Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS)

Zusammenfassung

  • Definition:Ein Syndrom, das mit einem schwerwiegenden und anhaltenden Gefühl der Erschöpfung sowie verschiedenen Zusatzsymptomen einhergeht. Es existieren viele Synonyme bzw. ähnliche Gesundheitsstörungen, z. B. chronisches Müdigkeitssyndrom, ME/CFS, systemische Belastungsintoleranzerkrankung (SEID). Inzwischen gibt es einen internationalen Konsens, dass PEM ein obligates, aber nicht das alleinige Symptom bei den Betroffenen ist. Die Ätiologie ist ungeklärt und möglicherweise heterogen. Auch der Verlauf ist heterogen und immer individuell zu erheben. Die Einordnung und Nomenklatur des CFS als eigene Krankheitsentität ist kontrovers. International ist die Bezeichnung ME/CFS, was für myalgische Enzephalomyelitis (oder Enzephalopathie)/chronisches Fatigue-Syndrom steht, am ehesten etabliert mit ICD Code G 93.3.
  • Häufigkeit:Die Prävalenz liegt je nach Diagnosekriterien und Altersgruppe bei 0,002–2,5 % der Bevölkerung. Bei Vorliegen von PEM dürfte die Häufigkeit um 0,1 % liegen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Auch ethnische Minderheiten, sozial Benachteiligte und Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status haben ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.
  • Symptome:Das Hauptsymptom ist eine anhaltende Erschöpfung nach Anstrengung, die zu einer wesentlichen funktionellen Einschränkung führt und sich nicht auf normale Weise durch Ruhe bessert mit nicht erholsamem Schlaf. Charakteristisch ist die Post-Exertional Malaise (PEM). Darunter versteht man eine langanhaltende Symptomverschlechterung nach leichter Anstrengung (geringfügiger Alltagsbelastung). Für das Kriterium PEM wird eine Symptomverschlechterung gefordert, die mindestens noch am Folgetag nach der Belastung oder länger besteht. Die Symptome haben zu einem konkreten Zeitpunkt begonnen, bestehen seit mindestens 6 Monaten und führen zu erheblichen funktionellen Beeinträchtigungen.
  • Untersuchung:Es können folgende Zusatzbefunde vorliegen: Gedächtnis- und/oder Konzentrationsstörungen, Halsschmerzen, druckschmerzhafte Lymphknoten, orthostatische Dysregulation, Muskelschmerzen, Schmerzen in mehreren Gelenken, neu aufgetretener Kopfschmerz.
  • Diagnostik:Die Diagnose kann nur gestellt werden, wenn es keine andere Erklärung für die Beschwerden gibt. Somit ist es eine Ausschlussdiagnose, die in der Regel aufgrund der Anamnese und körperlichen Untersuchung vermutet werden kann, ggf. flankiert durch einen CSF-spezifischen Fragebogen. Organmedizinische und Labor- sowie apparative Untersuchungen dienen vor allem der Abgrenzung von Differenzialdiagnosen. Hier gibt es bisher keine spezifischen Befunde für die Erkrankung.
  • Therapie:Bisher gibt es keine gute Evidenz für die Wirksamkeit verschiedener Therapieformen. Kognitive Verhaltenstherapie kann insbesondere zur Behandlung von Begleitsymptomen angeboten werden. Es soll keine körperlichen Aktivierungen auf Basis des Dekonditionierungskonzeptes mit dem Ziel einer raschen Belastungssteigerung angeboten werden, da es hierbei zu anhaltenden Symptomverschlechterungen kommen kann. Vielmehr empfiehlt sich eine Beratung zur körperlichen Aktivität, die solche Überlastungen konsequent vermeidet (Pacing).

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1-4

 Definition 

  • Müdigkeit (Fatigue) ist eine Empfindung, die von den betroffenen Personen unterschiedlich erlebt und benannt wird: Schlappheit, Mangel an Energie, Erschöpfung, Ermüdung, frühe Ermüdbarkeit, (Tages-)Schläfrigkeit, Einschlafneigung tagsüber etc.
  • Auslöser kann eine Vielzahl von Erkrankungen und Belastungen sein.
  • Eine Entität, die solchen Beschwerden zugrunde liegen kann, ist das chronische Müdigkeitssyndrom (CFS, Chronic Fatigue Syndrome), für das sich international inzwischen die Bezeichnung ME/CS durchgesetzt hat.

Neu konsentierte Definition

Leitlinie: Müdigkeit1

  • Bei mindestens seit 3 Monaten anhaltender bisher ungeklärter Müdigkeit sollten die ME-/CFS-Kriterien nach Institute of Medicine (IOM)2 eruiert werden, um eine Verdachtsdiagnose zu stellen, die nach 6 Monaten zu reevaluieren wäre.

Definition nach IOM 2015

  • Nach dieser Definition liegt ein ME/CFS vor, wenn die folgenden drei Symptome dauerhaft bestehen (mindestens die Hälfte der Zeit):1-2
    1. Eine im Vergleich zur Zeit vor der Erkrankung substanzielle Einschränkung der Fähigkeit zu beruflichen, schulischen, sozialen oder persönlichen Aktivitäten, die
      • länger als 6 Monate besteht
      • von Fatigue begleitet ist
      • tiefgreifend, neu aufgetreten, also nicht lebenslang bestehend, nicht das Resultat von übermäßiger Anstrengung ist und sich durch
        Ruhe und Erholung nicht substanziell verbessert.
    2. Verschlechterung der Symptome nach körperlicher und/oder kognitiver Belastung (Post-Exertional Malaise: PEM)
    3. nicht erholsamer Schlaf.
  • Obligat ist außerdem das Vorliegen mindestens eines der beiden folgenden Symptome:
    1. kognitive Einschränkungen („Brain Fog“)
      • Störungen des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der Informations- und Reizverarbeitung (Verlangsamung) und der psychomotorischen Funktion
    2. orthostatische Intoleranz
      • Eine Form der Dysautonomie: in aufrechter Position
        treten vermehrt Symptome wie Schwindel, Benommenheit, Sehstörungen, Tachykardie, Palpitationen, Schwäche und Blässe auf; dies bessert sich im Liegen.
  • Außerdem: Es gibt keine andere Erklärung für die Symptome.

In dem Kapitel ME/CFS der Leitlinie Müdigkeit gibt es im Hintergrundtext ein Sondervotum von DKPM, DGPM, DGIM, DGPPN1

  • Zwar werden die Kernempfehlungen nicht beanstandet, aber es werden Bedenken geäußert u. a. wegen der Verknüpfung des Begriffes ME mit CFS sowie der Betonung von PEM, weil dieses auch bei anderen Erkrankungen vorliegen könne. Dadurch könnten ggf. erfolgversprechende Therapieansätze, insbesondere hinsichtlich Verhaltenstherapie und körperlicher Aktivierung, zu wenig oder nicht genutzt werden.

Verwendung der verschiedenen Bezeichnungen

  • Synonyme
    • Chronic Fatigue Syndrome (CFS)
    • chronisches Müdigkeitssyndrom
    • chronisches Erschöpfungssyndrom
    • systemische Belastungs-Intoleranz-Erkrankung (Systemic Exertion Intolerance Disease – SEID)
    • myalgische Enzephalomyelitis oder Enzephalopathie/Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS)
  • In der Fachliteratur wird neben den rein deskriptiven und ursachenneutralen Bezeichnungen CFS und SEID zunehmend auch die Doppelbezeichnung ME/CFS verwendet, die auch von den Patientenorganisationen präferiert wird.

Häufigkeit

  • Chronische Müdigkeit ist in hausärztlichen Praxen in 1–3 % der Fälle der Grund für die Konsultation.
    • Dies ist jedoch nicht mit ME/CFS gleichzusetzen.
    • Je nach Studienmethodik und Altersgruppe liegt die Häufigkeit von mindestens moderater Müdigkeit in Deutschland bei 20–60 %. 
    • Müdigkeit als Konsultationsanlass in der Hausarztpraxis findet sich bei 10–20 % der Konsultationen, wenn auch aktiv geklagte Nebenbeschwerden einbezogen werden.
  • Prävalenz des ME/CFS
    • Variiert je nach diagnostischen Kriterien zwischen 0,002 % und 2,5 %.
    • Die Prävalenz fällt nach Selbsteinschätzung der Betroffenen erheblich höher aus als nach ärztlicher Diagnose (3,3 % vs. 0,8 %).
    • Vorliegen von chronischer Fatigue mit PEM wurden in England bei 0,1 % der hausärztlichen Praxisklientel dokumentiert.5
  • Geschlecht und Alter
    • Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
    • ME/CFS ist auch bei Kindern und Jugendlichen beschrieben. Die Prävalenz ist in dieser Gruppe jedoch noch niedriger als bei Erwachsenen.
    • Das Durchschnittsalter bei Krankheitsbeginn liegt zwischen 29 und 35 Jahren.

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Ätiopathogenese des ME/CFS ist trotz zahlreicher Studien bis heute ungeklärt.
  • Virologische, myogene, immunologische, autonom-neurologische, umweltmedizinische und psychophysiologische Hypothesen wurden diskutiert.
  • Möglicherweise multifaktorielle Genese, bei der biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle spielen.
  • Häufig berichten die Betroffenen von begleitenden Ereignissen wie Stress, psychische Belastung, Operationen oder ein Unfall.

Postinfektiöse Erkrankung?

  • Einige Studien deuten darauf hin, dass ME/CFS durch Infektionskrankheiten ausgelöst werden kann und dass eine Immundysregulation ein wichtiges Element des Krankheitsmechanismus darstellt.
  • Vielfach berichten Betroffene von einer Infektion vor Beginn ihrer Erkrankung, häufig unspezifischen Atemwegsinfekten.
  • Ein gehäuftes Auftreten chronischer Fatigue-Symptome ist u. a. während oder nach folgenden Infektionskrankheiten beschrieben:

Weitere Krankheitshypothesen

  • Hinweise auf Dysregulation im zentralen und autonomen Nervensystem
    • autonome Dysfunktionen, z. B. Störungen der Thermoregulation, der Durchblutung und des Blutdrucks
    • Störungen stressphysiologischer Systeme, an denen die HPA-Achse beteiligt ist.
    • Welche Faktoren im biopsychosozialen Zusammenspiel dafür von pathogenetischer Bedeutung sind, ist allerdings weiterhin unklar (gestörte Stressverarbeitung auf psychischer und/oder biologischer Ebene?).
  • Psychische Faktoren
    • ME/CFS ist mit aktuellen oder früheren psychischen Erkrankungen assoziiert, und die psychischen und sozialen Gegebenheiten können bei der Krankheitsentwicklung eine Rolle spielen.
    • Dies bedeutet nicht, dass das chronische Erschöpfungssyndrom als rein psychische Erkrankung aufzufassen ist.
    • Antidepressiva kommen nur bei Betroffenen mit psychischer Komorbidität zur Behandlung depressiver Symptome oder von Angstsymptomen infrage. Auf die Fatigue-Symptomatik scheinen sie keine nennenswerte Wirkung zu haben.
  • Genetische Faktoren
    • Familien mit gehäuftem Auftreten von ME/CFS sind beschrieben, wurden aber bislang nicht systematisch und anhand ausreichend großer Stichproben untersucht.
    • Bei monozygoten Zwillingsmädchen liegt die Heritabilität bei 38 %, die Konkordanzraten bei heterozygoten Zwillingen beträgt 11 %.

Prädisponierende Faktoren

Risikofaktoren

  • Besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen
    • Frauen
    • ethnische Minderheiten
    • sozial Benachteiligte
    • niedriger Bildungsstand
    • niedriger sozioökonomischer Status
  • Die Persönlichkeit und der Lebensstil scheinen einen Einfluss auf die Vulnerabilität gegenüber dem chronischen Erschöpfungssyndrom zu haben.
    • Bestimmte Charakterzüge wie etwa Perfektionismus scheinen das Risiko der Entwicklung eines CFS zu erhöhen.
    • Es bestehen jedoch zahlreiche methodische Probleme im Zusammenhang mit der Beurteilung von Charakterzügen und ihrer Kausalität.
  • Genetische Faktoren spielen möglicherweise eine Rolle.

Auslösende Faktoren

Aufrechterhaltende Faktoren

  • Psychische Belastungen
    • So können z. B. ungünstige Bewältigungsstrategien zu einer Verstärkung der Beschwerden und funktionellen Beeinträchtigungen führen.

ICPC-2

  • A04 Schwäche / allg. Müdigkeit (CFS)
  • N99 Neurologische Erkrankung, andere 

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20236
    • G93.3 Chronisches Müdigkeitssyndrom [Chronic fatigue syndrome]
    • Inkl. Chronisches Fatigue-Syndrom bei Immundysfunktion
      • myalgische Enzephalomyelitis
      • postvirales (chronisches) Müdigkeitssyndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1,4
  • Diese diagnostische Kategorie gilt nur für Personen, die die im Abschnitt Definition genannten Kriterien erfüllen.
  • Die Diagnose ME/CFS ist eine Syndromdiagnose, die auf definierten Kriterien, die jedoch alle nicht ausreichend valide sind, basiert. Sie ist nur zu stellen, wenn es keine andere Erklärung für die Symptomatik (z. B. Multiple Sklerose) gibt.

Bei Kindern und Jugendlichen

  • Unzureichende Datenlage mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen
  • Ergebnisse einer Metaanalyse britischer und niederländischer Studien an CFS-Betroffenen im Kindes- und Jugendalter7
    • Im frühen Kindesalter scheint die Geschlechterdifferenz (w > m) weniger stark ausgeprägt zu sein als in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter.
    • Beeinträchtigung und Fatigue sind weniger stark ausgeprägt als bei Erwachsenen.
    • Die Krankheitsdauer vor Diagnose scheint niedriger zu sein als bei Erwachsenen.
    • Im frühen Kindesalter sind kognitive Störungen seltener und Halsschmerzen häufiger.
    • In der Adoleszenz ist ME/CFS häufiger mit Kopfschmerzen und Depression sowie seltener mit druckschmerzhaften Lymphknoten, Palpitationen, Schwindel, allgemeinem Krankheitsgefühl, Schmerzen und Angstsymptomen assoziiert als bei Erwachsenen.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Haupt- und Zusatzsymptome (siehe Abschnitt Definition)
  • Definierter Beginn der Symptomatik
  • Schwankende Intensität
    • Die Symptomlast ist oft unvorhersehbar, folgt einem schwankenden Verlauf und steht in keinem angemessenen Verhältnis zu der Anstrengung, die die Symptome auslöst.
    • Bei manchen Betroffenen ist der Schweregrad der Symptome relativ konstant, bei vielen – auch den am schwersten Erkrankten – schwankt er jedoch, was zu einer unterschiedlich guten oder schlechten Tagesform führt.
    • Veränderungen der Lebensqualität, des Alltags und des Selbstbildes seit Erkrankungsbeginn
  • Zur Beurteilung der funktionellen Einschränkung kann der Bell-Score angewendet werden. Dieser kann ebenso wie ein Fragebogen zur Erfassung von PEM und viele weitere Informationen herunterladen werden vom Fatigue Centrum der Charité.
    • zum Erkennen anderer definierter Ursachen: ausführliche Anamnese, z. B. unter Zuhilfenahme des Fragebogens zur Anamnese (Link zur entsprechenden Seite bei Leitlinie Müdigkeit)
  • Konsequenzen
    • Die Symptome können soziale und wirtschaftliche Folgen haben und im Lauf der Zeit zu einer Vernachlässigung des sozialen Umfelds und des Freundeskreises führen.
    • Als Reaktion auf die Veränderungen, die die Beschwerden mit sich bringen können, entstehen häufig Gefühle von Verlust, Trauer und Vereinsamung.
    • Die Erkrankung bedeutet auch eine große Belastung für die nächsten Angehörigen, die im Alltag häufig viele zusätzliche Aufgaben übernehmen.
  • Funktionsfähigkeit
    • erhebliche Einschränkungen mit Fluktuationen
    • krankheitsbedingte Fehlzeiten bei der Arbeit oder in der Schule
    • Die am schwersten Erkrankten sind dauerhaft bettlägerig und haben evtl. Probleme, Nahrung zu sich zu nehmen und die persönliche Hygiene zu gewährleisten.
    • Die Lebensqualität insgesamt ist oft erheblich eingeschränkt.

Klinische Untersuchung

  • Keine spezifischen pathologischen Befunde
  • Sorgfältige klinische Untersuchung entsprechend der Empfehlung zur Leitlinie Müdigkeit (Kernempfehlung 5.2.1) und ggf. Zusatzuntersuchungen zum Ausschluss anderer Grunderkrankungen (siehe Abschnitt Differenzialdiagnosen)
  • Puls und Blutdruck
  • Orientierende neurologische Untersuchung
  • Beurteilung der kognitiven Funktionen
    • Häufig sind Abbrüche des Arbeitsgedächtnisses. Störungen des Langzeitgedächtnisses sind dagegen selten.
    • evtl. zusätzlich:
      • Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
      • Wortfindungsstörungen
      • Verlangsamung der Informationsverarbeitung.
    • Anders als bei der leichten kognitiven Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment) oder bei einer Demenz halten die Gedächtnisstörungen weder kontinuierlich an, noch verschlimmern sie sich im Lauf der Zeit.
  • Psychische Exploration zum Ausschluss einer psychischen Störung
  • Ggf. Fragebogen zur CFS-Diagnostik

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Indikationen zur Überweisung

  • Eine routinemäßige Überweisung an andere Fachärzt*innen zur klinischen Beurteilung ist in typischen Fällen nicht erforderlich, als Element der zielgerichteten Ausschlussdiagnostik dagegen häufig indiziert, insbesondere zur Abklärung definierter zusätzlicher Beschwerden oder Befunde.
  • Bei akut schwer erkrankten Patient*innen ist eine schnelle und gründliche Diagnostik gefordert, für die in der Regel eine Krankenhauseinweisung notwendig ist.
  • Bei Verdacht auf eine Berufskrankheit oder schädigende Umgebungsexposition an eine arbeits-/umweltmedizinische Spezialpraxis oder -einrichtung, sofern nicht ausreichende eigene Kompetenz auf diesem Gebiet besteht.
  • Zum Management definierter Erkrankungen, sofern nicht ausreichende eigene Kompetenz auf diesem Gebiet besteht.

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1,4
  • Für die kausale Behandlung des ME/CFS sind bislang keine Medikamente zugelassen. Nach Expertenmeinung von EUROMENE, der CDC und NICE ist ein konsequentes Energiemanagement durch Pacing ein wichtiger Baustein der Behandlung.
  • Für die Praxis ist es wesentlich, die Art und das Ausmaß der anzustrebenden Aktivität in Abstimmung mit den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Belastungsgrenzen der Patient*innen festzulegen; ein individualisiertes Vorgehen ist hier angezeigt.
  • Auch das Erfragen und ggf. die Behandlung von begleitenden, häufig sehr belastenden Symptomen wie Schmerzen, kardiovaskulare Beschwerden und Schlafstörungen ist Teil des Behandlungskonzeptes.
  • Aufgrund der unterschiedlichen Diagnosekriterien und methodischer Mängel in bisherigen Studien sind keine gut gesicherten Aussagen zu Therapie und Prognose möglich. In diesem Bereich besteht ein erheblicher Forschungsbedarf.
  • Sinnvoll sind:
    • ein positives Akzeptieren der Person und Verständnis für die Beeinträchtigung durch das Syndrom
    • eine integrierte psychosoziale und somatische Betreuung
    • Körperliche Aktivität unter Vermeidung einer Überlastung im Sinne von Pacing. Eine körperliche Aktivierung auf Basis des Dekonditionierungskonzeptes soll bei diesen Patient*innen nicht angeboten werden.
    • Zu beachten ist die Belastungsintoleranz mit unterschiedlicher Latenz.
    • Die Behandlung weiterer Symptome (z. B. Schlafstörungen, Schmerzen). Insbesondere hierzu können kognitiv-behaviorale Verfahren angeboten werden.
    • Das Sondervotum von DKPM, DGPM, DGIM, DGPPN weist darauf hin, dass die strikte Vermeidung körperlicher Aktivitäten kontraproduktiv sein kann.
    • Die Patientenvertretungen wiesen dieses Sondervotum insgesamt zurück und begründen dies ausführlich (Kapitel 4.3 im Leitlinienreport).

Leitlinien: Müdigkeit1

Therapie

  • Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und u. a. auch die am Leitlinienprozess beteiligten Patientenverbände haben sich auf folgende Empfehlungen geeinigt (IIa–IV, A):
    • Bei ME/CFS sollen keine körperlichen Aktivierungen auf Basis des Dekonditionierungskonzeptes angeboten werden.
    • Zu beachten ist die Belastungsintoleranz mit unterschiedlicher Latenz.
    • Eine Verhaltenstherapie kann angeboten werden, insbesondere zur Therapie von Begleitsymptomen.

Therapieziele

  • Subjektive Besserung der Symptome
  • Steigerung des Aktivitätsniveaus
  • Verbesserung der Funktionsfähigkeit
  • Verbesserung der Lebensqualität

Kognitive Verhaltenstherapie (kVT)

  • Die kVT wird bei vielen chronischen und schweren Erkrankungen als Bewältigungsstrategie eingesetzt, ohne dass damit die Auffassung verbunden ist, dass psychologische Faktoren ursächlich für die Erkrankung sind.
  • Die Therapie kombiniert folgende Elemente:
    • Rehabilitation in Form individuell abgestimmter körperlicher Aktivität
    • Psychotherapie, die auf die Genesung behindernde Gedanken und Vorstellungen ausgerichtet ist, und den Betroffenen Methoden aufzeigt, um die Symptome unter Kontrolle bringen.
    • Planung der Rehabilitation, der Wiederaufnahme der Arbeit/des Schulbesuchs und anderer persönlicher Aktivitäten.
  • Wirksamkeit9
    • Für kVT gibt es laut IQWIG-Vorbericht einen Hinweis für einen geringen Zusatznutzen, jedoch keine nachgewiesenen Langzeiteffekte. Allerdings waren bei diesen Studien keine Betroffenen mit schwerer Erkrankung (an das Haus gebunden) einbezogen.
    • Laut NICE-Leitlinie ist Verhaltenstherapie im Wesentlichen zur Therapie von Begleitsymptomen bei ME/CFS indiziert.
  • Ein internetgestütztes Programm zur kVT von Adoleszenten mit chronischer Erschöpfung (FITNET) hat vielversprechende Ergebnisse erbracht (Ib).10

Aktivierung nach dem Dekonditionierungskonzept (Graded Exercise, GE)

  • GE ist ein strukturiertes und angeleitetes Bewegungsprogramm, dessen Ziel darin besteht, die körperliche Belastbarkeit sukzessive zu steigern.
  • Zur individuellen Bewegungstherapie können alle Arten körperlicher Aktivität eingesetzt werden, auch alltägliche Tätigkeiten.
  • Das Therapieprogramm beginnt mit einer Beurteilung des Ausgangszustands.
    • Begonnen wird mit kurzen Übungseinheiten, z. B. 10 min täglich.
    • Danach erfolgt eine langsam dosierte Steigerung: zunächst der Frequenz, dann der Dauer der Übungseinheiten und schließlich, wenn ein stabiler Allgemeinzustand erreicht ist, eine Steigerung der Intensität.
  • In seinem Vorbericht bescheinigte das IQWIG diesem Therapieverfahren einen Hinweis auf einen geringen kurzfristigen Zusatznutzen, was von Patientenvertretungen heftig kritisiert wurde: Bei PEM muss bei der Belastungssteigerung mit erheblicher Verschlechterung des Befindens gerechnet werden, wozu es viele einschlägige Patientenberichte gibt, die von Fachexpert*innen bestätigt werden. Außerdem gibt es keinen Hinweis für längerfristige positive Effekte, und die zugrunde liegenden Studien wiesen erhebliche methodische Mängel auf.
  • Bei einer Bewegungstherapie mit einer Intensität von mehr als 70 % der maximalen Sauerstoffaufnahme (VO2max) kam es zu einer hohen Abbruchquote. Außerdem waren keine Personen mit schwerer Symptomatik einbezogen.
  • Aus diesen Gründen warnt die DEGAM-Leitlinie Müdigkeit vor einer körperlichen Aktivierung nach dem Dekonditionierungskonzept bei Menschen mit ME/CFS.

Pacing

  • Unter Pacing wird das Einhalten eines individuell passenden Belastungsniveaus verstanden, sodass eine Überlastung und Verschlechterung der Symptome durch PEM vermieden wird. Gleichzeitig soll damit die noch tolerable Belastung ermöglicht werden.
  • Dieses Vorgehen wurde als „Energy Envelope“ oder „Energy Management“ bezeichnet. Dabei wird ausgelotet, welche Belastung von Patient*innen ohne Symptomverschlechterung toleriert wird und die Aktivität zunächst auf dieses Niveau beschränkt.
  • Es gilt „Flare Ups“ der Symptome, induziert durch Überlastung, zu vermeiden. Sobald ein „Flare Up“ auftritt, soll die Aktivität reduziert werden.
  • Im Idealfall kann durch konsequentes Pacing eine Verbesserung erreicht werden. Wichtig ist hierbei eine engmaschige und empathische Begleitung der Betroffenen, auch mit Unterstützung durch in ME/CFS geschulte Physiotherapeut*innen.
  • Bisher gibt es keine ausreichenden Nutzenbeleg für dieses Konzept.11 

Empfehlungen für Patient*innen

  • Lediglich zu Ruhe zu raten, wirkt sich – wie bei den meisten anderen Erkrankungen auch – ungünstig auf den Allgemeinzustand der Betroffenen aus.
  • Individuelle Belastungsgestaltung (s. o.) unter Beachtung der aktuellen Belastungsgrenzen

Medikamentöse Therapie

  • Es gibt bisher keine gesicherte Grundlage dafür, eine medikamentöse Therapie zu empfehlen, wenn nicht gleichzeitig eine weitere Erkrankung vorliegt, die medikamentös behandelt werden kann.

Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung

  • In qualitativen Studien wurde dargestellt, wie sich die Interaktion zwischen Behandelnden und Behandelten komplizieren kann, wenn diese sich in Bezug auf die Ursache und die Therapie nicht einig sind.
  • Viele Betroffene nehmen den Kontakt mit Ärzt*innen und dem Gesundheitswesen als negativ wahr.
  • Die Untersuchung und die Therapie sollten in Begleitung eines offenen Dialogs mit den Betroffenen erfolgen.
  • Hausärzt*innen kommt hier primär die Rolle zu, die betroffene Person und ihre Beschwerden ernst zu nehmen, sie wertzuschätzen und zu begleiten sowie die erforderlichen Therapieschritte zu koordinieren und auf soziale Hilfsangebote hinzuweisen.
  • Es sollen feste Folgetermine angeboten werden, um den Verlauf zu beobachten und angepasste weitere Schritte einzuleiten.
  • Dabei kann ein Symptomtagebuch hilfreich sein.
  • Die Erwartung der Betroffenen, mit ihren Beschwerden ernstgenommen und medizinisch wie sozial unterstützt zu werden, ist berechtigt.
    • Eine „Psychiatrisierung“ erscheint ebenso kontraproduktiv wie die Entwicklung weiterer Fallkriterien.
    • Vielmehr sollte an den jeweils individuell im Vordergrund stehenden Symptomen angesetzt und die aktuelle Belastbarkeit ausgelotet werden.

DEGAM-Leitlinie Müdigkeit – Zusatzmodule für Ärzt*innen und MFA

Verlauf, Komplikationen und Prognose

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1,4

Verlauf

  • In manchen Fällen ist der Schweregrad der Symptome relativ konstant, bei vielen – auch den am schwersten Erkrankten – schwankt er jedoch, was zu einer unterschiedlich guten oder schlechten Tagesform führen kann.
  • Der Verlauf ist individuell unterschiedlich und starken Schwankungen unterworfen. Schwer Erkrankte sind über längere Phasen bettlägerig und mehr oder weniger stark pflegebedürftig.
  • Bei manchen hält die Erkrankung weniger als 2 Jahre an, bei anderen wiederum gestaltet sich der Verlauf sehr langwierig.
  • Derzeit kann mit keinem Therapieverfahren eine Heilung mit ausreichender Sicherheit erwartet werden.
  • Die kVT ist bei geringer oder mittelschwerer Symptomausprägung wirksamer als andere Interventionen.

Komplikationen

  • Hinweise auf eine erhöhte kardiovaskuläre Mortalität sind vorläufig.
  • Eine große retrospektive Kohortenstudie zeigte eine erhöhte Suizidrate.12

Prognose

  • Keine generelle Prognose möglich
  • Weniger als 10 % erreichen eine volle Remission.
  • Bis zu 20 % der zunächst erfolgreich Behandelten erleben im weiteren Verlauf eine erneute Zunahme ihrer Beschwerden.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

DEGAM-Leitlinie Müdigkeit

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Müdigkeit. AWMF-Leitlinie Nr. 053-002. S3, Stand 2022. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Müdigkeit. DEGAM-Leitlinie Nr. 2 und AWMF-Leitlinie Nr. 053-002. S3. Stand 2022. www.degam.de
  2. Institute of Medicine. Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness. National Academies Press 2015. pmid:25695122 PubMed
  3. Nijhof SL, Maijer K, Bleijenberg G, Uiterwaal CSPM, Kimpen JLL, van de Putte EM. Adolescent Chronic Fatigue Syndrome: Prevalence, Incidence, and Morbidity. Pediatrics 2011; 127:e1169-75. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Baraniuk JN. Myalgic encephalomyelitis (Chronic fatigue syndrome). BMJ Best Practice. Last reviewed: 1 Jan 2023; last updated: 19 Jan 2022. bestpractice.bmj.com
  5. Nacul LC, Lacerda EM, Pheby D et al. Prevalence of myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS) in three regions of England: a repeated cross-sectional study in primary care. BMC Med 2011; 9(1): 91. bmcmedicine.biomedcentral.com
  6. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2023. Stand 06.12.2022 www.dimdi.de
  7. Collin SM, Nuevo R, van de Putte EM, Nijhof SL, Crawley E. Chronic fatigue syndrome (CFS) or myalgic encephalomyelitis (ME) is different in children compared to in adults: a study of UK and Dutch clinical cohorts. BMJ Open 2015; 5:e008830. bmjopen.bmj.com
  8. Diehl RR. Posturales Tachykardiesyndrom: In Deutschland bislang zu selten diagnostiziert. Deutsches Ärzteblatt 2003; 100(43):A 2794–2801. cms.deximed.de
  9. Ingman T, Smakowski A, Goldsmith K, et al. A systematic literature review of randomized controlled trials evaluating prognosis following treatment for adults with chronic fatigue syndrome. Psychol Med 2022; 52: 2917-29. PMID: 36059125 PubMed
  10. Nijhof SL, Bleienberg G, Uiterwaal CSPM, et al. Effectiveness of internet-based cognitive behavioural treatment for adolescents with chronic fatigue syndrome (FITNET): a randomised controlled trial. Lancet 2012; 379: 1412-18. PubMed
  11. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS): aktueller Kenntnisstand; Vorbericht [online]. 2022 [Zugriff: 3.11.2022]. www.iqwig.de
  12. Roberts E, Wessely S, Chalder T, Chang CK, Hotopf M. Mortality of people with chronic fatigue syndrome: a retrospective cohort study in England and Wales from the South London and Maudsley NHS Foundation Trust Biomedical Research Centre (SLaM BRC) Clinical Record Interactive Search (CRIS) Register. Lancet 2016; 387: 1638-43. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Erika Baum, Prof. Dr. med., Professorin für Allgemeinmedizin, Biebertal (DEGAM-Review)
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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