder extraartikulär.
- Häufigkeit:4,5–8,7 Fälle auf 100.000 Personen pro Jahr.
- Symptome:Immobilisierende Schmerzen, meist nach Hochrasanztrauma (junge Patient*innen) oder Sturz (ältere Patient*innen).
- Untersuchung:Klassischerweise Verkürzung und Varisierung des Oberschenkels durch Zug der Adduktoren am proximalen Fragment.
- Diagnostik:Röntgen in 2 Ebenen, bei intraartikulärer Fraktur CT, bei V. a. ligamentäre Schädigung MRT. Überprüfung vom Gefäß- und Nervenstatus wegen enger anatomischer Nähe zum Femur in der Kniekehle.
- Therapie:Schnelle operative Versorgung für frühfunktionelle Beübung. Konservatives Vorgehen wegen deutlich schlechterer Prognose nur in Ausnahmefällen (multimorbide, bettlägerige oder palliative Patient*innen).
Allgemeine Informationen
Definition
- Fraktur im Bereich der Femurkondylen
- Femurkondylen bilden den proximalen Gelenkpartner des Knies.
Klassifikation (AO/OTA-Klassifikation)1
- Typ A: extraartikuläre Fraktur
- Typ B: intraartikuläre monokondyläre Fraktur
- Typ C: intraartikuläre bikondyläre Fraktur
- Sonderform: periprothetische Fraktur
Häufigkeit
- Inzidenz2
- 4,5–8,7 Fälle auf 100.000 Personen pro Jahr
- Macht nur etwa 6 % aller Femurfrakturen aus.2
- Eine proximale Femurfraktur ist etwa 10-mal häufiger.
- Alter und Geschlecht3
- zwei Häufigkeitsgipfel
- < 40 Jahre, meist männlich und Hochrasanztrauma
- > 50 Jahre, meist weiblich und Niedrigenergietrauma
- zwei Häufigkeitsgipfel
Ätiologie und Pathogenese
- Jüngere Patient*innen erleiden die Verletzung häufig durch einen Verkehrsunfall, bei geriatrischen und dann meist weiblichen Patient*innen liegt überwiegend ein Sturz auf der Ebene vor.2
- Meist durch axiale Krafteinleitung auf Oberschenkel, seltener durch Rotationskraft3
- Die Nähe zu den neurovaskulären Strukturen der Kniekehle sowie der ligamentäre Verbund zum Kniegelenk prädisponieren für Begleitverletzungen.3
Prädisponierende Faktoren
- Hochenergetisches Trauma
- Prädisponierend für pathologische Frakturen
- Osteoporose
- Knochenmetastasen (selten am distalen Femur)
- Knochenzysten
- Osteosarkom, Ewing-Sarkom
- sehr seltene Ursache im Kinder- und Jugendalter
ICPC-2
- L76 Fraktur, andere
ICD-10
- S72.4 Distale Fraktur des Femurs
- S72.41 Kondylus (lateralis, medialis)
- S72.42 Epiphyse, Epiphysenlösung
- S72.43 Suprakondylär
- S72.44 Interkondylär
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Sicherung der Diagnose durch Bildgebung
Differenzialdiagnosen
- Oberschenkelschaftfraktur
- Luxation des Kniegelenks
- Kniegelenkfrakturen
- Begleitverletzungen am Kniegelenk, z. B. der Kreuzbänder oder Kollateralbänder
Anamnese
- Analyse des Verletzungsmechanismus
- bei Hochrasanztrauma oft multiple Verletzungen
- Vorerkrankungen/-verletzungen der betroffenen Extremität
- Prothese?
- Grunderkrankungen, u. a.:
- Osteoporose
- Malignom.
- Medikamentenanamnese
- Blutverdünner?
- Symptome
- Schmerzen
- fehlende Belastbarkeit des Beins
Klinische Untersuchung
Inspektion
- Schwellung, Hämatom, verstrichene Kniegelenkkontur1
- Verkürzung des Oberschenkels
- Fehlstellung in Rotation und Achse
Palpation
- Druckschmerzhaftigkeit des Oberschenkels
- Krepitation
Funktionsprüfung
- Periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität
- Cave: Ein tastbarer peripherer Puls schließt eine Gefäßverletzung nicht aus!3
- Begleitverletzungen beachten, insbesondere am Kniegelenk.
Diagnostik bei Spezialist*innen
Bildgebung3
- Röntgen
- Röntgen Knie/distaler Oberschenkel in 2 Ebenen
- CT
- bei V. a. intraartikuläre Fraktur
- MRT
- bei V. a. ligamentäre Begleitverletzung
- Gefäßbildgebung
- insbesondere im Fall von Luxationsfrakturen entsprechende Diagnostik mittels Duplexsonografie, KM‐CT oder Angiografie empfohlen
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
- Bei Verdacht auf eine Fraktur Einweisung in Krankenhaus mit Unfallchirurgie
Therapie
Therapieziele
- Anatomische Reposition der Gelenkfläche sowie Wiederherstellung von Beinlänge und Achsenverhältnissen, damit frühfunktionelle Nachbehandlung erfolgen kann.3
Allgemeines zur Therapie
- Schnellstmögliche operative Versorgung Therapie der 1. Wahl1,3
- Ein konservatives Vorgehen ist wegen deutlich schlechterer Prognose (2,8-mal höhere 1-Jahres-Mortalität) lediglich Ausnahmesituationen vorbehalten.
- Weil mit einer konservativen Behandlung keine frühfunktionelle Nachbehandlung durchgeführt werden kann, besteht auch bei nichtdislozierten Frakturen prinzipiell die OP-Indikation.
Konservative Therapie
- Nur in Ausnahmesituationen indiziert.1
- Multimorbide Patient*innen, bei denen der Allgemeinzustand eine sichere Allgemeinnarkose nicht erlaubt.
- bettlägerige, palliative Patient*innen ohne jeglichen motorischen Anspruch
- Vorgehen1
- initial meist dorsale Gipsschiene
- Nach Rückgang der Frakturschwellung (ca. 1 Woche) kann auf einen zirkulären Oberschenkelgips gewechselt werden, der unter vollständiger Entlastung für weitere 6–8 Wochen getragen werden soll.
Operative Therapie
- Die Auswahl der osteosynthetischen Versorgung ist abhängig vom Frakturtyp. 1,3
- Typ A (extraartikuläre Fraktur)
- Marknagelosteosynthese – oder –
- minimalinvasive Plattenosteosynthese
- Typ B + C (intraartikuläre Frakturen)
- zunächst stufenfreie Reposition der Gelenkflächen und Fixation der Fragmente mit Schrauben
- dann Versorgung mit Marknagelosteosynthese oder Plattenosteosynthese
- Polytrauma mit vital gefährdenden Begleitverletzungen
- Fixateur externe als „Damage Control“ bis zur definitiven Versorgung nach Stabilisierung der Patient*innen
Postoperative Therapie3
- Kontrolle von Durchblutung und Sensibilität, um die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms frühzeitig zu erfassen.
- Radiologische Kontrollen bis zur sicheren Konsolidierung der Fraktur
- Physiotherapeutische Maßnahmen zur Reduzierung eines Gelenkergusses, des Weichteilödems und Vermeidung von Verklebungen
- Auch wenn keine Gelenkbeteiligung vorliegt, kann die Behandlung mit einer CPM-Schiene („Continuous Passive Motion“) Vernarbungen der Muskulatur auf dem Periost vorbeugen.
- Beugefähigkeit von 90 Grad ist rasch anzustreben.
- Die Mobilisation kann unter 20-kg-Teilbelastung für zunächst 6 Wochen durchgeführt werden und sollte in weiteren 6 Wochen langsam zur Vollbelastung gesteigert werden.
Medikamentöse Therapie
- Analgetika
- Evtl. Antibiotika (bei offener Fraktur indiziert)
- Leitliniengerechte Thromboseprophylaxe (Frühmobilisation, Anleitung zu Eigenaktivierung der Wadenmuskulatur und medikamentöse Thromboseprophylaxe)4
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Bei fehlender operativer Versorgung treten regelhaft Komplikationen wie Fehlstellungen und Funktionseinschränkungen der unteren Extremität auf.
Komplikationen
- Bei Frakturen in diesem Bereich erhöhtes Risiko von Nerven-/Gefäßverletzungen
- A. poplitea/V. poplitea
- N. tibialis oder N. peroneus communis
- Kompartmentsyndrom
- Thromboembolie
- Infektionen, evtl. Osteomyelitis
- Achsfehlstellung/Beinlängendifferenz/Rotationsfehlstellung
- Wachstumsstörungen
- bei Kindern und Frakturbeteiligung der Wachstumsfugen
- Posttraumatische Arthrose
- Pseudarthrose
- Bleibende Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk (posttraumatische Arthrofibrose)
Prognose
- Die Prognose ist abhängig von der Komplexität der Fraktur und den Begleitverletzungen.
- In einem geriatrischen Patientenkollektiv > 65 Jahre war nach der operativen Versorgung die Gesamtrevisionsrate 17,5 % und die mittlere Überlebenszeit 5,4 Jahre.2
- Die konservative Therapie birgt eine 2,8-mal höhere 1-Jahres-Mortalität und sollte daher nur in Ausnahmefällen in Erwägung gezogen werden.1
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Illustrationen
Quellen
Literatur
- Mair O, Biberthaler P, Hanschen M. Distale Femurfrakturen. Unfallchirurg 2020; 123: 547-559. link.springer.com
- Müller F, Buchner M, Doblinger M et al. Die distale Femurfraktur beim geriatrischen Patienten. Unfallchirurg 2021; 124: 568-73. link.springer.com
- Harms C, Mittlmeier T. SOP Distale Femurfraktur. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2019; 14(5): 463-8. www.thieme-connect.com
- AWMF Arbeitsgem. der Wiss. Medizin. Fachgesellschaften. S3-Leitlinie Prophylaxe der venösen Thromboembolie. AWMF-Leitlinie 003-001, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).