Hüftluxation, traumatische

Zusammenfassung

  • Definition:Unfallbedingte Entfernung des Femurkopfs und Azetabulums voneinander.
  • Häufigkeit:Seltene Verletzung bei schweren Verkehrs- oder Sportunfällen.
  • Symptome:Starke Schmerzen im Bereich der Hüfte und des Oberschenkels. Unfähigkeit auf dem betroffenen Bein zu stehen. Bewegungseinschränkung im Hüftgelenk.
  • Untersuchung:Die klinischen Befunde sind von Art der Luxation (vordere oder hintere) abhängig; ggf. Rotation und Verkürzung der Extremität. In 20 % der Fälle Läsion des N. ischiadicus mit neurologischen Defiziten.
  • Diagnostik:Röntgen vor Reposition. In der Regel im Verlauf Schnittbildgebung, um die Begleitverletzungen zu beurteilen.
  • Therapie:Frühestmögliche geschlossene Reposition (Ausnahme: offene Reposition bei begleitender Oberschenkelhalsfraktur).

Allgemeine Informationen

Definition

  • Dieser Artikel behandelt die Hüftluxation, bei der es unfallbedingt zur Entfernung des Femurkopfs und Azetabulums voneinander kommt.1
  • Für dysplastisch bedingte Hüftluxationen siehe den Artikel Hüftgelenksdysplasie.

Einteilung1

  • Hintere Luxation (Luxation nach dorsal): 80–90 % der Fälle
    • Luxatio iliaca: Luxation nach kranial
    • Luxatio ischiadica: Luxation nach kaudal
  • Vordere Luxation (Luxation nach ventral): selten
    • Luxatio pubica: Luxation nach kranial
    • Luxatio obturatoria: Luxation nach kaudal

Häufigkeit

  • Seltene Verletzung, die in der Regel nur bei starker Krafteinwirkung auftritt.
    • typischerweise Verkehrsunfall
  • Als Sportunfall sehr selten, gehäuft beim Football
    • In der amerikanischen Football-Profiliga NFL gab es in 18 Jahren 16 dokumentierte Fälle.2
  • Kinder und Jugendliche
    • nur 5 % aller Hüftluxationen betreffen Personen < 14 Jahre.3
    • Der Altersgipfel liegt bei 4–8 Jahren sowie 11–15 Jahren.4
      • Im Alter bis 8 Jahre sind mehr Mädchen betroffen.
      • Bei Jugendlichen sind mehr Jungen betroffen.

Funktionelle Anatomie

  • Femurkopf und Azetabulum bilden das kugelige Hüftgelenk.
  • Durch ein relativ tiefes Azetabulum, eine straffe Gelenkkapsel und gute Band- und Muskelführung ist es deutlich stabiler als beispielsweise das Schultergelenk.1
  • Gefährdete Strukturen bei Luxation
    • anatomisch benachbarte Nerven3
      • inferioposterior des Gelenks der N. ischiadicus
      • ventral N. femoralis
    • Blutgefäße
      • Bei Kindern und Jugendlichen erfolgt die Blutversorgung des Hüftkopfs über die Arteria capitis femoris, die intraartikulär im Ligamentum capitis femoris verläuft und bei einer Luxation zerreißen kann.
      • Bei Erwachsenen erfolgt die Versorgung des Hüftkopfs und -halses über einen Arterienkranz (Arteria circumflexa femoris medialis).3

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie1

  • Die traumatische Hüftgelenkluxation erfordert aufgrund der stabilen Gelenkanatomie eine massive Gewalteinwirkung.
    • Über 70 % der Fälle entstehen durch Unfälle mit motorisierten Fahrzeugen. 3
    • Tritt oft im Rahmen eines Polytraumas auf.
  • Bei Z. n. prothetischem Ersatz des Hüftgelenks kann es zur Luxation kommen, wenn die Patient*innen den maximalen Bewegungsumfang der Prothese überschreiten.

Pathogenese

  • Bei der Luxation kommt es zwangsläufig zur Zerreißung der Gelenkkapsel und
    von ligamentären Strukturen.1
    • Nahezu alle Patient*innen erleiden Knorpeldefekte und Labrumläsionen.2
    • Insbesondere ältere Patient*innen haben oft knöcherne Begleitverletzungen, z. B. Azetabulum- oder Femurkopfrakturen.1
    • Bei hinteren Luxationen ist der N. ischiadicus gefährdet, und es kann zu sensiblen und motorischen Ausfällen der unteren Extremität kommen.1
  • Hintere Luxation: Unfallmechanismus2
    • nach dorsal gerichtete Krafteinwirkung bei adduzierter und flektierter Hüfte
    • klassisch: „Dashboard Injury“
      • bei Autounfall Anpralltrauma des Kniegelenks an Armaturenbrett
    • im Sport: Zusammenprall mit Gegner*in, Aufprall auf Untergrund
  • Vordere Luxation: Unfallmechanismus1
    • forcierte Abduktion im Hüftgelenk mit Außenrotation des Oberschenkels
    • Auftreten bei Motorradunfällen oder anderen Sturzereignissen

Prädisponierende Faktoren

  • Verkehrsunfälle
  • Kontaktsportarten, vor allem Football2
  • Z. n. Prothesenersatz des Hüftgelenks1

ICPC-2

  • L80 Luxation/Subluxation Gelenk

ICD-10

  • S73.0 Luxation der Hüfte

Diagnose

Diagnostische Kriterien

  • Klinischer Verdacht
  • Bestätigung durch Röntgen und/oder CT

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Symptomatik3
    • Schmerzen im Hüft- und/oder Oberschenkelbereich nach hochenergetischem Trauma
    • Unfähigkeit zu gehen, Bewegungseinschränkung des Hüftgelenks.
    • teilweise Parästhesien bei Nervenirritationen
  • Unfallmechanismus
    • Richtung der einwirkenden Kraft
    • Stellung des Hüftgelenks bei Trauma
  • Vorherige Erkrankungen des Hüftgelenks
    • Hüftdysplasie
    • Z. n. Hüftprothese
  • Medikamente

Klinische Untersuchung

  • Inspektion3
    • vordere Luxation
      • Luxatio pubica: Hüftgelenk überstreckt und außenrotiert
      • Luxatio obturatoria: Hüftgelenk flektiert, abduziert und außenrotiert
    • hintere Luxation: Bein verkürzt, adduziert und innenrotiert
  • Palpation
    • ggf. Asymmetrie des Hüftgelenks, z. B. durch Palpation des Trochanter major, im Seitenvergleich detektierbar
  • Funktionsprüfung
    • Überprüfung pDMS (neurovaskulärer Status)
    • Bewegungsausmaß vom Hüftgelenk
      • deutlich eingeschränkt
      • Oft ist schmerzbedingt keine Untersuchung des Hüftgelenks möglich.
    • Untersuchung des Kniegelenks, da bei großer Gewalteinwirkung oft benachbarte Gelenke mitbetroffen sind.3

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Keine

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Labor3
    • In der Akutsituation sind Hämoglobin/Hämatokrit relevant, da bei Hüftverletzungen starke Blutverluste eintreten können.
  • Röntgen
    • vor Repositionsversuch Röntgen des Hüftgelenks in mind. 2 Ebenen1
    • Begleitverletzungen sowie Art der Luxation (vordere/hintere Luxation) erkennen.
  • CT3
    • Indikationen
      • frustrane Reposition: Anhalt für freie Gelenkkörper oder Weichteile, die eine Reposition verhindern.
      • Vergrößerter Gelenkspalt nach Reposition: Weichteilverletzungen oder im Röntgen nicht sichtbare freie Gelenkkörper, die eine normale Artikulation behindern.
  • MRT
    • Im Verlauf bei Patient*innen mit hohem Funktionsanspruch an die Hüfte (z. B. Sportler*innen), um Verletzungen am Labrum und den Ligamenten darzustellen.

Indikationen zur Einweisung

  • Bei Verdacht auf die Verletzung sofortige Einweisung ins Krankenhaus

Therapie

Therapieziele

  • Frühzeitige Reposition, um das Risiko schwerer Folgeschäden zu reduzieren.
  • Die volle Funktionalität des Hüftgelenks wiedererlangen.
  • Rückkehr zu sportlichen Aktivitäten

Allgemeines zur Therapie

  • Reposition so schnell wie möglich, spätestens innerhalb von 6 Stunden3
    • später deutlicher Anstieg von Komplikationen, z. B. Femurkopfnekrose
  • Abhängig von den Begleitverletzungen weitere Therapien

Medikamentöse Therapie

  • In der Akutphase sind meist starke Analgetika nötig.
    • Im stationären Rahmen sind morphinhaltige Präparate i. v. empfohlen.3

Reposition

  • Nach Röntgendiagnostik und Überprüfung der pDMS schnellstmöglich geschlossener Repositionsversuch unter Analgosedierung1
    • Ausnahme: bei begleitender Oberschenkelhalsfraktur primär offenes Vorgehen
  • Im Anschluss an die Reposition, neben Beweglichkeits- und Stabilitätsprüfung in Narkose, radiologische Erfolgskontrolle1

Repositionsmanöver (Beispiele)

  • Hintere Luxation: Böhler-Reposition („Captain Morgan Technique“)1
    • Die Reposition erfolgt mit zwei Behandler*innen.
    • Patient*in in Rückenlage
    • Hüfte und Knie von Patient*in in 90-Grad-Beugung
    • Die Behandler*in platziert den Fuß so auf die Untersuchungsliege, dass das Knie unter dem gebeugten Patientenknie positioniert ist.
    • Die Helfer*in hebt durch Plantarflexion im Sprunggelenk den Unterschenkel an, wodurch ein ventraler Zug am Patientenoberschenkel entsteht.
    • Die Behandler*in übt zusätzlich Zug am Oberschenkel aus sowie leichte Rotationsbewegungen, sodass der Hüftkopf – oft mit hörbarem Schnappen – zurück in die Gelenkpfanne rutschen kann.
  • Vordere Luxation
    • durch Beugung der Hüfte und Korrektur von Abduktion und Außenrotation Umwandlung in hintere Luxation
    • anschließend o. g. Böhler-Reposition

Weitere Behandlung

  •  Nach Reposition stationäre Aufnahme1
    • bedarfsgerechte Analgesie
    • Mobilisation unter physiotherapeutischer Anleitung
    • ggf. Lagerungsschiene oder Orthese als Re-Luxations-Prophylaxe

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Mit zunehmender Zeit wird die Reposition durch Muskelspasmen schwieriger und das Risiko für u. g. Komplikationen steigt.

Komplikationen

  • Frustrane geschlossene Reposition1
    • In diesem Fall ist ein offen-chirurgisches Vorgehen notwendig.
  • Schädigung N. ischiadicus in etwa 20 % der Fälle3
  • Gefäßverletzungen, ggf. mit resultierender Femurkopfnekrose4
  • Posttraumatische Koxarthrose2
  • Re-Luxation
  • Frakturen, u. a. Azetabulum, Femurkopf, Femurhals
  • Myositis ossificans

Prognose

  • Je schneller die Reposition, je jünger die Patient*innen und je weniger Begleitverletzungen, desto besser ist die Prognose.1,4
    • insgesamt eine sehr komplikationsträchtige Verletzung, sowohl akut als auch im späteren Verlauf
  • Sportler*innen benötigen im Durchschnitt 137 Tage (Cave: hohe Varianz!) bis zur Rückkehr zur sportlichen Aktivität.2

Verlaufskontrolle

  • Wegen der hohen Gefahr von Komplikationen im späteren Verlauf (u. a. Koxarthrose, Hüftkopfnekrose) sind regelmäßige Verlaufskontrollen bei Orthopäd*innen sinnvoll.

Illustrationen

Hüftluxation
Hüftluxation

Quellen

Literatur

  1. Klein R, Laue F, Matthes G, et al. Notfallbehandlung von Luxationen großer Gelenke. Notfall Rettungsmed 2020; 23: 557-71. link.springer.com
  2. Ackermann J, Saxena V, Whalen J, et al. Epidemiology of Traumatic Posterior Hip Instability in the National Football League. Orthop J Sports Med 2022. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Gammons M. Hip dislocation. Medscape, last updated Feb 23, 2023. emedicine.medscape.com
  4. Braun ME, Loose O, Schmittenbecher P, et al. Epidemiology and injury morphology of traumatic hip dislocations in children and adolescents in Germany: a multi-centre study. European Journal of Trauma and Emergency Surgery 2023; 49: 1897-1907. link.springer.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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