Blasenekstrophie

Zusammenfassung

  • Definition: Embryonale Fehlbildung, bei der die Blasenanlage nicht zu einem Hohlorgan geschlossen ist, sondern in Form einer Blasenplatte aus einem Spalt in der Bauchdecke herausragt.
  • Häufigkeit: Ca. 2,1–4,0/100.000 Lebendgeborenen. Verhältnis Jungen/Mädchen: 2,4/1
  • Befunde: Dilatation der Uretheren, verkürzte, nur als Rinne vorhandene Urethra, Rektusdiastase, kleine Umbilikalhernien, offene Symphyse, auseinanderklaffende Schambeine, meist beidseitige Leistenhernien, charakteristische genitale Fehlbildungen.
  • Therapie: Chirurgische Rekonstruktion der ableitenden Harnwege und des Genitals. Ggf. Osteotomie zur Anpassung der Beckenanatomie. Meist sind zur Erhaltung von Kontinenz- und Sexualfunktion weitere Operationen notwendig. Die Behandlung sollte multidisziplinär an einem spezialisierten Zentrum erfolgen.

Allgemeine Informationen

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4

Definition

  • Als Blasenekstrophie bezeichnet man einen komplexen kongenitalen Defekt der Abdominalwand, vermutlich aufgrund einer mesodermalen Fehlbildung.
  • Zweitschwerste Form des Ekstrophie-Epispadie-Komplexes (EEC), der wiederum die schwerste Form abdominaler Mittellinien-Malformationen darstellt. 

Anatomische Merkmale der klassischen Blasenekstrophie

  • Die Harnblase hat sich im Laufe der frühen Embryonalentwicklung nicht zu einem Hohlorgan geschlossen.
  • Die Blasenanlage ist durch die Bauchwand herausgetreten und liegt als sog. Blasenplatte frei.
    • Die Blasenplatte ist individuell unterschiedlich groß.
    • Die Blasenmukosa liegt offen, evtl. sind Schleimhautpolypen sichtbar.
  • Dilatation der Uretheren
    • Urin tritt aus den Orifizien an die Oberfläche der Blasenplatte.
  • Verkürzte, nur als Rinne vorhandene Urethra
  • Rektusdiastase, kleine Umbilikalhernien
  • Offene Symphyse, auseinanderklaffende Schambeine
  • Meist beidseitige Leistenhernien
  • Epispadie
    • bei Jungen
      • Eine offene, epispadische Urethralplatte bedeckt den gesamten Penisrücken und hängt mit der Blasenplatte zusammen.
      • Die Schwellkörper liegen darunter.
      • Am proximalen Ende der Urethralplatte sind Colliculus seminalis und Ductus ejaculatorii zu erkennen.
      • Der Penis erscheint kleiner als normal.
      • dorsale Penisdeviation
    • bei Mädchen
      • komplett gespaltene Klitoris in Angrenzung an die Urethralplatte
      • Die Vaginalöffnung erscheint eng und auf dem Perineum nach vorne verschoben.
      • Auch der Anus ist ventral positioniert, das Perineum entsprechend verkürzt.

Pseudo-Ekstrophie (gedeckte Ekstrophie)

  • Die Blase ist vollständig oder teilweise als Hohlorgan vorhanden sowie teilweise oder vollständig von Haut bedeckt.
  • Der Bauchnabel ist häufig normal positioniert.
  • Komplett gedeckte Ekstrophien werden oft bei der Geburt übersehen und erst viel später entdeckt.
    • Die Genitalien können völlig normal aussehen.
    • Harnwegsbeschwerden sind oft nicht vorhanden.
    • Auch die Kontinenz entwickelt sich evtl. normal.
    • Oft werden Rektus- und Symphysendiastase nur als Zufallsbefunde entdeckt.

Kloakale Ekstrophie

  • Schwerste Form des EEC (s. o.)
  • Anatomische Leitcharakteristika
    • Omphalozele
    • Blasenekstrophie
      • Mit Spaltung der Harnblase in 2 Hemiblasen, die das prolabierte terminale Ileum und das blind endende Kolon flankieren.
    • Analatresie

Häufigkeit

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Inzidenz in internationalen Studien: 2,1–4,0/100.000 Lebendgeburten
  • Verhältnis Jungen/Mädchen: 2,4/1

Ätiologie

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Vermutlich beruhen EEC auf einer gestörten Bildung der dorsalen Kloakalmebran in der frühen Embyonalentwicklung.
    • Dem scheinen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren zugrunde zu liegen, die bislang jedoch nicht im Einzelnen identifiziert werden konnten.
  • Bei Geschwistern von EEC-Betroffenen beträgt das Risiko, ebenfalls zu erkranken 0,3–2,3 %.
  • Die Konkordanzrate ist bei eineiigen Zwillingen 5,6-mal höher als bei zweieiigen.
  • EEC war in Einzelfallberichten mit verschiedenen klinisch relevanten Aberrationen von Auto- oder Gonosomen assoziiert, ohne dass man daraus eine Kausalität ableiten könnte.
  • Hinweise darauf, dass bestimmte Gensignaturen eine Rolle spielen, gekennzeichnet durch eine Überexpression inflammatorischer Gene und Unterexpression von Entwicklungsgenen – u. a. für die Bildung glatter Muskulatur – bedürfen der Überprüfung.

ICD-10

  • Q 64.1 Ekstrophie der Harnblase inklusive Ektopie der Harnblase, Extroversion der Harnblase

Diagnostik

Pränatal

  • Die pränatale Diagnose eines EEC ist – je nach Schwere des Defekts und Expertise der untersuchenden Person – sonografisch zwischen SSW 15 und SSW 32 möglich.
  • Indexbefund ist, wenn in wiederholten sorgfältigen Ultraschalluntersuchungen eine gefüllte Harnblase nicht vorgefunden wird.
  • Zusätzliche Kriterien sind ein tiefliegender Nabel, ein weiter Ramus pubis, fehlentwickelte Genitalien und tief liegende Abdominalorgane.
  • Sorgfältige Aufklärung der betroffenen Mutter/Eltern über Behandlungsmöglichkeiten, Verlauf und Prognose der Erkrankung

Therapie

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4
  • Die Behandlung sollte von Anfang an durch ein multidisziplinäres Team an einem spezialisierten Zentrum erfolgen.
    • Die erforderlichen operativen Eingriffe sind sehr anspruchsvoll.
      • Für die Lebensqualität des Patienten ist ein gutes Ergebnis – sowohl in funktioneller als auch ästhetischer Hinsicht – entscheidend.
    • Kompetente und altersentsprechende Beratung zu den Themen Geschlechtsidentität, Sexualität und Reproduktion sowie langjährige persönliche Begleitung der Betroffenen sind essenzielle Bestandteile der Behandlung.
  • Wie früh der erste operative Eingriff erfolgen sollte, hängt von der konkreten Situation ab. Ein EEC per se ist kein Notfall.
    • In der Regel liegt keine ausgeprägte Harnabflussstörung vor, die eine unverzügliche Operation zur Prävention einer Hydronephrose rechtfertigen würde.
    • Ob durch die frühzeitige Entfernung der häufig vorhandenen Blasenpolypen das Risiko für ein Blasenkarzinom gesenkt werden kann, ist kontrovers. 
    • Besonders bei nicht eindeutig zuzuordnendem Geschlecht ist eine sorgfältige Abwägung des operativen Vorgehens notwendig.
    • Der Aufschub einer ersten Operation erscheint in vielen Fällen zur Vermeidung einer psychischen Traumatierung der Betroffenen als sinnvoll, z. B. um die Behandlung des Kindes in Begleitung seiner Eltern an einem spezialisierten Zentrum zu ermöglichen.

Therapieziele

  1. Erhalt der Nierenfunktion durch Beseitigung von Harnabflussstörungen
  2. Harnkontinenz entsprechend dem Entwicklungsstand des Kindes
  3. Erhalt der Sexual- und Fertilitätsfunktionen

Chirurgische Rekonstruktion

  • Funktionelle Rekonstruktion der Blase oder Entfernung der Blasenanlage und Umleitung über einen sigmoidalen Pouch.
    • Die Wahl der operativen Vorgehensweise sollte von einem erfahrenen Team getroffen werden.
    • Meist ist ein mehrzeitiges Vorgehen erforderlich.
  • Genitalrekonstruktion
    • Näheres zur Aufklärung und partizipativen Entscheidungsfindung bei nicht eindeutig zuzuordnendem Geschlecht siehe Artikel Intersexualität.
  • Ggf. Osteotomie zur Anpassung der Beckenanatomie 

Quellen

Selbsthilfegruppe

Literatur

  1. Ebert AK, Reutter H, Ludwig M, Rösch WH. The exstrophy-epispadias complex. Orphanet J Rare Dis 2009;4:23. PMID: 19878548 PubMed
  2. Selbsthilfegruppe Ekstrophie. Versorgung der EEK. Freital 2015 www.blasenekstrophie.de
  3. Orphanet. Blasenekstrophie-Epispadie-Komplex. Paris, Orphanet. Zugriff: 24.8.2015 www.orpha.net
  4. Rösch WH, Ebert A, Schott G. Der Blasenekstrophie-Epispadie-Komplex. Neue Ziele – neue Wege? Urologe 2006; 45(Suppl 4): 219-24. doi.org

Autoren

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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