Zusammenfassung
- Definition: Einengung des Spinalkanals als Folge degenerativer Umbauprozesse der Wirbelsäule, insbesondere an der Lendenwirbelsäule.
- Häufigkeit: Zunahme der Inzidenz mit steigendem Lebensalter. Häufigkeitsgipfel zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr.
- Symptome: Häufig intermittierende, belastungsabhängige Schmerzen, die in die Beine ausstrahlen (Claudicatio spinalis), progrediente Gangstörung, im Verlauf Sensibilitätsstörungen und Paresen abhängig von der Höhe der Einengung.
- Untersuchung: Initial unauffälliger Untersuchungsbefund, Beschwerdezunahme bei aufrechter Haltung und Reklination, breitbasiges, unsicheres Gangbild, sensible und motorische Defizite.
- Diagnostik: Bildgebung der Wirbelsäule, insbesondere MRT; ggf. weitere Diagnostik abhängig von den Differenzialdiagnosen.
- Therapie: Konservative Therapie ist 1. Wahl mit Analgesie und Physiotherapie; Spontanverlauf oft gutartig; bei Versagen der konservativen Therapie oder schwerer Symptomatik operative Dekompression erwägen.
Allgemeine Informationen
Definition
- Eine Spinalkanalstenose bezeichnet eine meist knöchern-ligamentäre Einengung des Spinalkanals innerhalb der Wirbelsäule, in der das Rückenmark sowie die Cauda equina verlaufen.
- Eine häufig begleitende Neuroforamenstenose verursacht eine Kompression der Spinalnerven.
- Ursache der Verengung sind in der Regel degenerative Umbauprozesse, z. B. Spondylophyten oder Arthrose, die mit fortschreitendem Alter zunehmen.
- Als Folge kommt es zu Rückenschmerzen, ausstrahlenden Schmerzen in die Beine mit Gangstörung und sensomotorischen Ausfällen.
- Die Therapie ist in 1. Linie konservativ, bei Therapieversagen oder bei schwerer Spinalkanalstenose kann eine operative Dekompression erfolgen.
Häufigkeit
- Betroffen sind vor allem Menschen mittleren bis höheren Lebensalters.1-2
- durchschnittliches Manifestationsalter: 65 Jahre
- zunehmende Bedeutung durch den demografischen Wandel mit rasch steigender Inzidenz1-3
- Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
- Häufigste Lokalisation auf Höhe der Lendenwirbelsäule
- Oft handelt es sich um einen asymptomatischen radiologischen Zufallsbefund (bis zu 28 % der Erwachsenen).1
Ätiologie und Pathogenese
- Anatomische Grundlagen1,3-4
- Der Spinalkanal ist ein zentraler Raum, der innerhalb der Wirbelsäule verläuft und das Rückenmark enthält.
- Das Rückenmark endet mit dem Conus medullaris etwa auf Höhe der LWK.
- Die Nervenwurzeln der Spinalnerven verlassen den Spinalkanal über den Recessus lateralis und das Neuroforamen.
- Lokalisation der Stenose
- Die Einengung führt zur Kompression des Rückenmarks bzw. der Cauda equina im Spinalkanal (zentrale Stenose)
- Zudem kommt es häufig zu einer Verengung im Bereich der Recessus laterales und im Neuroforamen mit Kompression der Nervenwurzeln (laterale Stenose).
- Spinalkanalstenosen sind in der Regel Folge degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule.1,3
- Osteophyten bei Spondylarthrose (knöcherne Anbauten)
- Spondylolyse und Spondylolisthesis (Wirbelgleiten)
- Hypertrophie und Arthrose der Facettengelenke
- Degeneration der Bandscheibe mit Höhenminderung des Segments
- fibrotische Hypertrophie des Ligamentum flavum
- Seltenere Ursachen sind frühere Traumata oder Frakturen, Infektionen oder operative Eingriffe
- Eine primäre (anlagebedingte) Spinalkanalstenose ist selten.2-3
Prädisponierende Faktoren
- Fortgeschrittenes Alter
- Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule
- Vorangehende Frakturen oder Operationen
ICPC-2
- L83 Halswirbelsäulensyndrom
- L84 Rückensyndrom ohne Schmerzausstr.
- L86 Rückensyndrom mit Schmerzausstr.
ICD-10
- M48.0 Spinal(kanal)stenose
- M99.3 Knöcherne Stenose des Spinalkanals
- M99.4 bindegewebige Stenose des Spinalkanals
- M99.5 Stenose des Spinalkanals durch Bandscheibe
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Typische Anamnese und klinische Beschwerden (Claudicatio spinalis)3
- Bildgebender Nachweis einer Spinalkanalstenose (CT/MRT)
- häufig als asymptomatischer Zufallsbefund (bis zu 28 %)1
Differenzialdiagnosen
- Lumbale Bandscheibenvorfälle
- Spondylolyse/Spondylolisthesis
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit (Claudicatio intermittens)
- Spinale Raumforderungen (Tumoren und Metastasen)
Anamnese
- Typische Beschwerden
- Rückenschmerzen auf Höhe der Spinalkanalstenose (meistens lumbal)
- ausstrahlende Schmerzen in die Beine
- Schweregefühl der Beine
- Gangstörung mit -unsicherheit
- (intermittierende) sensible und motorische Ausfälle
- Zeitlicher Verlauf
- chronisch progredient
- meist über Jahre zunehmende Beschwerden3
- Modifikation der Beschwerden
Klinische Untersuchung
- Zu Beginn der Erkrankung meist unauffälliger allgemeiner und neurologischer Untersuchungsbefund
- Allgemeine körperliche Untersuchung
- Wirbelsäulenklopfschmerz auf Höhe der Spinalkanalstenose
- Pulsstatus (Abgrenzung gegenüber Claudicatio intermittens bei PAVK)
- Neurologische Untersuchung
- Gangstörung mit breitbasigem Gangbild, vornübergebeugt
- Romberg-Stehversuch mit Unsicherheit
- Hypästhesien (Dermatom?)
- Paresen
- Reflexminderungen/-ausfälle
- positiver Lasègue-Test (Wurzeldehnungszeichen)
- einschießende Schmerzen bei Hüftbeugung > 30 Grad
- Konus-/Kaudasyndrom (sehr selten)
- Reithosenanästhesie, Blasen-/Mastdarmfunktionsstörungen
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Keine zwingend notwendige Diagnostik verfügbar
- Ggf. Labordiagnostik
- Hinweis auf entzündliche Genese
Diagnostik beim Spezialisten
- Bildgebende Untersuchungen
- Röntgen der Wirbelsäule
- häufig initiale Untersuchung bei akuten Beschwerden, z. B. zum Frakturausschluss
- MRT der Wirbelsäule1,3,5
- bildgebende Untersuchung der Wahl
- Darstellung der Verengung des Spinalkanals und Kompression von Spinalnerven
- MRT besonders geeignet zur Darstellung des Spinalkanals sowie Abklärung von Differenzialdiagnosen (z. B. Raumforderungen)
- alternativ CT der Wirbelsäule
- Myelografie
- inzwischen selten durchgeführte Untersuchung
- Darstellung des Spinalkanals nach Kontrastmittelgabe per Lumbalpunktion1,5
- Röntgen der Wirbelsäule
- Ggf. weitere Zusatzdiagnostik
- elektrophysiologische Untersuchungen
- z. B. motorisch evozierte Potenziale (MEP) zur Identifikation der relevanten Stenose bei multiplen Spinalkanalstenosen
- Neurografie bei der Differenzialdiagnose einer peripheren Neuropathie
- elektrophysiologische Untersuchungen
Indikationen zur Überweisung
- Bei klinischem Verdacht auf die Erkrankung
- Bei progredienter Gangstörung und sensomotorischen Defiziten
Checkliste zur Überweisung
Spinalkanalstenose
- Zweck der Überweisung
- Diagnostik? Therapie? Sonstiges?
- Anamnese
- Beginn der Beschwerden? Wann und wie wurde die Diagnose gestellt? Krankheitsverlauf und Entwicklung? Progression? Anhaltende Beschwerden?
- Rückenschmerzen? Was provoziert die Schmerzen? Was lindert die Schmerzen? Grad der Funktionseinschränkung? Reduzierter Gangdistanz? Neurologische Ausfälle: Radikulopathie?
- Welche Therapie erhält die Patientin/der Patient; Effekt?
- Andere relevante Krankheiten? Wichtige psychosoziale Aspekte? Regelmäßige Medikamente?
- Trainingspotenzial?
- Konsequenzen: Arbeit, Freizeit, soziales Umfeld?
- Klinische Untersuchung
- Allgemeiner Status? Neurologische Ausfälle? Distaler Puls?
- Apparative Diagnostik
- MRT- oder CT-Ergebnisse: Spondylolisthesis?
Therapie
Therapieziele
- Schmerzen lindern.
- Funktionen verbessern (v. a. des Gehens).
- Neurologische Ausfälle vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
- Zunächst wird in fast allen Fällen eine konservative Therapie empfohlen.
- Der Spontanverlauf der Erkrankung ist initial schwer abzuschätzen.
- Konservative Therapie
- multimodaler Therapieansatz3
- adäquate Schmerztherapie mit Analgetika und Antiphlogistika6-7
- ggf. Muskelrelaxanzien
- Physiotherapie und Gangschule
- Entlastung und Stabilisierung durch Stärkung der Rumpfmuskulatur
- mitunter gleichwertige Ergebnisse zur operativen Therapie8
- Hilfsmittelversorgung
- ggf. Flexionskorsett, Rollator bei fortgeschrittenem Alter
- Interventionelle Therapie
- Operative Therapie
Operative Therapie
- Eine operative Therapie hat eine belegte Wirksamkeit.6,12-13
- Angewandte Verfahren
- Dekompressionslaminektomie1,3
- bisheriger Standardeingriff
- Resektion von Dornfortsätzen, Wirbelbögen, Ligamenta flava und Anteilen der Facettengelenke
- Gefahr postoperativer Instabilität
- Mikrodekompression1,3,14-15
- Mikrodekompression, meist in Form von interlaminärer Fensterung mit Schonung der Mittellinienstrukturen und Erhalt von Stabilität
- Dekompression durch Resektion des Ligamentum flavum und Anteile der Gelenkfacette
- als uni- oder bilaterale, endoskopische oder mikroskopische Verfahren
- endoskopische transforaminale Operation
- Einsatz bei Recessusstenosen
- bisher keine Evidenz zur Wirksamkeit
- Der Nutzen einer zusätzlichen Spondylodese bei Spondylolisthesis ist umstritten.1
- Bei klaren Zeichen einer Instabilität kann eine Stabilisierung jedoch erwogen werden.3
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- In den meisten Fällen chronisch progredienter Verlauf
- Im Frühstadium charakteristische Belastungsabhängigkeit der Beschwerden
- Im Verlauf persistierende Symptome und bei Wurzelkompression sensomotorische Defizite
- Im Endstadium bleibende Paresen bei zurückgehender Schmerzsymptomatik (Wurzeltod)
Komplikationen
- Gangstörung mit Stürzen
- Bleibende neurologische Defizite
- Konus-/Kaudasyndrom (selten)
- Immobilität
Prognose
- Sehr variierender Spontanverlauf der Erkrankung
- Nach konservativer Therapie
- Nach operativer Therapie
- hohe Erfolgsrate bezüglich der Beinschmerzen
- Residuelle Rückenschmerzen sind häufig.
- Gefahr von Komplikationen und Instabilität
- Anfängliche Vorteile einer Operation nivellieren sich nach ca. 4–8 Jahren.1
Illustrationen
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Bär M. Lumbale Spinalkanalstenose/Claudicatio spinalis. In: Hufschmidt A, Lücking C, Rauer S et al., ed. Neurologie compact. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017.
- Kalichman L, Cole R, Kim DH, Li L, Suri P, Guermazi A, et al. Spinal stenosis prevalence and association with symptoms: the Framingham Study. Spine J 2009; 9(7):545-50. PubMed
- Thomé C, Börm W, Meyer F. Die degenerative lumbale Spinalkanalstenose. Aktuelle Strategien in Diagnostik und Therapie. Dtsch Arztebl 2008; 105(20): 373-9; DOI: 10.3238/arztebl.2008.0373. www.aerzteblatt.de
- Martin Trepel. Neuroanatomie - Struktur und Funktion, 5. Auflage. München: Elsevier, 2012.
- de Graaf I, Prak A, Bierma-Zeinstra S, Thomas S, Peul W, Koes B. Diagnosis of lumbar spinal stenosis: a systematic review of the accuracy of diagnostic tests. Spine 2006; 31: 1168-76. PubMed
- Amundsen T, Weber H, Nordal HJ, Magnaes B, Abdelnoor M, Lilleas F. Lumbar spinal stenosis: conservative or surgical management? A prospective 10-year study. Spine 2000; 25: 1424-35. PubMed
- Alvarez JA, Hardy RH Jr. Lumbar spine stenosis: a common cause of back and leg pain. Am Fam Physician 1998; 57: 1825-34, 1839-40. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Delitto A, Piva SR, Moore CG, et al. Surgery versus nonsurgical treatment of lumbar spinal stenosis: A randomized trial. Ann Intern Med 2015; 162:465. PMID: 25844995 PubMed
- Chou R, Hashimoto R, Friedly J, et al. Epidural corticosteroid injections for radiculopathy and spinal stenosis: A systematic review. Ann Intern Med 2015. doi:10.7326/M15-0934 DOI
- Friedly JL, Comstock BA, Turner JA, et al. A Randomized Trial of Epidural Glucocorticoid Injections for Spinal Stenosis. N Engl J Med 2014; 371: 11-21. doi:10.1056/NEJMoa1313265 DOI
- Zaina F, Tomkins-Lane C, Carragee E, Negrini S. Surgical versus non-surgical treatment for lumbar spinal stenosis. Cochrane Database Syst Rev. 2016 Jan 29;(1):CD010264. doi: 10.1002/14651858.CD010264.pub2. Review. PubMed PMID: 26824399; PubMed Central PMCID: PMC6669253 www.ncbi.nlm.nih.gov
- Weinstein JN, Tosteson TD, Lurie JD, et al, for the SPORT Investigators. Surgical versus nonsurgical therapy for lumbar spinal stenosis. N Engl J Med 2008; 358: 794-810. New England Journal of Medicine
- Malmivaara A, Slatis P, Heliovaara M, et al, for the Finnish Lumbar Spinal Research Group. Surgical or nonoperative treatment for lumbar spinal stenosis? a randomized controlled trial. Spine 2007; 32: 1-8. PubMed
- Kleeman TJ, Hiscoe AC, Berg EE. Patient outcomes after minimally destabilizing lumbar stenosis decompression: the "Port-Hole" technique. Spine 2000; 25: 865-70. PubMed
- Nerland US, Jakola AS, Solheim O, et al. Minimally invasive decompression versus open laminectomy for central stenosis of the lumbar spine: Pragmatic comparative effectiveness study. BMJ 2015; 350: h1603 DOI: 10.1136/bmj.h1603 DOI
Autoren
- Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung, Neurologie, Freiburg im Breisgau
- Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL
- Espen Dietrichs, professor og avdelingsoverlege, Universitetet i Oslo og Nevrologisk avdeling, Rikshospitalet, Oslo