Zittern (Tremor)

Allgemeine Informationen

Definition

  • Aktuelle Definition des Tremors der Tremor Task Force der International Movement Disorder Society (IMDS): unwillkürliche, rhythmische, oszillatorische Bewegungen eines oder mehrerer Körperabschnitte1
  • Symptom mit diversen Ursachen
  • Am häufigsten verstärkter physiologischer Tremor, essenzieller (idiopathischer) Tremor und Parkinson-Tremor2

 Klassifikation gemäß IMDS1

  • Klassifikation des Tremors anhand des 2-Achsen-Prinzipes
  • Achse 1: klinische Charakteristika
    • Anamnese
      • u. a. Alter bei Symptombeginn, Familienanamnese, Vorerkrankungen, Drogen- und Alkoholkonsum
    • Charakteristika des Tremors
    • assoziierte Symptome
    • weitere Untersuchungen
      • u. a. Bildgebung, elektrophysiologische Tests, Laboruntersuchungen
  • Achse 2: Ätiologie
    • erworben
    • genetisch bedingt
    • idiopathisch

Klinische Einteilung anhand Aktivierungsbedingungen3

  • Ruhetremor: Extremität vollkommen von Schwerkraft befreit und relevante Muskulatur nicht innerviert, also „entspannt"
  • Haltetremor: Während des willkürlichen Annehmens einer Haltung, der durch Schwerkraft entgegengewirkt wird (Beispiel: Armvorhalteversuch).
    • Subtyp isometrischer Tremor: Die willkürliche Muskelkontraktion gegen ein festes unbewegliches Objekt führt zu isometrischer Muskelaktivität.
  • Bewegungs- oder kinetischer Tremor: bei jeder Art von Bewegung (Beispiel: Schriftprobe)
    • Subtyp Intentionstremor: Der Tremor erreicht die größte Intensität in der Zielzone der Bewegung.
    • Subtyp tätigkeitsspezifische Tremor: Tremor nur bei sehr spezifischen und erlernten Bewegungen wie Schreiben oder Klavierspielen (DD aktionsinduzierte Dystonie)

Häufigkeit

  • Prävalenz bei über 50-Jährigen in Südtirol4
    • verstärkter physiologischer Tremor 9,5 %
    • essenzieller Tremor 3,06 %,
    • Parkinson-Tremor 2,05 %.
  • Der essenzielle Tremor ist die häufigste Bewegungsstörung überhaupt.3
    • Prävalenz in Allgemeinbevölkerung 0,31–1,7 %, Zunahme mit Alter.  
    • Beide Geschlechter gleichermaßen betroffen.
    • Häufigkeitsgipfel in 2.–6. Lebensdekade.
  • Alle Arten von Tremor kommen in der Regel häufiger im hohen Alter vor.5

Diagnostische Überlegungen

  • Relevant ist die Unterscheidung zwischen dem verstärkten physiologischen Tremor und den beiden häufigsten pathologischen Tremorformen (essenziell und Parkinson).
  • Beim verstärkten physiologischen Tremor sollte Ursache gefunden werden, da er nach Behebung der Ursache oft reversibel ist.2

Mögliche Differenzialdiagnosen

ICPC-2

  • N08 Abnorme unwillkürliche Bewegungen

ICD-10

  • G25.0 Essenzieller Tremor
  • G25.1 Arzneimittelinduzierter Tremor
  • G25.2 Intentionstremor
  • R25.1 Tremor, nicht näher bezeichnet

Differenzialdiagnosen

Verstärkter physiologischer Tremor

  • Ein diskreter feiner Halte- und Bewegungstremor ist bei allen Menschen in den Extremitäten zu finden.3
  • Besonders bei Haltebedingungen sichtbar, hohe Frequenz und geringe Amplitude2
  • Verstärkung durch u. a.:
    • Ermüdung, Angst, Aufregung3
    • Hyperthyreose6
    • Medikamente: z. B. Lithium, Amphetamine, Sympathomimetika, Koffein und Steroide6
    • Entzug von Alkohol und Benzodiazepinen 
    • Hypoglykämie.
  • Besteht meist weniger als 3 Jahre.6
  • Eine zugrunde liegende neurologische Erkrankung sollte ausgeschlossen werden.2
    • empfohlene Untersuchungen2
      • neurologische Anamnese (insbesondere Medikamentenanamnese)
      • neurologischer Status
      • Laboruntersuchungen (Leberwerte, Nierenwerte, TSH, Elektrolyte)
      • Elektromyogramm (Nachweis oder Ausschluss Asterixis)
  • Ggf. Differenzialdiagnostik für Abgrenzung zu essenziellem Tremor bei Spezialist*in6 
    • elektrophysiologische Ableitung einer Tremor-Elektromyografie und Akzelerometrie des Händetremors ohne und mit Gewichtsbelastung  
      • In der Regel ist beim essenziellen Tremor die Frequenz < 8 Hz
      • bei verstärktem physiologischem Tremor > 8 Hz.

Essenzieller Tremor

  • Siehe auch Artikel Essenzieller Tremor.
  • Häufigste Form des pathologischen Tremors
  • Vorwiegend Halte- und Bewegungstremor2
  • Obligates Diagnosekriterium: bilateraler Tremor der Hände mit oder ohne zusätzliche Tremorlokalisationen seit mindestens 3 Jahren6
  • Ausschlusskriterien: u. a. Vorhandensein anderer neurologischer Syndrome und plötzlicher Beginn6
  • Unterstützend für die Diagnose2
    • langer Verlauf
    • positive Familienanamnese
    • Besserung der Tremorstärke nach Alkoholgenuss
      • nach Metabolisierung des Alkohols nach 3–4 Stunden regelhaft Verschlechterung des Tremors (Rebound)3
  • Klassischer Verlauf3
    • Beginn an dominanter Hand, im Verlauf zunehmend symmetrisch
    • Schrift wird unleserlich.
    • Tätigkeiten wie Trinken aus der Kaffeetasse werden zunehmend beeinträchtigt.

Parkinson-Syndrom

  • Siehe auch Artikel Parkinson-Syndrom.
  • Klassischer Parkinson-Tremor: Unilateraler Ruhetremor mit Tremorsuppression beim Übergang zu Halte- oder Aktionsbewegungen2
  • In der Regel Personen > 60 Jahre, progrediente Erkrankung
  • Pathophysiologisch Dopamin-Mangel-Erkrankung7
  • Typische Symptome starres, maskenähnliches Gesicht, Verlust des Mitschwingens der Arme beim Gehen, monotone Stimme
  • Klassische Trias: Rigor, Tremor, Akinese

Psychogener Tremor

  • Kriterien, die für einen psychogenen Tremor sprechen:2
    • plötzlicher Beginn oder plötzliche Remissionen
    • unübliche klinische Kombinationen von Ruhe-, Halte- und Bewegungstremor
    • Sistieren bei Ablenkung
    • positives Entrainment-Zeichen: Abnahme der Tremoramplitude oder Veränderung der Tremorfrequenz bei Ablenkung oder bei repetitiven Willkürbewegungen der kontraleralen Hand
      • Beispiel: Patient*in soll mit kontralateraler Extremität Takt klopfen; daraufhin Nachlassen des Tremors oder Wechsel auf gleiche Frequenz wie Takt des Klopfens.8

Anamnese

Wichtige Fragen

Wann ist das Zittern am stärksten ausgeprägt?

  • Ruhetremor: typisch für Parkinson-Krankheit
  • Haltetremor: typisch für essenziellen und gesteigerten physiologischen Tremor
  • Intentionstremor: Auch zerebelläre Schädigung in Betracht ziehen.
  • Atypische Kombination von Ruhe-, Halte- und Intentionstremor: psychogene Ursache möglich

Praktische Auswirkungen?

  • Sozial belastend?
  • Probleme bei Nahrungsaufnahme?

Begleitsymptome?

  • Beispiel Parkinson-Syndrom: Muskelrigidität, Bradykinesie und Verlust der posturalen Kontrolle
  • Beispiel Hyperthyreose: u. a. Gewichtsverlust, vermehrtes Schwitzen, Schlaflosigkeit
  • Andere neurologische Symptome?

Entstehungszeitraum des Tremors?

  • Kurzfristiger, schlagartiger Beginn: Medikamente, Toxine, Hirntumor oder psychogene Ursache in Betracht ziehen.
  • Schleichend über mehrere Jahre: typisch für essenziellen Tremor

Medikamente?

  • Mögliche tremorauslösende/-verstärkende Medikamente: z. B. Lithium, Amphetamine, Sympathomimetika, Koffein und Steroide6
  • Entzugssymptom bei Benzodiazepin- oder Drogenabhängigkeit

Alkohol?

  • Sowohl fortgeführter Missbrauch als auch Abstinenz kann Tremor auslösen.
  • Besserung nach Einnahme von geringeren Mengen Alkohol mit Rebound der Symptomatik nach 3–4 Stunden (nach Metabolisierung des Alkohols): typisch für essenziellen Tremor3

Vererbung?

  • Familiäre Häufung bei essenziellem Tremor
    • in Zwillingsstudien Heritabilität von 60–90 %6

Bei Kindern?

  • Potenziell schwerwiegende Ursache. Überweisung an Neurolog*in sollte erfolgen.9

Klinische Untersuchung

Allgemeines

Spezifische Untersuchung des Tremors

  • Charakteristika, die gemäß IMDS festgestellt werden sollten:1

Untersuchungsvideos

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

  • Basis-Labor empfohlen2
    • mit Leberwerten, Nierenwerten, Schilddrüsenwerten, Elektrolyten
  • Bei klinischem Verdacht auf Grunderkrankung spezifische Laboruntersuchungen, z. B. Coeruloplasmin bei V. a. Morbus Wilson
  • Bei Einnahme von Medikamenten mit enger therapeutischer Breite Spiegel-Bestimmung, z. B. bei Lithium

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Bildgebung abhängig von Verdachtsdiagnose, z. B.:1
    • strukturell: cMRT
    • funktionell: Bildgebung von Neurotransmitter-Rezeptoren
  • Elektrophysiologische Untersuchungen

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Überweisung

  • Überweisung an neurologische Praxis
    • bei Kindern mit Tremor9
    • bei Unsicherheit bezüglich der Einteilung des Tremors
    • bei abruptem Beginn ohne eruierbare Ursache
    • bei therapierefraktären Beschwerden bei essenziellem Tremor
      • Indikation zur tiefen Hirnstimulation?

Checkliste zur Überweisung

Tremor

  • Zweck der Überweisung
    • Diagnosesicherung? Therapie? Sonstiges?
  • Anamnese
    • Seit wann bestehen die Beschwerden? Progression? Bekannte Grunderkrankung?
    • Ruhetremor? Haltetremor? Bewegungstremor? – Wann ist das Zittern am stärksten ausgeprägt? Begleitsymptome wie Rigidität, Bradykinesie, Verlust der posturalen Kontrolle (Parkinson-Krankheit)? Andere neurologische Symptome?
    • Andere relevante Erkrankungen? Derzeit eingenommene Medikamente? Familiäre Vorbelastung? Drogenkonsum?
    • Evtl. Therapien, Wirksamkeit?
    • Praktische berufliche, private, soziale oder sonstige Auswirkungen?
  • Klinische Untersuchung
    • Allgemeinzustand? Anzeichen einer neurologischen Erkrankung? Hyperthyreose? Alkoholismus?
    • Aktivierungsbedingungen?
    • Frequenz und Amplitude des Tremors?
    • Betroffene Körperpartien
    • allgemeine neurologische Untersuchung
  • Ergänzende Untersuchungen
    • HbTSH, Leberwerte, Nierenwerte, Elektrolyte
    • Evtl. Bildgebung wie cMRT?

Therapie

Essenzieller Tremor

  • Ausreichende Evidenz für Behandlungsempfehlungen gibt es nur für den Tremor.2
  • Siehe Artikel Essenzieller Tremor.
  • Eine medikamentöse Therapie erbringt durchschnittlich 50 % Tremorreduktion.6
    • bei eher älteren Patient*innen Primidon
    • bei jüngeren Patient*innen Propranolol
  • Weitere Therapieoptionen umfassen Topiramat sowie tiefe Hirnstimulation des Nucleus ventralis intermedius thalami.6

Parkinson-Syndrom

  • Siehe Artikel Parkinson-Syndrom.
  • Multimodales Behandlungskonzept, u. a. mit symptomatischer medikamentöser Therapie mittels MAO-B-Hemmern, Dopaminagonisten oder Levodopa und körperlichem Training.

Gesteigerter physiologischer Tremor

  • Behebung der auslösenden Ursache, z. B.:
    • Therapie der Grunderkrankung wie Hyperthyreose
    • Pausieren/Dosisanpassung/Absetzen von aggravierenden Medikamenten

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Ratschläge für den Umgang mit Tremor im Alltag

Videos

Quellen

Literatur

  1. Bhatia KP, Bain P, Bajaj N, et al. Consensus Statement on the classification of tremors from the task force on tremor of the International Parkinson and Movement Disorder Society. Mov Disord 2018; 33(1): 75-87. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Tremor. AWMF-Leitlinie Nr. 030-011. S1, Stand 2012 (abgelaufen). dgn.org
  3. Ceballos-Baumann A. Klinische Neurologie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2020. link.springer.com
  4. Wenning GK, Kiechl S, Seppi K et al. Prevalence of movement disorders in men and women aged 50–89 years (Bruneck Study cohort): a population-based study. Lancet Neurol 2005; 4: 815–820. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Tse W, Libow LS, Neufeld R, et al. Prevalence of movement disorders in an elderly nursing home population. Arch Gerontol Geriatr 2008; 46: 359-66. PubMed
  6. Deuschl G, Berg D. Essenzieller Tremor: State of the Art. Der Nervenarzt 2018; 89: 394-99. link.springer.com
  7. Chou KL. Diagnosis and management of the patient with tremor. Med Health R I 2004; 87: 135-8. PubMed
  8. Brown P, Thompson PD. Electrophysiological aids to the diagnosis of psychogenic jerks, spasms, and tremor. Mov Disord 2001;16:595-9. PubMed
  9. Keller S, Dure LS. Tremor in childhood. Semin Pediatr Neurol 2009; 16: 60-70. PubMed

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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