Dranginkontinenz bei Frauen

Zusammenfassung

  • Definition:Dranginkontinenz beschreibt unwillkürlichen Urinverlust mit imperativem Harndrang und kann im Rahmen des Syndroms der überaktiven Blase (ÜAB) auftreten. Eine Mischform mit zusätzlicher Belastungsharninkontinenz ist möglich.
  • Häufigkeit:Prävalenz der Harninkontinenz von 3−55 %. Die Dranginkontinenz ist die häufigste Form der Harninkontinenz.
  • Symptome:Unwillkürlicher Harnverlust und imperativer Harndrang.
  • Befunde:Die klinische Untersuchung ist meist unauffällig, kann aber ggf. Hinweise auf eine Begleit- oder Grunderkrankung liefern.
  • Diagnostik:Miktionstagebuch, Urinanalyse und Sonografie der oberen und unteren Harnwege. Zusatzuntersuchungen sind in den meisten Fällen nicht erforderlich.
  • Therapie:Initial nichtmedikamentöse Verhaltens- und Physiotherapie, bei fehlender Besserung Pharmakotherapie. In seltenen Fällen ist eine interventionelle Therapie notwendig.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Harninkontinenz bezeichnet jeglichen unfreiwilligen Urinverlust.1-2
  • Dranginkontinenz (früher Urgeinkontinenz oder Urgencyinkontinenz)1,3
    • häufigste Form der weiblichen Harninkontinenz charakterisiert durch unwillkürlichen Urinverlust mit imperativem Harndrang
  • Mischharninkontinenz1

Häufigkeit

  • Harninkontinenz gehört zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Hausarztpraxis.1
  • Prävalenz der Harninkontinenz bei Frauen in Metaanalysen von 3–55 %1,4
    • Prävalenz von 48,3 % bei Frauen in einer deutsch-dänischen Studie von 20175
  • In einer statistischen Befragung in Deutschland gaben 15 % Inkontinenzbeschwerden an.1
    • Zunahme mit höherem Lebensalter (27,1 % bei Frauen über 60 Jahre)1,6
  • Dranginkontinenz ist die häufigste Form der Harninkontinenz.6-7

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie3,6,8-10

  • Übermäßige Aktivität des M. detrusor vesicae (Detrusorüberaktivität) und Blasenwandhypersensitivität unterschiedlicher Ursache
    • Abzugrenzen ist eine neurogene Blasenfunktionsstörung mit Detrusorhyperaktivität (Reflexinkontinenz), z. B. bei Rückenmarksverletzung9
  • Idiopathisch bzw. unbekannt
  • Metabolische und hormonelle Veränderungen
  • Obstruktive Veränderungen, z. B. Tumor, Steine
  • Altersbedingte Veränderungen
  • Psychische Belastungsfaktoren

Syndrom der überaktiven Blase3,9

Komorbiditäten1

Prädisponierende Faktoren

ICPC-2

  • U04 Harninkontinenz

ICD-10

  • N39 Sonstige Krankheiten des Harnsystems
    • N39.4 Sonstige näher bezeichnete Harninkontinenz
    • N39.42 Dranginkontinenz

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Leitlinie: Diagnostische Kriterien bei Harninkontinenz1

  • Dranginkontinenz
    • unfreiwilliger Urinabgang mit imperativem Harndrang
  • Kaum evidenzbasierte Informationen hinsichtlich der erforderlichen Diagnostik bei Harninkontinenz
  • Empfohlene Basisdiagnostik
    • Anamnese
    • klinische Untersuchung
    • Fragebögen und Miktionstagebuch
    • Vorlagenwiegetest (Pad-Test)
    • Urinanalyse
    • Sonografie inkl. Restharnmessung
    • Urethrozystoskopie (bei therapierefraktärer Dranginkontinenz)
    • Urodynamik (bei Zweifel am Inkontinenz-Typ oder bei komplizierter Inkontinenz)

Differenzialdiagnosen

Anamnese

Leitlinie: Anamnese1

  • Ziel: Kategorisierung in Belastungs-, Drang- oder Mischharninkontinenz
  • Anamnese hinsichtlich ungewolltem Urinverlust
    • Art (z. B. imperativer Harndrang, unbemerkt)
    • Auslöser
    • Zeitpunkt
    • Ausmaß
    • Häufigkeit
  • Weitere Symptome des Syndroms der überaktiven Blase (ÜAB)
    • übergeordneter Symptomkomplex aus imperativem Harndrang, Pollakisurie, Nykturie und Dranginkontinenz
  • Weitere Miktions- oder Defäkationsprobleme (z. B. DysurieHämaturie, Obstipation)
  • Geburtshilfliche Anamnese (Zahl, Art und Komplikationen von Geburten)
  • Gynäkologische Anamnese (Voroperationen, Bestrahlung, Deszensus)
  • Relevante Begleiterkrankungen
  • Medikamentenanamnese
  • Vorangegangene Therapien
  • Grad der Beeinträchtigung und Beeinflussung der Lebensqualität
  • Therapieziele

Fragebögen und Miktionstagebuch

  • Einsatz standardisierter Fragebögen
    • Validierte und adäquate Fragebögen sollen benutzt werden, wenn eine standardisierte Erfassung erwünscht ist (IV/A).
    • z. B. ICIQ-SF, International Consultation on Incontinence Questionnaire16-17
    • Deutsche Version (Kontinenz-Fragebogen) auch enthalten im Miktionstagebuch der Deutschen Kontinenz-Gesellschaft.
  • Einsatz eines Blasentagebuch (Miktionstagebuch)
    • Soll geführt werden, wenn eine standardisierte Abklärung erforderlich ist (IV/A).
    • Sollte über mindestens 3 Tage geführt werden (IV/B).
    • Siehe Miktionstagebuch (Deutsche Kontinenz Gesellschaft).

Klinische Untersuchung

Leitlinie: Klinische Untersuchung1-2

  • Allgemeine körperliche Untersuchung
    • abdominelle Resistenzen
  • Bei geriatrischen Patientinnen
    • Mitbeurteilung der kognitiven und körperlichen Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Umsetzbarkeit physiotherapeutischer bzw. verhaltenstherapeutischer Maßnahmen
  • Neurologische Untersuchung
    • Sensibilitätsstörungen in den Dermatomen S2–S5 („Reithosengebiet“) als möglicher Hinweis auf eine neurogene Läsion
    • ggf. differenzierte neurologische Untersuchung durch Spezialist*innen
  • Inspektion des äußeren Genitales
    • Atrophiezeichen, Hautirritation,-infektion, Prolaps, Fistelöffnungen
  • Rektale Untersuchung
    • Beurteilung des analen Sphinktertonus sowie Kontraktions- und Relaxationsfähigkeit
    • perineale Hautverhältnisse (Hautirritationen)
    • Palpation der Rektumampulle

Weiterführende Tests

  • Vorlagen-Wiegetest (Pad-Test)
    • Objektivierung und Quantifizierung des Urinverlustes durch Nutzung von abgewogenen Vorlagen über einen bestimmten Zeitraum (z. B. 1 Tag oder 1 Nacht)
    • Kann zur Diagnosestellung und Beurteilung des Therapieerfolges eingesetzt werden.
    • Wenn eine Quantifizierung der Harninkontinenz notwendig ist, sollte ein
      Vorlagen-Wiegetest genutzt werden (IV/B).
    • Es soll ein Pad-Test mit standardisierter Dauer und Übungsprotokoll genutzt werden (IV/A).1
  • Stresstest
    • Provokation durch Husten oder Niesen im Liegen oder Stehen bzw. körperlicher Bewegung (z. B. Kniebeugen) bei gefüllter Blase
    • Ein beobachteter ungewollter Urinabgang ist ein Hinweis für eine Belastungsinkontinenz.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Leitlinie: Urinuntersuchung1

  • Urinanalyse soll als initiale Untersuchung bei Patientinnen mit Harninkontinenz durchgeführt werden (IV/A).
  • Streifentest; ggf. Urinmikroskopie und Urinkultur
  • Ziel ist der Ausschluss
  • Bei symptomatischem Harnwegsinfekt soll eine Re-Evaluation nach Therapie des Infektes erfolgen (IV/A).
  • Keine routinemäßige Behandlung einer asymptomatischen Bakteriurie bei geriatrischen harninkontinenten Patientinnen (IV/A).

Blutuntersuchung

Diagnostik bei Spezialist*innen

Leitlinie: Weiterführende Untersuchungen1-2

  • Kaum evidenzbasierte Informationen hinsichtlich der erforderlichen Diagnostik bei Harninkontinenz
  • Weiterführende Diagnostik nach DGG-Leitlinie bei therapeutischer Konsequenz im Falle von:
    • nicht eindeutig klassifizierbarer Harninkontinenz
    • komplexer Vorgeschichte, z. B. neurogener Blasenentleerungsstörung
    • Therapieresistenz
    • Rezidivinkontinenz.

Urogynäkologische Untersuchung

  • Untersuchung in Steinschnittlage mit geteilten Spekula in Ruhe und beim Pressen
  • Veränderungen des äußeren Genitales (Östrogenstatus, Vulvaatrophie, Hautirritation, -infektion, Lichen sclerosus et atrophicans etc.)
  • Fistelöffnungen
  • Vorliegen einer genitalen Senkung (Deszensus, Prolaps)
  • Palpation der Beckenbodenmuskulatur (Kontraktilität und Relaxationsfähigkeit)
  • Abdominelle Resistenzen (bimanuelle Untersuchung)

Restharnbestimmung

  • Siehe Artikel Sonografie der Nieren und Harnwege.
  • Bestimmung der Restharnmenge (Urinmenge, die am Ende einer Miktion in der Blase verbleibt) (Anm. d. Red.: Kann ggf. in der Hausarztpraxis durchgeführt werden.)
    • Soll sonografisch erfolgen, nicht mittels Einmalkatheterismus (IV/A).
    • Soll bei Patientinnen mit Harninkontinenz und Miktionsschwierigkeiten erfolgen (IV/A).
    • Soll bei Patientinnen mit komplizierter Harninkontinenz erfolgen (IV/A).
  • Es existiert keine Standarddefinition für eine pathologische Restharnmenge.

Bildgebende Diagnostik

  • Sonografie
    • wichtigstes bildgebendes Verfahren mit hoher Aussagekraft und universeller Einsetzbarkeit
    • Sonografie des oberen und unteren Harntraktes (Anm. d. Red.: Kann ggf. in der Hausarztpraxis durchgeführt werden.) 
      • Beurteilung von Blasenwandveränderungen, intra- oder paravesikalen Raumforderungen oder Blasensteinen
      • Beurteilung der Nieren (primäre Nierenerkrankungen oder Stauungsgeschehen)
      • obligater Bestandteil der Erstabklärung einer Harninkontinenz (IV)2
      • Bei Harndrangsymptomen sollte die Blasenwand
        sonografisch beurteilt werden (IV/B).1
    • weiterführende Ultraschalldiagnostik mittels Introitussonografie, Perinealsonografie sowie Beckenbodensonografie (Pelvic-Floor-Sonografie)
    • dynamische Untersuchungen möglich (Valsalva- und Hustentest)
  • Urethrozystogramm (Ausscheidungsurogramm)
    • weiterführende Abklärung im Falle einer Harnstauung der oberen Harnwege
    • Darstellung der Blasenkonfiguration und möglicher Ursachen einer Funktionsstörung
  • Magnetresonanztomografie (MRT)
    • stetig verbesserter Bildqualität, jedoch weiter marginaler Stellenwert in der Routinediagnostik der Harninkontinenz

Urodynamik

  • Goldstandard zur Beurteilung von Symptomen des unteren Harntrakts und von Speicher- und Entleerungsstörungen der Harnblase
  • Bestandteile der urodynamischen Untersuchung
    • Uroflowmetrie
    • Zystometrie der Füllungsphase mit Erfassung der Sensibilität
    • Evaluation der Miktionsphase durch Messung von Blasendruck und Flussmessung
  • Empfehlungen zur urodynamischen Untersuchung
    • bei Unklarheiten bei der Zuordnung (IV/B)
    • nicht vor einer konservativen Therapie der unkomplizierten Belastungsinkontinenz und unbehandelten überaktiven Blase (IV/B)
    • nur bei erwartbarer therapeutischer Konsequenz (IV/A)
    • präoperativ bei komplizierter Belastungsinkontinenz (IV/A)1

Urethrozystoskopie (Blasenspiegelung)

  • Optionale Untersuchung bei der Abklärung der Harninkontinenz der Frau zur Abklärung morphologischer Ursachen (z. B. Harnblasentumoren oder Steine, Meatusstenose)
  • Empfehlungen zur Urethrozystoskopie
    • bei komplizierter Belastungsinkontinenz (IV/A)
    • bei therapierefraktärer Dranginkontinenz (IV/A)1

Indikationen zur Überweisung

Leitlinie: Indikationen zur Überweisung1

  • Überweisung an Spezialist*innen von Patientinnen mit:
    • begleitenden Blasen- oder Beckenschmerzen
    • rezidivierenden Harnwegsinfekten
    • Hämaturie
    • Z. n. Beckenoperationen (inkl. Inkontinenzoperationen)
    • Z. n. Bestrahlung im Beckenbereich
    • begleitender Senkung (Deszensus, Prolaps)
    • kontinuierlichem Urinverlust bei V. a. urogenitale Fistelbildung
    • erschwerter Miktion
    • Restharnbildung
    • vermuteter zugrunde liegender neurologischer Grunderkrankung.

Therapieziele

  • Symptome lindern.
  • Psychosoziale Beeinträchtigung verringern.
  • Lebensqualität verbessern.

Allgemeines zur Therapie

  • Die Therapie richtet sich nach der Schwere der Symptome und den Beeinträchtigungen der Patientinnen.1-3,18-19
    • Als primäre Behandlung ist eine konservative Therapie mit Physio- und Verhaltenstherapie empfohlen.
  • Stufentherapie1,3
    • 1. Stufe: Lebensstilmodifikation, Verhaltens- und Physiotherapie
    • 2. Stufe: zusätzlich medikamentöse Therapie
      • Antimuskarinika
      • Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten
      • lokale Östrogenisierung
    • 3. Stufe: zusätzlich interventionelle Therapie
      • Botulinumtoxin-Injektion
      • elektrische Neuromodulation
  • Behandlung von Grund- und Begleiterkrankungen1
    • Kann den Schweregrad der Harnsymptome reduzieren.

Nichtmedikamentöse Therapie

Lebensstilmodifikation1,18

  • Anpassung der Trinkmenge
    • z. T. Trinkmengenrestriktion durch Patientinnen zur Symptomkontrolle
    • individuelle Empfehlung zur Flüssigkeitszufuhr (nach Protokoll) bei Frauen mit hoher oder niedriger Trinkmenge
    • Reduktion der Flüssigkeitsaufnahme wirksam in einer Studie bei Patientinnen mit Symptomen der überaktiven Blase (ÜAB)1
  • Reduktion des Koffeinkonsums
    • viele Getränke enthalten Koffein (v. a. Tee, Kaffee und Cola)
    • keine Wirksamkeit auf Harninkontinenz in kontrollierten Studien, Reduktion des imperativen Harndrangs in einer Studie
    • Die NICE-Leitlinie empfiehlt einen Therapieversuch mit Reduktion.18
  • Gewichtsreduktion bei Adipositas (BMI > 30 kg/m2)
    • wirksam hinsichtlich des imperativen Harndrangs und der Miktionshäufigkeit, nicht bei Belastungsinkontinenz
  • Körperliche Aktivität

Anpassung der Medikation1

  • Harninkontinenz wird als häufige unerwünschte Wirkung vieler Medikamente aufgeführt, die Angaben beruhen jedoch auf individuellen Patientenberichten und der Überwachung nach der Zulassung.
  • Keine studienbasierte Evidenz für eine Wirksamkeit der Medikationsumstellung auf Symptome der Harninkontinenz, daher sorgfältige Nutzen-/Risiko-Abwägung

Verhaltens- und Physiotherapie1,4,18

  • Verschiedene Therapieansätze, die kombiniert werden können:
    • Blasentraining (BT) 
    • Beckenbodentraining (BBT)
    • Blasendrill (Bladder Drill)
    • Blasendisziplin (Bladder Discipline)
    • Blasenumerziehung (Bladder Re-education)
    • Aufforderung zur Entleerung (Prompted Voiding)
    • Verhaltensmodifikation
  • Blasentraining (BT)
    • Teil der Patientenschulung mit Planung eines Entleerungsschemas mit allmählicher Anpassung der Intervalle
    • Ziele sind fehlerhafte Gewohnheitsmuster korrigieren, Kontrolle über Dranginkontinenz erlangen, Entleerungsintervalle verlängern, Blasenkapazität vergrößern, Inkontinenzvorfälle reduzieren und Vertrauen stärken.
    • empfohlene erste Therapie bei Patientinnen mit Dranginkontinenz oder Mischinkontinenz (IV/B)1
  • Beckenbodentraining (BBT)
    • Verbesserung der Funktion des Beckenbodens und Stabilität der Harnröhre sowie Reduktion der Detrusoraktivität bei überaktiver Blase (ÜAB)
    • Wirksamkeit hinsichtlich Linderung von Harninkontinenz und Verbesserung der Lebensqualität für Frauen mit Belastungs-, Drang- und Mischinkontinenz, u. a. entsprechend einer Cochrane Analyse20
    • Das Training kann um Biofeedback, oberflächliche Elektrostimulation (ES) oder Vaginalkegel erweitert werden.
    • empfohlene Therapie bei Patientinnen mit Belastungsinkontinenz und
      Mischharninkontinenz
  • Aufforderung zur Entleerung (Prompted Voiding)
    • Aufforderung der Patientin zur Blasenentleerung in festgelegten Intervallen, auch durch Pfleger*in in einer betreuten Pflegesituation
    • empfohlene Therapie bei Patientinnen mit Harninkontinenz und kognitiven Beeinträchtigungen (IV/A)1

Hilfsmittel1-2,18

  • Indikationen für Hilfsmittelversorgung
    • passagere Anwendung begleitend zu anderen Therapieoptionen
    • als alleinige Therapie nur bei erfolgloser bzw. unmöglicher Therapie oder auf Wunsch (z. B. nach Nutzen-Risiko-Abwägung von Interventionen)
      • ausführliche Aufklärung über mögliche Behandlungsalternativen vor alleiniger Hilfsmittelversorgung
  • Körpernahe Hilfsmittel
    • aufsaugende (z. B. Vorlagen, Schutzhosen)
  • Körperferne Hilfsmittel
    • Betteinlagen, Steckbecken
  • Hilfsmittel zur Umgebungsanpassung

Harnblasenlangzeitdrainage

  • Indikation
    • keine Indikation bei alleiniger Harninkontinenz ohne Blasenentleerungsstörung
    • allenfalls in ausgewählten Fällen nach Versagen oder Ablehnung aller anderen Therapieoptionen als symptomatische Behandlung (IV/C)2
  • Möglichkeiten der Dauerableitung der Harnblase
    • suprapubischer oder transurethraler Harnblasenverweilkatheter, intermittierender Selbstkatheterismus ohne signifikanten Unterschied im Cochrane Review21

Medikamentöse Therapie

Leitlinie: Medikamentöse Therapie1-2

  • Medikamentöse Therapie bei Dranginkontinenz und überaktiver Blase bei erfolgloser konservativer nichtmedikamentöser Therapie

Antimuskarinika (Anticholinergika)

  • Antimuskarinika sind die wichtigste medikamentöse Therapieoption der Dranginkontinenz und überaktiven Blase
    • inhibitorische Wirkung auf spontane, unkoordinierte Detrusorkontraktionen und auf die Blasensensorik im Miktionsreflex mit Besserung der Drangsymptomatik, Verlängerung der Miktionsintervalle, Linderung des imperativen Harndranges und Verringerung der Inkontinenzepisoden
    • Therapie soll nach gescheiterter konservativer nichtmedikamentöser Therapie bei Dranginkontinenz angeboten werden (IV/A).
    • keine Belege für überlegene Wirksamkeit einer spezifischen Substanz
    • Extended-Release(ER)-Formulierungen sollen aufgrund geringerer Nebenwirkungen vorrangig eingesetzt werden (IV/A).
  • Mögliche Nebenwirkungen
  • Kontraindikationen
  • Einsatz bei geriatrischen Patientinnen
    • Antimuskarinika sind auch im fortgeschrittenen Lebensalter einsetzbar (Ausnahme: Oxybutynin oral mit negativem Einfluss auf die Kognition).
    • Das potenzielle Nebenwirkungsprofil ist besonders bei Multimorbidität und Multimedikation schwerwiegend.
      • sorgfältige Therapieüberwachung notwendig
    • Der Einsatz von Antimuskarinika sollte eine sorgfältige Überwachung der Therapie bedingen.
    • Prüfung von Medikamenteninteraktionen bei Polypharmazie und der „anticholinergen Last“, insbesondere bei geriatrischen Patientinnen
  • Aktuell zugelassene orale Antimuskarinika (DACH-Raum)
    • Darifenacin
      • empfohlene Dosierung: 7,5–15 mg p. o. 1 x tgl.
    • Fesoterodin
      • empfohlene Dosierung: 4–8 mg p. o. 1 x tgl.
    • Oxybutynin
      • empfohlene Dosierung: 5 mg p. o. 2–3 x tgl. (ER)
      • transdermal (Pflaster) 3,9 mg 2 x pro Woche
    • Propiverin
      • empfohlene Dosierung: 30 mg p. o. 1 x tgl. (ER)
    • Solifenacin
      • empfohlene Dosierung: 5–10 mg p. o. 1 x tgl.
    • Tolterodin
      • empfohlene Dosierung: 4 mg p. o. 1 x tgl. (ER)
    • Trospium
      • empfohlene Dosierung: 60 mg p. o. 1 x tgl. (ER)

Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten

  • Wirksubstanz Mirabegron
    • Relaxation des Detrusors in der Speicherphase durch Stimulation noradrenerger Beta-3-Rezeptoren in der glatten Muskulatur der Harnblase
    • gleichwertig mit Anwendungen von Antimuskarinika in der Verbesserung der
      überaktiven Blase und Reduktion von Inkontinenzepisoden, aber ohne Beeinträchtigung der Blasenkontraktilität (Restharn)
    • Therapie sollte nach gescheiterter konservativer nichtmedikamentöser Therapie bei Unverträglichkeit, Kontraindikationen oder fehlender Wirksamkeit einer Therapie mit Antimuskarinika angeboten werden (IV/B).
  • Mögliche Nebenwirkungen

Östrogene

  • Lokale vaginale Applikation von Östradiol oder Östriol bei postmenopausalen Patientinnen
    • Verbessert die Symptome der überaktiven Blase und Dranginkontinenz nach einer Metaanalyse von 2015 und Cochrane-Analyse von 2012.
    • Soll bei postmenopausalen Frauen mit Harninkontinenz
      (insbesondere Dranginkontinenz) und vulvovaginaler Atrophie längerfristig durchgeführt werden (IV/A).
  • Eine systemische Hormonersatztherapie (HRT) kann eine Inkontinenz verursachen oder verschlechtern.

Komplementärmedizin

  • Keine ausreichende Evidenz für den Einsatz der Homöopathie, der Phytotherapie, der Supplementtherapie und weiterer komplementärmedizinischer Therapeutika

PRISCUS-Liste22

  • Die PRISCUS-Liste gibt einen Überblick über potenziell inadäquate Medikation (PIM) für ältere Patient*innen.
  • Sowohl Anticholinergika (Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin, Solifenacin, Trospium, Darifenacin, Desfesoterodin) als auch Mirabegron gehören zu den 187 als PIM klassifizierten Wirkstoffen der PRISCUS-Liste 2.0.
  • Als Alternative werden nichtpharmakologische Therapien angegeben.
  • Siehe auch Artikel Polypharmazie im Alter (Multimedikation).

Interventionelle Therapie

Leitlinie: Operative Therapie1-2

  • Therapieindikation, falls konservative und medikamentöse Therapiemaßnahmen nach adäquater Therapiedauer nicht zum gewünschten Erfolg führen.

Botulinumtoxin

  • Injektion von Onabotulinumtoxin A in die Harnblasenwand
    • wirksame, minimalinvasive operative Therapie der therapierefraktären überaktiven Blase
    • Reduktion von Inkontinenz- und Drangepisoden sowie Miktionsfrequenz
    • Sollte Patientinnen bei erfolgloser konservativer und oraler medikamentöser Therapie angeboten werden (IV/B).
  • Unerwünschte Wirkungen
    • zeitlich begrenzte Wirkung
    • Harnwegsinfekte
    • Restharnbildung (mit Notwendigkeit von (Selbst-)Katheterismus)
  • Bei geriatrischen Patientinnen schlechtere Kontinenzraten und höheres Risiko von Restharnbildung, somit als Reserveverfahren zu erwägen mit niedrigereren Dosierungen (IV/C, III/B).2

Elektrische Neuromodulation

  • Eingesetzte Verfahren
    • sakrale Neuromodulation (SNM)
    • perkutane tibiale Nervenstimulation (PTNS)
  • Wirkprinzip
    • Beeinflussung der Funktion der afferenten Harnblasennerven zur Verbesserung des Ungleichgewichts von stimulierenden und hemmenden Kontrollsystemen der Harnblase
  • SNM und PTNS sollten Patientinnen bei erfolgloser konservativer und oraler medikamentöser Therapie angeboten werden (IV/B, IV/B).

Blasenaugmentation oder Harnableitung

  • Reserveverfahren in therapierefraktären Fällen
    • Indikationsstellung durch breite Verfügbarkeit der Onabotulinumtoxin-Injektionen und elektrischen Neuromodulation zuletzt deutlich seltener
    • sorgfältige und individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung
    • Kann bei überaktiver Blase oder Dranginkontinenz in ausgewählten Fällen angeboten werden, wenn andere Behandlungsmethoden versagt haben (IV/C).
  • Eingesetzte operative Verfahren
    • Blasenaugmentation (Ileozystoplastik)
    • supravesikale Harnableitung (z. B. Ileum- oder Kolon-Conduit, Neoblase)

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei transienter Dranginkontinenz liegt häufig eine akute Ursache zugrunde und die Symptome sind reversibel.6
  • Bei Dranginkontinenz im Rahmen eines Syndroms der überaktiven Blase (ÜAB) hat in der Regel einen chronischen Verlauf.
  • Frauen mit Belastungsinkontinenz entwickeln im fortgeschrittenen Lebensalter häufig eine Mischform mit zusätzlicher Dranginkontinenz (Mischharninkontinenz).1

Komplikationen

  • Reduzierte Lebensqualität durch:
    • eingeschränkte alltägliche Aktivitäten
    • soziale Isolation
    • psychische Beeinträchtigung und Depression
    • Beeinträchtigung des Sexuallebens
    • Abhängigkeit von Unterstützung und Pflege.
  • Harninkontinenz sollte nicht als normaler Prozess des Alterns betrachtet werden.

Prognose

  • Häufig ist eine Linderung ohne vollständiges Sistieren der Beschwerden erreichbar.1-3
    • Realistische Zielsetzungen und Schulungen verbessern die Teilhabe und Compliance.
  • Dranginkontinenz kann durch psychosoziale Beeinträchtigungen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität haben.1

Verlaufskontrolle

  • Es sollte eine Verlaufskontrolle erfolgen, um Therapieerfolg, Therapieadhärenz und mögliche Nebenwirkungen zu beurteilen.3
  • Die Verlaufskontrolle richtet sich nach der Schwere der Symptome und dem Therapieansatz und sollte individuell auf die Patientinnen abgestimmt werden.
  • Verlaufskontrolle auch anhand des Miktionstagebuchs

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Harninkontinenz der Frau. AWMF-Leitlinie Nr. 015-091. S2k, Stand 2022. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001. S2e, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Harninkontinenz der Frau. AWMF-Leitlinie Nr. 015-091. S2k, Stand 2022. register.awmf.org
  2. Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001. S2e, Stand 2019. register.awmf.org
  3. American Urological Association, Society of Urodynamics, Female Pelvic Medicine and Urogenital Reconstruction. Diagnosis and Treatment of Non-Neurogenic Overactive Bladder (OAB) in Adults. Stand 2019. www.auanet.org
  4. Hersh L, Salzman B. Clinical management of urinary incontinence in women. Am Fam Physician. 2013 May 1;87(9):634-40. Review. Erratum in: Am Fam Physician. 2013 Oct 1;88(7):427. PubMed PMID: 23668526. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Schreiber Pedersen L, Lose G, Høybye MT, Elsner S, Waldmann A, Rudnicki M. Prevalence of urinary incontinence among women and analysis of potential risk factors in Germany and Denmark. Acta Obstet Gynecol Scand. 2017;96(8):939-948. doi:10.1111/aogs.13149 doi.org
  6. Khandelwal C, Kistler C. Diagnosis of urinary incontinence. Am Fam Physician. 2013 Apr 15;87(8):543-50. PubMed PMID: 23668444. www.ncbi.nlm.nih.gov
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  8. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Harninkontinenz. DEGAM-Leitlinie Nr. 5, Stand 2004 (abgelaufen). www.degam.de
  9. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-121. S1, Stand 2020 register.awmf.org
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Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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