Zusammenfassung
- Definition:Periphere Neuropathien sind Erkrankungen der motorischen, sensiblen oder autonomen Nerven außerhalb des ZNS. Bei generalisierten Erkrankungen als häufigster Manifestation spricht man von Polyneuropathien.
- Häufigkeit: Häufige Erkrankungen mit 2,4 % in der Allgemeinbevölkerung und 8 % bei Menschen über 55 Jahren.
- Symptome: Je nach Art der Neuropathie in unterschiedlicher Ausprägung und Kombination: Sensibilitätsstörungen, Schmerzen, Muskelschwäche und autonome Symptome.
- Befunde: Reflexminderung, Pallhypästhesie, Anästhesie, Analgesie, Paresen, Folgen autonomer Störungen.
- Diagnostik: Neben Anamnese und Befund beruht die Diagnose auf neurophysiologischer Untersuchung und Laboruntersuchungen. Im Einzelfall Nervenbiopsie, Liquordiagnostik, genetische Untersuchung.
- Therapie: Behandlung der Grunderkrankung; medikamentöse Behandlung neuropathischer Schmerzen; unterstützende Therapie (Physiotherapie, passendes Schuhwerk, Orthesen).
Allgemeine Informationen
Definition
- Periphere Neuropathien sind Erkrankungen der motorischen, sensiblen oder autonomen Nerven außerhalb des ZNS.1
- Bei generalisierten Erkrankungen als häufigster Manifestation spricht man von Polyneuropathien.
- Die klinische Diagnose beruht auf Anamnese und Beschwerdeschilderung sowie dem klinischen Befund.2
Häufigkeit
- Prävalenz
- Ursachen
- häufigste Ursache: Diabetes mellitus5
- Aufgrund der Zunahme von Diabeteserkrankungen ist mit einer Zunahme diabetesbedingter Polyneuropathien zu rechnen.6
- In einigen Teilen der Welt ist Lepra noch immer eine häufige Ursache.
- häufigste Ursache: Diabetes mellitus5
Ätiologie und Pathogenese
- Es gibt zahlreiche Ursachen für periphere Neuropathien.7
- systemische Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Vaskulitiden)
- toxische Substanzen (z. B. Alkohol)
- Medikamente (z. B. Statine)8
- Infektionen (z. B. HIV)
- hereditäre Erkrankungen (z. B. hereditäre motorisch-sensible Neuropathie, HMSN I und II)
- Die Pathogenese ist häufig noch ungeklärt. Funktionelle und strukturelle Beeinträchtigung der sensiblen, motorischen und autonomen Nervenfasern durch metabolische, toxische, immunologische, mikrozirkulatorische oder hereditär-degenerative Schädigungen.
Prädisponierende Faktoren
- Alkoholmissbrauch und Exposition gegenüber bestimmten Toxinen, berufliche Exposition (siehe Artikel Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle)
- Diabetes
- Vitamin-B12-Mangel
- Schilddrüsenerkrankungen
- Rheumatologische Erkrankungen
- Krebs
Klassifizierung
Nach dem Verteilungsmuster
- Mononeuropathie
- Multiple Mononeuropathie (Mononeuropathia multiplex)
- Distal symmetrische Polyneuropathie
- Polyradikuloneuropathie
Mononeuropathie1
- Fokale Läsion eines einzelnen peripheren Nervs
- Häufigste Ursachen sind:
- Trauma
- fokale Kompression
- Einklemmung.
- Die häufigsten Mononeuropathien sind:
- Eine neurophysiologische Untersuchung ist für die genaue Diagnostik unverzichtbar.
Multiple Mononeuropathie (Mononeuropathia multiplex)1
- Beeinträchtigung mehrerer einzelner peripherer Nerven
- simultan oder
- seriell
- Zufälliges, multifokales Verteilungsmuster
- Häufig schnelle Entwicklung
- Bei zahlreichen einzelnen Nervenläsionen ist im Einzelfall eine Abgrenzung zur distalen, symmetrischen Polyneuropathie schwierig.
- Häufig gleichzeitiges Vorliegen einer Vaskulitis
- Kann auf die peripheren Nerven begrenzt sein10 – oder –
- systemisch mit Assoziation zu:
- Evtl. Biopsie von Nervus suralis oder Nervus fibularis superficialis zum Ausschluss/Nachweis einer Vaskulitis11
Distal symmetrische Polyneuropathie1
- Häufigste Form der peripheren Neuropathien
- Verursacht durch zahlreiche systemische Erkrankungen, metabolische Veränderungen oder toxische Einflüsse
- Prototyp diabetische Polyneuropathie
- Alkohol ist ein weiterer häufiger Auslöser.
- Die Nervenfasern sind in Abhängigkeit zum Abstand vom Nervenzellkörper betroffen.
- je weiter distal desto früher und stärker betroffen
- Klinisch treten somit häufig zuerst Symptome im Bereich von Zehen und Füßen auf.
- Taubheitsgefühl
- Parästhesien
- Dysästhesien
- Mit Fortschreiten der Erkrankung zentripetale Ausbreitung der Symptome
- Bei Erreichen der oberen Schienbeine Symptombeginn häufig auch in den Fingerspitzen
- Möglicherweise Schwäche der Dorsalextention der Füße
- Fersenstand erschwert
- Zehenstand zumeist unbeeinträchtigt
- Bei fortgeschrittener Erkrankung Gangunsicherheit durch:
- beeinträchtigte Propiozeption
- Schwäche der Extensoren.
- Bei Erreichen der Oberschenkel und oberen Unterarme Symtombeginn auch im unteren Abdomen möglich
- in diesem fortgeschrittenen Stadium meist auch:
- keine Reflexe mehr auslösbar
- kein freies Gehen mehr möglich.
- in diesem fortgeschrittenen Stadium meist auch:
Polyradikuloneuropathie
- Proximaler und distaler Befall der Extremitäten
- auch Rumpf- oder Hirnnervenbeteiligung möglich2
- In der Regel sind Schwann- und Myelinscheiden betroffen.2
- Chronisch-entzündliche demyelinisierende Polyradikuloneuropathie ist die häufigste Form.
Nach dem zeitlichen Verlauf
Akute Polyneuropathie (Höhepunkt < 4 Wochen)
- Selten, aber wichtig mit Guillain-Barré-Syndrom als typischem Vertreter
- akute entzündliche, demyelinisierende Polyradikuloneuropathie durch meistens Autoimmunreaktion gegen Schwann-Zellen oder Myelin12
- einige Fälle durch akute axonale Neuropathie12
- Aufsteigende Paresen, die auch die Atemmuskulatur mit einbeziehen können.
- Rasche Diagnose und Behandlung sind entscheidend zur Verhinderung einer respiratorischen Insuffizienz.1
- Andere seltene Ursachen
- Porphyrie, Diphtherie, FSME, Borreliose, Vaskulitis, bestimmte Medikamente, Toxine (Lösemittel, Schwermetalle etc.), paraneoplastische Neuropathie, Critical-Illness-Polyneuropathie, HIV
Subakute Polyneuropathie (Höhepunkt 4–8 Wochen)
- Zum Beispiel chronisch-entzündliche demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)2
Chronische Polyneuropathie (Entstehung > 8 Wochen)
- Häufigste Form der Polyneuropathie
- Entwicklung über Monate und Jahre
- Prototyp ist die chronische sensorische und motorische Polyneuropathie bei Diabetes mellitus.1
- Häufigste Ursachen für eine chronische, axonale Neuropathie:3
- Diabetes mellitus
- Alkohol
- Urämie
- Leberzirrhose
- Amyloidose bei Myelom
- Myxödem
- Akromegalie
- Toxine
- Acrylamid
- Arsen
- Blei
- Quecksilber
- u. v. a.
- Medikamente
- Adriamycin
- Amiodaron
- Metronidazol
- Phenytoin
- u. v. a.
- Mangelerkrankungen
- Vitamin B1 (Thiamin)
- Vitamin B6 (Pyridoxin)
- Vitamin B12
- Vitamin E
- Paraneoplastisch
- infektiös
- hereditär
- idiopathisch
Nach Art der Störung (sensorisch, motorisch, autonom)
- Das neurologische Defizit kann auftreten:3
- rein oder überwiegend sensorisch
- z. B. diabetische distale symmetrische Polyneuropathie
- rein motorisch
- z. B. akute motorische axonale Neuropathie (seltenere Ausprägung des Guillain-Barré-Syndroms)
- motorisch und sensorisch
- z. B. HMSN I (hereditäre motorisch-sensible Neuropathie Typ I), auch als Charcot-Marie-Tooth-Krankheit bezeichnet
- autonom
- Einbezug des autonomen Systems häufig bei einigen Polyneuropathien
- rein autonome Polyneuropathien selten
- rein oder überwiegend sensorisch
Nach zugrunde liegender Pathologie (axonal, demyelinisierend)
Chronische axonale Polyneuropathie
- Häufigste Form der Polyneuropathie mit zahlreichen möglichen Ursachen (siehe Abschnitt Chronische Polyneuropathie)
- Häufigste Ursache ist Diabetes mellitus.
- Auch einige seltene erblich bedingte Neuropathien, insbesondere die axonale Variante der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit, zeigen dieses Muster.14
Chronisch demyelinisierende Polyneuropathie
- Kann familiär oder erworben auftreten.2
- Differenzierung durch neurophysiologische Untersuchung
- Eine gleichmäßige, symmetrische Verlangsamung der Nervenleitung weist in der Regel auf eine genetisch bedingte Neuropathie hin.
- Eine multifokale Verlangsamung der Nervenleitung und Nervenleitungsblockade weist auf erworbene Erkrankung hin.
- Erblich bedingte, demyelinisierende Polyneuropathien meistens Varianten der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit
- Erworbene demyelinisierende Neuropathien sind eine heterogene Gruppe aus zumeist immunologisch vermittelten Neuropathien.
Small-Fiber-Neuropathie
- Die meisten Polyneuropathien betreffen sowohl große als auch kleine Fasern.1
- Bei einer kleinen Gruppe von Patienten sind nur die kleinen Fasern betroffen.3
- Kleine Fasern vermitteln Schmerz- und Temperaturempfinden sowie autonome Funktionen.
ICPC-2
- N94 Periphere Neuritis/Neuropathie
ICD-10
- G61 Polyneuritis
- G61.0 Guillain-Barré-Syndrom
- G61.1 Serumpolyneuropathie
- G61.8 Sonstige Polyneuritiden
- G61.9 Polyneuritis, nicht näher bezeichnet
- G62 Sonstige Polyneuropathien
- G62.0 Arzneimittelinduzierte Polyneuropathie
- G62.1 Alkohol-Polyneuropathie
- G62.2 Polyneuropathie durch sonstige toxische Agenzien
- G62.8 Sonstige näher bezeichnete Polyneuropathien
- G62.9 Polyneuropathie, nicht näher bezeichnet
- G63 Polyneuropathie bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- G63.0 Polyneuropathie bei anderenorts klassifizierten infektiösen und parasitären Krankheiten
- A69.2 Lyme-Krankheit
- Diphtherie (A36.8)
- Mumps (B 26.8)
- Lepra/Hansen-Krankheit (A30)
- Mononukleose (B27)
- Symptomatische Neurosyphilis (A52.1)
- Spätauftretende angeborenen Neurosyphilis [Juvenile Neurosyphilis] (A50.4)
- Tuberkulöse Meningitis (A17.8)
- Postherpetische Polyneuropathie (B02.2)
- G63.1 Polyneuropathie bei Neubildungen (C00–D48)
- G63.2 Diabetische Polyneuropathie
- G63.3 Polyneuropathie bei sonstigen endokrinen und Stoffwechselkrankheiten
- G63.4 Polyneuropathie bei alimentären Mangelzuständen
- G63.5 Polyneuropathie bei Systemkrankheiten des Bindegewebes
- G63.6 Polyneuropathie bei sonstigen Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems
- G63.8 Polyneuropathie bei sonstigen anderenorts klassifizierten Krankheiten
- Urämische Neuropathie (N18.8)
- G63.0 Polyneuropathie bei anderenorts klassifizierten infektiösen und parasitären Krankheiten
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Leitlinie: Diagnostik bei Polyneuropathien2
- Die klinische Diagnose beruht auf:
- Anamnese und Beschwerdeschilderung der Patienten
- dem klinischen Befund.
- Neurophysiologische Untersuchung als Ergänzung für:
- Nachweis einer generalisierten Schädigung
- Bestimmung des Verteilungstyps
- Erfassung einer subklinischen Mitbeteiligung des sensiblen Systems bei vorwiegend motorischer Neuropathie und umgekehrt
- Unterscheidung zwischen axonaler und demyelinisierender Polyneuropathie.
- Vorgehen zur Abklärung von Polyneuropathien
- obligat
- Anamnese
- klinische Untersuchung
- Elektrophysiologie
- Standardlabor
- fakultativ
- erweitertes Labor
- Liquoranalytik
- Muskel-/Nerv-/Hautbiopsie
- Genetik
- bildgebende Diagnostik (Sonografie, MRT)
- obligat
Differenzialdiagnosen
- Stoffwechselstörungen oder endokrine Erkrankungen (es können sensorische Symptome ohne nachweisbare Nervenschäden auftreten)
- Willis-Ekbom-Krankheit (frühere Bezeichnung Restless Legs, RLS)
- Multiple Sklerose (MS)
Beschwerdebild
- Das klinische Bild variiert individuell erheblich.
- Die Patienten leiden unter verschiedenen Kombinationen aus Empfindungsstörungen, Schmerzen, Muskelschwäche und Atrophie sowie vegetativen Symptomen.
Sensible Reiz- und Ausfallserscheinungen2
- Kribbeln
- Ameisenlaufen
- Wärme- und Kälteparästhesien
- Stechen
- Elektrisieren
- Glühend-brennende Schmerzen spontan und/oder bereits bei leichtester Berührung z. B. durch Kleidung
- Juckreiz
- Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle
- Gefühl des Eingeschnürtseins
- Schwellungsgefühle
- Gefühl des unangenehmen Drucks
- Gefühl, wie auf Watte zu gehen.
- Gangunsicherheit insbesondere bei Dunkelheit
- Verminderte bis hin zu aufgehobenen Temperaturempfindungen
- Schmerzlose Wunden
Motorische Reiz- und Ausfallerscheinungen2
- Muskelzucken (Faszikulationen)
- Muskelkrämpfe
- Muskelschwäche
- Nachlassende Ausdauer als erstes Symptom einer Muskelschwäche
- Muskelatrophie
- Frühes Zeichen: Parese der Zehenspreizung, Atrophie der kurzen Zehenextensoren
- Myalgien
Autonome Ausfallerscheinungen – efferente autonome Denervierung2
- Somatische Nerven
- Pupillenstörungen
- trophische Störungen: Ödem, Ulkus am Fuß, Osteoarthropathie Hypo-/Anhidrosis
- vasomotorische Störungen: orthostatische Hypotonie, Rubeosis plantarum
- Viszerale Nerven
- kardiovaskulär: Ruhetachykardie, Frequenzstarre
- gastrointestinal: Ösophagusdystonie mit Schluckbeschwerden, Gastroparese mit Dyspepsie, Diarrhö, Obstipation, Cholezystopathie
- Leber: Abnahme der Glukoseaufnahme und Glykogensynthese
- exokrines Pankreas: Ausfall der reflektorischen Sekretion
- urogenital: Blasenentleerungsstörung, erektile Dysfunktion
Autonome Ausfallerscheinungen – afferente autonome Denervierung
- Fehlender Schmerz bei Koronarischämie
- Fehlende vegetative Reaktion bei Hypoglykämie
- Fehlendes Gefühl für die Blasenfüllung mit reduziertem Harndrang
- Fehlender Hodendruckschmerz
- Fehlender Wehenschmerz
Anamnese
Dauer der Beschwerden2
- ≤ 4 Wochen: akut
- 4–8 Wochen: subakut
- > 8 Wochen: chronisch
Funktionsstörungen2
- Häufiges Stolpern (distale Schwäche)?
- Schwierigkeiten beim Treppensteigen, beim Aufstehen aus tiefen Sesseln
oder aus der Hocke (proximale Schwäche)? - Feinmotorischen Einschränkungen der Hände/Finger?
- Sportliche Fähigkeiten als Kind, Probleme beim Schuhkauf (hereditäre PNP)?
Eigenanamnese2
- Diabetes mellitus
- Nierenerkrankung
- Kollagenose
- Maligne Erkrankungen
- Operation (als Trigger für Plexusneuritis)
- Ursachen für Vitamin-B12-Mangel (z. B. bariatrische Operation)
- Infektionen in kurz zurückliegendem Zeitraum
- Impfungen in kurz zurückliegendem Zeitraum (z. B. PNP nach Tetanusimpfung)
- Medikamente
- neben den klassischen PNP-induzierenden Medikamenten in den letzten Jahren Beschreibung bei zusätzlichen Substanzen, z. B.:
- Statine selten nach langer Anwendung
- Linozelid nach längerer Anwendung
- Rituximab
- TNF-alpha-Blocker
- Immun-Checkpoint-Inhibitoren.
- neben den klassischen PNP-induzierenden Medikamenten in den letzten Jahren Beschreibung bei zusätzlichen Substanzen, z. B.:
- Drogen
- Toxine
Systemanamnese/vegetative Anamnese
- Vermindertes Schwitzen an Extremitäten
- Störungen bei Stuhlgang und Wasserlassen
- Erektile Dysfunktion
- Orthostatische Intoleranz/Synkopen
- Gelenkbeschwerden
- Hautveränderungen
Klinische Untersuchung
Allgemeine Untersuchung
- Untersuchung auf Hinweise für Begleiterkrankungen, die für periphere Neuropathie ursächlich sein können.
Neurologische Untersuchung2
- Reflexe
- abgeschwächte Muskeleigenreflexe (v. a. Achillessehnenreflex)
- Sensibilitätsstörungen (Large-Fiber-Neuropathie)
- socken-, strumpf- oder handschuhförmige Störung der taktilen Ästhesie/Algesie
- Pallhypästhesie
- Untersuchung mit Stimmgabel nach Rydel und Seiffer (128 Hz) – Normalbefund ist:5
- bis 6/8 bis zum 50. LJ
- bis 5/8 nach dem 50. LJ.
- Graphhyp/-anästhesie
- Störung des Lageempfindens
- Romberg-Test pathologisch
- Seiltänzergang pathologisch
- Sensibilitätsstörungen (Small-Fiber-Neuropathie)
- Termhyp/-anästhesie
- Hypalgesie/Analgesie
- Motorische Störungen
- schlaffe Paresen: Fuß-/Zehenheber meist früher betroffen
- Faszikulationen
- Beteiligung des autonomen Nervensystems
- Hauttrockenheit
- orthostatische Hypotonie
- Pupillenreaktion
- Beteiligung von Hirnnerven
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Blutuntersuchung
- Wichtige Rolle von Blutuntersuchungen bei der ätiologischen Abklärung
- Verwendung von großen „Testbatterien“ für alle Arten der Polyneuropathie sind allerdings nicht zweckmäßig.
- Zunächst Basisdiagnostik im Hinblick auf häufige Ursachen
- In Abhängigkeit vom klinischen und evtl. neurophysiologischem Befund weitere Untersuchungen
Leitlinie: Diagnostik bei Polyneuropathien – Empfehlungen für die Standarduntersuchung2
- Basisdiagnostik
- Abklärung Diabetes mellitus
- Nüchternblutzucker
- HbA1c
- oraler Glukosetoleranztest
- Abklärung Alkoholmissbrauch
- Transaminasen
- MCV
- Vitamin B1, B6, B12
- CDT
- Abklärung funikuläre Myelose
- Am sensitivsten bei leichter bis mittelschwerer symmetrischer distaler Polyneuropathie ist ein Screening auf:15
- Diabetes
- Vitamin-B12-Mangel
- höhere Sensitivität bei zusätzlicher Bestimmung von Methylmalonsäure15-16
- monoklonale Gammopathie (Immunfixation)
- Bis zu 10 % der peripheren Neuropathien sind mit Dysproteinämie assoziiert.15
Diagnostik beim Spezialisten
Neurophysiologische Untersuchungen
- Neurografie (ENG) und Elektromyografie (EMG) tragen entscheidend zur Abklärung der Ursache bei.
- Neurografie dient der Analyse eines vom Nerv abgeleiteten elektrischen Signals hinsichtlich:7
- Form
- Amplitude
- Latenz
- Leitungsgeschwindigkeit.
- Elektromyographie erfasst u. a.:7
- Charakteristika der Aktionspotenziale motorischer Einheiten (MUAP) bei Willkürinnervation
- pathologische Sponatanaktivität (Zeichen akuter peripherer Schädigung).
- Neurophysiologische Untersuchungen nützlich zur Bestimmung von:5
- Verteilungstyp (symmetrisch/asymmetrisch)
- Schädigungstyp (axonal/demyelinisierend)
- speziellen Schädigungsmustern (z. B. Leitungsblock)
- Ausmaß der Muskelschädigung („Denervierung“)
- Neurophysiologisch Untersuchung nur bei langen Nervenfasern anwendbar
- Small-Fiber-Neuropathie nicht erfassbar
Axonale Schädigung2
- Neurografie
- nur leichte Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit (max. 30 %)
- gleichmäßige Reduktion der Amplituden der CMAP (motorische Summenaktionspotentiale) bei proximaler und distaler Stimulation
- Reduktion der sensiblen Aktionspotenziale
- Elektromyografie
- akuter Schaden
- pathologische Spontanaktivität
- chronischer Schaden
- Erhöhung von Potenzialdauer, Potenzialamplitude und Phasenanzahl
- Satellitenpotenziale und Faszikulationen nachweisbar
- komplex-repetetive Entladungen
- akuter Schaden
Demyelinisierende Schädigung2
- Neurografie
- deutlich reduzierte Nervenleitgeschwindigkeit
- distale Latenz verlängert
- Elektromyografie
- erniedrigte CMAP-Amplitude, verlängerte CMAP-Dauer bei proximaler Stimulation
Spezielle Laboruntersuchungen
- Bei entsprechender Verdachtsdiagnose empfehlen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie erweiterte Laboruntersuchungen im Hinblick auf die betreffende(n) Erkrankung(en)2
- Funikuläre Myelose
- ergänzend zu Vitamin-B12- und Methylmalonsäure-Bestimmung von Holo-Transcobalamin, Parietalzellantikörper, Antkörper gegen Intrinsic factor
- Malresorption/Malabsorption
- Vaskulitis
- Rheumafaktor, ANA, p-ANCA, c-ANCA, C3, C4, C3d, zirkulierende Immunkomplexe, Kryoglobuline, Hepatitisserologie, HIV-Serologie, Borrelienserologie, Eosinophilie
- Neuroborreliose
- Anti-Borrelien-Antikörpertiter in Serum und Liquor einschließlich Antikörperspezifitäts-Index (ASI)
- Andere Erreger
- Serologie auf Mykoplasmen, HIV, EBV, CMV, Varizellen; Toxinnachweis bei C. diphteriae
- Kryoglobulinämie
- Kryoglobuline
- Paraproteinämie
- Immunelektrophorese, Immunfixation, Bence-Jones-Proteine, Anti-MAG-Antikörper bei IgM-Paraproteinämie, selten Anti-NF155, Anti-LM1
- Sarkoidose
- ACE im Serum und Liquor
- löslicher IL2-Rezeptor im Serum und Liquor
- Multifokale motorische Neuropathie
- deutlich erhöhte IgMy-Anti-GM1-Antikörper im Serum (in ca. 50 % der Fälle), GalNAc-GD1a
- Akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP)/Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
- Campylobacter jejuni, CMV-AK, Gangliosid-AK, Hepatitis B-/C-/D-/E-, HIV-Serologie
- Bei entsprechender Reiseanamnese evtl. Serologie auf Zika-Virus, der in den letzten Jahren zunehmend als Verursacher beschrieben wurde.
- Malignom
- Hämocculttest, Anti-HU-AK, Anti-CV2/CRMP-5-AK, Anti-ganglionic-acetylcholine- Rezeptor-Antikörper (autonome Neuropathie), Immunelektrophorese
- Hypoparathyreoidismus
- Akute intermittierende Porphyrie
- Deltaaminolävulinsäure, Porphobilinogen
- Intoxikation
- 24-Stunden-Urin auf Blei, Arsen, Thallium, Quecksilber
- Morbus Refsum
- Phytan
- Fokale Hirnnervenausfälle
- Anti-GM2
- Chronisch inflammatorische demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP)
- Anti-GM1-IgM, Anti-GM2-IgM, Anti-aSF-IgM, Anti-GAAb-IgM, Anti-NF155 Anti-NF186, Anti-CNTN1, Anti-CASPR1
- Motorische Neuropathien mit spontaner Überaktivität peripherer Nerven
- Anti-CASPR2
- Miller-Fisher-Syndrom
- Anti-GQ1b, Anti-GT1a
- Nodo-/Paranodopathien
- NF155, NF186, CNTN1-Ak
Biopsie
- Nervenbiopsie
- In Erwägung ziehen, wenn7
- die Diagnose trotz Labor und elektrophysiologischer Untersuchung unklar ist.
- die Bestätigung der Diagnose vor einer aggressiven Therapie notwendig ist (z. B. bei Vaskulitis).
- indiziert bei V. a. behandelbare Neuropathie, sofern nicht anderweitig schon gesichert, z. B.:11,15
- Vaskulitis
- Sarkoidose
- Amyloidose
- CIDP.
- Durchführung/Beurteilung von Klinikern/Pathologen mit entsprechender Erfahrung1
- im Allgemeinen Biopsie des
- N. suralis
- alternativ N. peroneus superficialis
- In Erwägung ziehen, wenn7
- Hautbiopsie evtl. bei:
- V. a. Small-Fiber-Polyneuropathie
- V. a. Vaskulitis.
Liquoruntersuchung
- Im Einzelfall, speziell bei V. a. entzündliche Ursachen, kann eine Lumbalpunktion mit Liquoruntersuchung sinnvoll sein, z. B. bei2
- AIDP (akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie)/GBS (Guillain-Barré-Syndrom)
- CIDP (chronisch-entzündliche demyelinisierende Polyneuropathie)
- Neuroborreliose
- multifikale motorische Neuropathie (MMN)
Genetische Untersuchungen
- Eine genetische Untersuchung ist indiziert bei2
- positiver Familienanamnese für PNP
- Zeichen einer hereditären PNP (Hohlfuß, Krallenzehen, indolenter Verlauf, in der Regel junges Erkrankungsalter).
Indikationen zur Überweisung
- Bei milden Symptomen ist eine Überweisung in der Regel nicht erforderlich.
- Bei ausgeprägter und/oder rasch fortschreitender Polyneuropathie erfolgt eine Überweisung zur Neurologie.
Checkliste zur Überweisung
Polyneuropathie
- Zweck der Überweisung
- Diagnosesicherung? Therapie? Sonstiges?
- Anamnese
- Dauer und Verlauf? Progression?
- Empfindungsstörungen, Schmerzen, Muskelschwäche oder Atrophie? Asymmetrie? Autonome Symptome? Lokalisation? Schweregrad der Beschwerden?
- Frühere oder gleichzeitig auftretende, andere Beschwerden? Diabetes? Wurde kürzlich eine Infektionskrankheit durchgemacht? Erfolgte kürzlich eine Impfung? Derzeitige Medikamente? Exposition gegenüber Toxinen wiez. B. Alkohol, Schwermetalle oder organische Lösungsmittel?
- Ähnliche Beschwerden bei anderen Familienmitgliedern?
- Andere relevante Erkrankungen?
- Auswirkung der Krankheit auf die Lebensqualität? Arbeitsfähigkeit?
- Klinische Untersuchung
- Allgemeinzustand?
- Empfindungsstörungen? Motorische Ausfallerscheinungen? Distal-symmetrische Verteilung?
- Ergänzende Untersuchungen
- BSG, CRP, Blutbild, Blutzucker, Elektrolyte, Nierenwerte, Leberwerte, ggf. CDT, CK, Vitamin B12, Methylmalonsäure, Immunfixation, Bence-Jones-Proteine, TSH
Therapie
Therapieziele
- Kontrolle des verursachenden Prozesses
- Symptombehandlung (v. a. Schmerzen)
- Verhinderung neuropathiebedingter sekundärer Schäden (z. B. Hautschäden)
Allgemeines zur Therapie
Kontrolle des verursachenden Prozesses
- Durch die Kontrolle des verursachenden Prozesses möglichst Vermeidung einer Progression der Neuropathie, im Einzelfall Symptomverbesserung
- Dies umfasst:7
- Behandlung von Grunderkrankungen
- Absetzen auslösender Medikamente
- Vermeiden einer weiteren Exposition gegenüber Toxinen
- Ausgleich von Ernährungsdefiziten (z. B. Vitamine).
Spezifische Behandlung von immunvermittelten Neuropathien17
- Guillain-Barré-Syndrom
- intravenöse Immunglobuline oder Plasmapherese (gleichwertig in der Behandlung)
- CIDP (chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie)
- Therapeutische Optionen sind:
- Immuntherapie (beste Reihenfolge und Kombination unsicher)
- IVIG (intravenöse Immunglobuline)
- SClg (subkutane Immunglobuline)
- Kortikosteroide
- Optionen bei Unwirksamkeit der Immuntherapie
- Plasmapherese
- Immunsuppressiva (Cyclophosphamid, Azathioprin)
- autologe Stammzelltransplantation
- Immuntherapie (beste Reihenfolge und Kombination unsicher)
- Therapeutische Optionen sind:
- Paraproteinämische Neuropathien
- IgG oder IgA-Paraprotein: Behandlung wie CIDP
- IgM-Paraproteinämie: Bei schlechterem Ansprechen auf CIDP-Standardtherapie können intravenöse Immunglobuline, Plasmapherese, Rituximab oder Immunsuppressiva gegeben werden.
- Multifokale motorische Neuropathie
- intravenöse Immumglobuline für 2–5 Tage
- Paranodopathien
- Rituximab bei Nichtansprechen auf die Standardtherapie der CIDP
- Vaskulitische Neuropathie
- Kortikosteroide, evtl. Kombination mit Immunsuppresiva
Medikamentöse Behandlung neuropathischer Schmerzen18
- Siehe auch Artikel Neuropathische Schmerzen
- Vereinbarung realistischer Therapieziele18
- Schmerzreduktion um 30–50 %
- Verbesserung der Schlafqualität
- Verbesserung der Lebensqualität
- Erhaltung sozialer Aktivitäten
- Erhalt der Arbeitsfähigkeit
- Spezifische Art der Neuropathie ist bei der Medikamentenauswahl zu berücksichtigen.
- Manche Substanzen sind nur bei bestimmten Formen der Neuropathie empfohlen!
- Medikamente der Wahl bei der medikamentösen Therapie neuropathischer Schmerzen18
- trizyklische Antidepressiva
- SNRI (Serotonin-Adrenalin-Wiederaufnahmehemmer)
- Antikonvulsiva
- Capsaicin-Pflaster
- Lidocain-Pflaster
- bei starken Schmerzen evtl. Opioide
- Cannabinoide gehören bei chronisch-neuropathischen Schmerzen trotz einiger ermutigender Studienergebnisse (u. a. HIV, MS, gemischtes Kollektiv mit neuropathischen Schmerzen) nicht zu den Mitteln der Wahl18, bei diabetischer Neuropathie nicht empfohlen.13
- Einige empfohlene Substanzen und Dosierungen bei neuropathischen Schmerzen gemäß Leitlinien18
- Antidepressiva
- z. B. Amitryptilin (trizyklisch)
- Startdosis: 10–25 mg
- wirksame Dosis: 50–75 mg/Tag
- z. B. Duloxetin (SNRI)
- Startdosis: 30 mg
- wirksame Dosis: 60 mg/Tag
- Antikonvulsiva
- Gabapentin
- Startdosis: 300 mg
- wirksame Dosis: 1.200–2.400mg/Tag (3.600 mg/Tag)
- Pregabalin
- Startdosis: 50–75 mg
- wirksame Dosis: 150–250 mg/Tag (600 mg/Tag)
- Gabapentin
- Opioide
- z. B. Tramadol
- Startdosis: 50–100 mg retard
- wirksame Dosis:Titration (600 mg/Tag)
- z. B. Oxycodon
- Startdosis: 10–20 mg retard
- wirksame Dosis: Titration
- z. B. Tramadol
- Topische Therapie
- Lidocain-Pflaster
- Startdosis: 1 x tgl., mind. 12 Stunden Pause
- wirksame Dosis: bis 3 Pflaster täglich
- Capsaicin-Hochdosis-Pflaster
- Startdosis: 1 x 30 min bzw. 60 min, mindestens 90 Tage Pause!
- wirksame Dosis: bis 4 Pflaster einmalig
Capsaicin-Salbe (0,025–0,075 %)
- Startdosis: 3- bis 4-mal/Tag
- wirksame Dosis: 3- bis 4-mal/Tag
- Lidocain-Pflaster
Weitere Therapien
- Behandlung von motorischen Ausfallerscheinungen durch Physiotherapie und Hilfsmittel (z. B. Orthesen)
- Anpassung von individuellen Einlagen, angemessenes Schuhwerk
- Maßnahmen zum Schutz vor Hautläsionen, Fußpflege
- Physiotherapie in Form von:
- Bewegungs- und Gleichgewichtsübungen
- Training von muskulärer Ausdauer und Kraft.
Empfehlungen für Patienten
- Körperliche Betätigung
- Sorgsame Haut- und Fußpflege
- Alkoholkonsum reduzieren.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Prognose
- Häufig allmähliche Progredienz
- Im Einzelfall Besserung bei erfolgreicher Therapie der Grunderkrankung bzw. Eliminierung von Auslösern (siehe auch Artikel Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle)
Verlaufskontrolle
- Richtlinien zur Verlaufskontrolle bei diabetischer Polyneuropathie als häufigster Form13
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Weitere Informationen
- Siehe Artikel Beurteilung der Fahreignung.
Video
- TrainAMed Fußuntersuchung bei Diabetes mellitus (Universität Freiburg)
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik bei Polyneuropathien. AWMF-Leitlinie 030-067. S1, Stand 2019. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Therapie akuter und chronischer immunvermittelter Neuropathien und Neuritiden. AWMF-Leitlinie 030-130. S2e, Stand 2018. www.awmf.org
- NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter. AWMF-Leitlie nvl-001e. S3, Stand 2016. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Chronische neuropathische Schmerzen, Pharmakologische nicht-interventionelle Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 030-114. S2k, Stand 2012. www.awmf.org
Literatur
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- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Therapie akuter und chronischer immunvermittelter Neuropathien und Neuritiden. AWMF-Leitlinie 030-130, Stand 2018. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Chronische neuropathische Schmerzen, Pharmakologische nicht-interventionelle Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 030-114, Stand 2012. www.awmf.org
Autoren
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, Institutt for samfunnsmedisinske fag, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet, Trondheim