Azetabulumfraktur

Zusammenfassung

  • Definition: Fraktur der Hüftpfanne. Es werden stabile und instabile Frakturen unterschieden.
  • Häufigkeit:Bei Polytraumata ist eine Azetabulumfraktur bei 0,5–7,5 % der Patienten vorhanden.
  • Symptome:Die meisten Azetabulumfrakturen sind auf schwere Verletzungen infolge von Verkehrsunfällen oder Stürzen aus großer Höhe zurückzuführen.
  • Untersuchung:Häufig liegen multiple Traumata vor. Schmerzen bei Belastung und Bewegung in der Hüfte, Fehlstellung/Verkürzung des Beins.
  • Diagnostik:Die Diagnose kann anhand einer Röntgen- und CT-Untersuchung gestellt werden.
  • Therapie:Stabile Azetabulumfrakturen ohne Luxationsneigung und mit ebener Gelenkfläche werden konservativ behandelt. Bei instabilen Frakturen und Stufe in der Gelenkfläche > 2 mm ist eine operative Therapie indiziert.

Allgemeine Informationen

Definition

  • In der Regel durch schwere Verkehrsunfälle oder Stürze aus großer Höhe verursacht1
  • Klassifikation der Fraktur ist für die Planung und Durchführung der Therapie ausschlaggebend.
  • Stabile Frakturen
    • Frakturen ohne Dislokation (< 2 mm), die nicht zu Luxationsneigung führen.
  • Instabile Frakturen
    • dislozierte Frakturen
    • evtl. mit Luxation des Caput femoris
  • Einteilung der Hüftpfanne in vordere und hintere Säule 
    • anatomische Trennung durch Y-Fuge (Verschmelzungszone von Os ilium, ischium und pubis)

Multiple Traumata

  • Hohe Prävalenz von Begleitverletzungen2
    • intrakranielle, spinale, intrathorakale und intraabdominale Verletzungen 
    • bis zu 20 % der Patienten mit zusätzlicher Fraktur des Beckenrings3
      • bei Beckenringfraktur Gefahr für hohe Blutverluste und Verletzungen des Darms und Urogenitaltrakts

Häufigkeit

  • Bei Polytraumata sind 0,5–7,5 % der Patienten von einer Azetabulumfraktur betroffen.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Krafteinwirkungen auf die untere Extremität werden über den Femurkopf auf die Hüftpfanne übertragen.
  • Die Art der Verletzung ist abhängig von Richtung und  Größe der Kraft sowie der Position des Femurkopfes.
    • laterale Krafteinwirkung über den Trochanter major
      • Querfraktur des Azetabulums
    • axiale Krafteinwirkung, z. B. beim Anprall des Knies gegen das Armaturenbrett („Dashboard Injury“)
      • senkrechte Fraktur des Azetabulums: vorderer und/oder hinterer Pfeiler der Hüftpfanne betroffen

AO-Klassifikation

  • Vereinfachte AO-Klassifikation4
    • Typ A: nur ein Pfeiler betroffen
    • Typ B: Querfraktur
    • Typ C: beide Pfeiler betroffen

Prädisponierende Faktoren

  • Unfälle mit hoher Krafteinwirkung
    • Hochrasanztraumata, schwere Verkehrsunfälle, Sturz aus großer Höhe
  • Hohes Alter und Osteoporose

ICPC-2

  • L76 Fraktur, andere

ICD-10

  • S32.4 Fraktur des Acetabulums

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Hochenergetisches Trauma und gesicherte Röntgen- und CT-Befunde

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Entsprechendes Trauma, häufig in Verbindung mit Unfällen mit hoher Krafteinwirkung
  • Stoß von vorn oder von der Seite, ggf. in Kombination mit einer Luxation des Caput femoris
  • Erfragen Sie den prätraumatischen Zustand der Hüfte.
    • Bei Coxarthrose ist ein künstlicher Gelenkersatz die bessere Option als eine chirurgische Reposition der Frakturfragmente.5

Klinische Untersuchung

  • Vitalparamter erheben.
    • häufig lebensbedrohliche Begleitverletzungen
  • Beinlängenposition
    • Adduktion, Flexion und Innenrotation
      • Hinweis auf hintere Luxation
    • Abduktion und Außenrotation
      • Hinweis auf vordere Luxation
    • Beinlängendifferenz?
  • Bewegungsausmaße im Hüftgelenk
  • Instabilität
    • vermehrte Traktion möglich bei vertikaler Instabilität
  • Periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität
    • bei Luxation N. femoralis (vorne) bzw. N. ischiadicus (hinten) gefährdet
  • Schmerzen bei Belastung des Knochens und Bewegung der Hüfte

Ergänzende Untersuchungen

  • Je nach klinischem Gesamtzustand
    • bei Polytrauma z. B. FAST-Sonografie (Focused Assessment with Sonography for Trauma) zum Ausschluss intraabdomineller Verletzungen

Diagnostik beim Spezialisten

  • Röntgen obligat
    • Becken Übersicht mit Darstellung beider Hüftgelenke
    • Spezialaufnahmen, z. B. Judet View (schräge Aufnahme)
    • Häufig ausreichend, um Azetabulumfrakturen richtig einzustufen.
  • CT
    • 3D-Rekonstruktion sehr hilfreich6
      • optimale Darstellung der Frakturfragmente und möglicher Dislokation
      • präoperative Planung, u. a. Zugangsweg

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

Therapie

Therapieziele

  • Kongruente Gelenkfläche herstellen.
  • Frakturstücke fixieren.
  • Die Funktion des Hüftgelenks wiederherstellen.

Allgemeines zur Therapie

  • Problematisch ist bei Azetabulumfrakturen meist nicht die Fragestellung, ob die Fraktur stabil ist oder nicht (im Gegensatz zu Beckenringfrakturen), sondern ob eine Fehlstellung oder eine Dislokation (> 2 mm) im tragenden Bereich der Gelenkfläche vorliegt.
  • Konservative Therapie3
    • stabile Azetabulumfrakturen ohne Luxationsneigung
    • Stufe in  Gelenkfläche < 2 mm
    • Frakturalter > 3 Wochen
  • Operative Therapie 7
    • instabile Fraktur
    • Stufe in Gelenkfläche > 2 mm
    • intraartikuläre Frakturfragmente
    • geschlossene Reposition nicht möglich

Konservative Therapie

  • In der Regel Entlastung durch Krücken über einen Zeitraum von 2–6 Wochen
  • Kontrolluntersuchung je nach individueller Einschätzung

Operative Therapie

  • Der ideale Zeitpunkt für die Operation ist 3–10 Tage nach dem Trauma.3
    • Eine initiale Blutung aus den Beckengefäßen behindert bei der Operation.
  • Die Wahl des Operationsverfahrens ist abhängig von den anatomischen Merkmalen der Fraktur und der Erfahrung des Chirurgen.
    • Verschiedene Verfahren sind möglich.3
    • Die Versorgung der Azetabulumfraktur ist extrem schwierig.8
      • wegen Schweregrad des Traumas häufig viele kleine Fragmente
  • Lag vor Verletzung Coxarthrose vor, ist eine Endoprothese empfehlenswert.5
  • Frühzeitige postoperative Mobilisierung und Rehabilitation
  • Eingeschränkte Gewichtsbelastung in den ersten 8–12 Wochen, volle Gewichtsbelastung nach etwa 12 Wochen
  • Wiederaufnahme sportlicher Aktivitäten nach etwa 6 Monaten

Empfehlung der DGOU: Nachbehandlung der operativ versorgten Azetabulumfraktur

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.9

Stabilität direkt nach OP: bewegungsstabil

  • Ab 1. Tag postoperativ
    • Behandlungsziel
      • Aktivierung
    • Maßnahmen
      • Aufstehen über die nicht betroffene Seite
      • Aktivierung mit entsprechendem Hilfsmittel
      • Gehstützen anpassen.
    • Belastung/Bewegungsausmaß
      • schmerzabhängige Aktivierung aus dem Bett
      • 20 kg Teilbelastung mit Gehhilfen erlaubt.
  • Ab 2. Tag postoperativ
    • Behandlungsziel
      • erweiterte Aktivierung
    • Maßnahmen
      • aktive Bewegung der unteren Extremität mit kurzem Hebel
      • Oberkörpertraining
      • tägliche Therapie empfehlenswert
    • Belastung/Bewegungsausmaß
      • im schmerzarmen Bereich
      • Kompressionsbelastung der Hüfte möglichst vermeiden.

Stabilität nach 3 Tagen: belastungsstabil

  • 4. Tag bis 6. Woche postoperativ
    • Behandlungsziel
      • physiologisches Bewegungsverhalten
    • Maßnahmen
      • Gangschule
      • Treppensteigen
      • Training von Kraft, Ausdauer, Koordination und Gleichgewicht 
    • Belastung/Bewegungsausmaß
      • 20 kg Teilbelastung
      • schmerzadaptierte Bewegung ohne Limit
  • 6. Woche postoperativ
    • Röntgenkontrolle
  • 7. Woche bis 12. Woche postoperativ
    • Behandlungsziel
      • Belastungssteigerung
      • Arbeitsfähigkeit
    • Maßnahmen
      • Gangschule mit Belastungssteigerung, Beratung über häusliche Hilfsmittel
    • Belastung/Bewegungsausmaß
      • adaptierte Belastungssteigerung zur Vollbelastung
      • Bewegung ohne Limit
  • 13. Woche bis 16. Woche postoperativ
    • Behandlungsziel
      • Vollbelastung unter Alltagsbedingungen
    • Maßnahmen
      • intensiviertes Muskeltraining unter Einsatz von Geräten im mittleren Bewegungsbereich
      • ggf. erweiterte stationäre oder ambulante Reha-Maßnahmen
    • Belastung/Bewegungsausmaß
      • Vollbelastung ohne Hilfsmittel

 

Stabilität nach 16 Wochen: trainingsstabil

  • Übergang zur Trainingsstabilität in Abhängigkeit von klinischen Befunden und Röntgenbefunden
  • Erkennen von Störungen im Heilverlauf und Einleiten geeigneter Maßnahmen
  • Rehabilitative Maßnahmen im Rahmen der Trainingsstabilität und der beruflichen Wiedereingliederung sind bei erwerbstätigen Patienten notwendig.
  • 17. Woche postoperativ
    • Behandlungsziele
      • Teilhabe, Arbeitsfähigkeit
    • Maßnahmen
      • Maßnahmen der Wiedereingliederung
      • ggf. erweiterte Reha-Maßnahmen
  • 6. Monat postoperativ
    • Behandlungsziel
      • Sportfähigkeit
    • Maßnahmen
      • sportartspezfisches Training

Weitere Therapien

  • Postoperative Ossifikationsprophylaxe durch NSAR für mehrere Wochen3

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Abhängig von etwaigen weiteren Verletzungen

Komplikationen

  • Akute Komplikationen
    • Schädigungen des Nervus ischiadicus, des Nervus femoralis oder des Nervus gluteus superior
    • Gefäßverletzungen (femoral, gluteal, iliakal)
  • Postoperative Komplikationen
  • Spätkomplikationen
    • Femurkopfnekrose (bis zu 6,6 %)10
    • heterotope Ossifikationen
    • Pseudarthrose
    • Chondrolyse (1 %)10
    • bis zu 30 % mit posttraumatischer Coxarthrose3

Prognose

  • Je besser die anatomische Reposition der Fraktur, desto besser die Prognose11
  • Generell jedoch hohes Arthroserisiko

Illustrationen

Ileum mit Azetabulum
Ileum mit Azetabulum
Hüftkopf
Hüftkopf

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sektion Rehabilitation und Physikalische Therapie. Nachbehandlungsempfehlungen für die Rehabilitation von Traumapatienten. Berlin 2015. www.dgou.de

Literatur

  1. Naumburger H, Müller-Mai CM, Wich M. Becken in: Müller-Mai CM, Ekkernkamp A. Frakturen: Klassifikationen und Behandlungsoptionen. Berlin-Heidelberg: Springer. 2011.
  2. Porter SE, Schroeder AC, Dzugan SS, et al. Acetabular fracture patterns and their associated injuries. J Orthop Trauma 2008; 22(3): 165-70. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Thacker MM. Acetabulum fractures. Medscape, last updated Nov 28, 2018. emedicine.medscape.com
  4. Kellam JF, Meinberg EG, Agel J, et al. Acetabulum. Journal of Orthopaedic Trauma 2018; 32: 77-82. journals.lww.com
  5. Mears DC, Velyvis JH. Acute total hip arthroplasty for selected displaced acetabular fractures: two to twelve-year results.. J Bone Joint Surg Am 2002; 84: 1-9. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Li BF, Zhang Y, Tai GL, et al. Application of 3D digital orthopedic techniques in treatment of acetabular fracture. Nan Fang Yi Ke Da Xue Xue Bao 2016; 36(7): 1014-17. www.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Olson SA, Bay BK, Chapman MW, et al. Biomechanical consequences of fracture and repair of the posterior wall of the acetabulum. J Bone Joint Surg Am 1995; 77(8): 1184-92. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Ganorkar S, Thacker M, Thacker CJ. Implant selection and placement in acetabular fractures. Indian J Orthop 2002; 36: 20-21. www.ijoonline.com
  9. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sektion Rehabilitation und Physikalische Therapie. Nachbehandlungsempfehlungen für die Rehabilitation von Traumapatienten. Berlin 2015. www.dgou.de
  10. Letournel E, Judet R. Fractures of the Acetabulum. New York: Springer, 1993.
  11. Matta JM. Fractures of the acetabulum: accuracy of reduction and clinical results in patients managed operatively within three weeks after the injury. J Bone Joint Surg Am 1996; 78(11): 1632-45. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autoren

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Orthopädie und Unfallchirurgie, Münster
  • Jes Bruun Lauritzen, professor, overlæge, dr. med., Ortopædkirurgisk afdeling, Bispebjerg Hospital, Københavns Universitet
  • Arild Aamodt, overlege/professor, Ortopedisk avdeling, Lovisenberg Sykehus, Oslo

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