Nächtliche Wadenkrämpfe

Zusammenfassung

  • Definition:Nächtliche schmerzhafte und unwillkürliche Kontraktion der Wadenmuskulatur.
  • Häufigkeit:In Deutschland sind etwa 2,8 Mio. Menschen regelmäßig von nächtlichen Wadenkrämpfen betroffen, deutliche Zunahme mit dem Alter.
  • Symptome:Plötzlich auftretende, häufig sehr schmerzhafte Verhärtung der Wadenmuskulatur.
  • Befunde:Keine spezifischen klinischen Befunde.
  • Diagnostik:Basisdiagnostik mit Medikamentenanamnese, neurologischer Untersuchung und Laboruntersuchung.
  • Therapie:Dehnung der Wadenmuskulatur ist die Maßnahme der Wahl, sowohl zur Prävention als auch zur Akuttherapie bei Krampf. Medikamentöser Therapieversuch mit Magnesium wegen geringer Nebenwirkungen möglich, jedoch fragliche Wirksamkeit. Bei sehr schwerer Symptomatik Chinin wirksam, aber mit potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Nächtliche schmerzhafte und unwillkürliche Kontraktion der Wadenmuskulatur, die mit einer tastbaren Verhärtung einhergeht.1
  • Symptomatische Wadenkrämpfe treten als Symptom einer zugrunde liegenden Grunderkrankung auf (siehe Abschnitt Prädisponierende Faktoren).

Häufigkeit

  • Prävalenz von nächtlichen Wadenkrämpfen
    • In Deutschland sind ca. 2,8 Mio. Menschen regelmäßig betroffen.2
    • Die Häufigkeit nimmt mit dem Alter zu.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Der gewöhnliche Muskelkrampf tritt ohne erkennbare Ursache auf.1
  • Cave: Als Ursache vermutet werden von Patient*innen häufig Überanstrengung, Elektrolytverschiebungen und eine zu geringe Trinkmenge.3
    • Es gibt jedoch keine wissenschaftliche Evidenz für die prophylaktische oder therapeutische Supplementierung mit Elektrolyten oder eine erhöhte Flüssigkeitszufuhr über das normale Maß (ca. 2  l pro Tag) hinaus.
  • Ein gehäuftes Auftreten findet sich bei u. g. prädisponierenden Faktoren. In diesen Fällen spricht man von einem symptomatischen Wadenkrampf.

Prädisponierende Faktoren

  • Prädisponierende Faktoren gemäß der Leitlinie der DGN1
  • Körperliche Arbeit oder sportliche Belastung, insbesondere unter Hitzebelastung (starkes Schwitzen, Salzverlust)
  • Schwangerschaft
  • Hypovolämie, hypotone Dehydratation (Hyponatriämie) und unter Hämodialyse
  • Erkrankungen des 2. Motoneurons (z. B. Mono- und Polyneuropathien, radikuläre Läsionen, amyotrophe Lateralsklerose)
  • Endokrine Erkrankungen (Schilddrüsenfunktionsstörung, Hypoparathyreoidismus, Morbus Addison)
  • Leberzirrhose
  • Medikamente
    • Betasympathomimetika
    • Betarezeptorenblocker mit partiell agonistischer Aktivität
    • Cholinergika/Azetylcholinesterasehemmer
    • Kalziumantagonisten
    • Statine und Clofibrinsäurederivate
    • Diuretika
  • Hereditäre Belastung (sehr selten)
  • Alkoholkonsum
    • Bei Personen > 60 Jahre leiden Patient*innen, die mindestens 1 alkoholisches Getränk pro Woche zu sich nehmen, 6,5-mal häufiger an nächtlichen Wadenkrämpfen als abstinente Patient*innen.4

ICPC-2

  • L14a Unterschenkelsympt./-beschwerden

ICD-10

  • R25.2 Krämpfe und Spasmen der Muskulatur

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose wird auf Grundlage der typischen Anamnese gestellt.
  • Behebbare Ursachen oder bislang unbekannte, auslösende Grunderkrankung sollen ausgeschlossen werden.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Klassische Symptomatik
    • plötzlich auftretende, häufig sehr schmerzhafte Kontraktionen der Wadenmuskulatur in der Nacht
    • am häufigsten im Fuß, Unterschenkel oder Oberschenkel lokalisiert
    • Dauer von Sekunden bis mehreren Minuten
    • Linderung durch Dehnung
  • Anamnese der Provokationssituation1
  • Familienanamnese1
  • Medikamentenanamnese1

Körperliche Untersuchung

  • Den neurologischen Status der betroffenen Extremität erheben, um schmerzhafte Muskelkontraktionen anderer Genese auszuschließen (z. B. Dystonien oder dauerhafte spastische Tonuserhöhungen).1

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Zur Basisdiagnostik gehört gemäß der Leitlinie der DGN Blutuntersuchung mit:1
    • Elektrolytwerten inklusive Kalzium und Magnesium
    • Nieren- und Leberwerten
    • Blutzucker
    • Schilddrüsenhormonen
    • Kreatinkinase.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Bei Hinweisen auf symptomatische Muskelkrämpfe oder schmerzhafte Muskelkontraktionen anderer Genese schließen sich entsprechende Untersuchungen an, z. B.:1
    • Blutuntersuchungen: Kortisol und Aldosteron, Serumlaktat, Autoantikörper gegen neuronale Bestandteile
    • elektrophysiologische Untersuchungen: Elektromyografie (spontane Entladungen von Muskelaktionspotenzialen, ganz überwiegend im Frequenzbereich von 40–75 Hz), Neurografie
    • Funktionsuntersuchungen: Ischämie-Arbeitstest, dopplersonografische Untersuchung der arteriellen Beindurchblutung

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf symptomatische Muskelkrämpfe
  • Bei nicht beherrschbaren Muskelkrämpfen mit starker Störung der Nachtruhe

Therapie

Therapieziele

  • Anfallshäufigkeit und Schwere der nächtlichen Wadenkrämpfe reduzieren.

Allgemeines zur Therapie

  • Dehnübungen sind sowohl in der Prävention als auch in der Akutbehandlung die Maßnahme der 1. Wahl.1
  • Pharmakologische Therapieversuche umfassen Magnesium und in 2. Linie, wegen möglicher schwerer Nebenwirkungen, Chinin.1
  • Ggf. Behandlung der Grunderkrankung oder Auslassversuch von potenziell auslösenden Medikamenten

Nichtmedikamentöse Therapien

  • Bei nächtlichen Wadenkrämpfen sollen regelmäßig Dehnübungen der Wadenmuskeln durchgeführt werden.1
    • Mehrmals am Tag wiederholtes Vorbeugen des Körpers im Stand unter Erhalt des Bodenkontakts der Fersen.
    • Bei Abstützung der Arme an einer ca. 1 m entfernten Wand kann die Übung auch von Älteren durchgeführt werden.
    • Beim statischen Dehnen sollten es mindestens 30 sec bei 4- bis 5-maliger Wiederholung pro Tag sein.3
    • Zusätzlich zum regelmäßigen Dehnen soll eine Kräftigung der antagonistischen Muskulatur erfolgen, um das erreichte Dehnergebnis muskulär zu sichern.3
  • Durch Wärme und Massieren lässt sich der Muskel zwar lockern, aber nicht dehnen. Solche Maßnahmen sind höchstens als Ergänzung geeignet.3

Medikamentöse Therapie

  • Die Gabe von Magnesium sollte aufgrund des günstigen Nebenwirkungsprofiles versucht werden, die Wirksamkeit ist aber nicht ausreichend belegt.1
  • Chinin ist wirksam, sollte wegen der (seltenen) schweren Nebenwirkungen aber erst in 2. Linie und nur bei schwerer Ausprägung der Krämpfe eingesetzt werden.1
  • Magnesium peroral 
    • 1–3 × tgl. 5 mmol oral1
    • strenge Indikation bei Niereninsuffizienz, Herzrhythmusstörungen und Störungen der Endplattenfunktion1
    • Zur Therapiekontrolle wird ein Auslassversuch (erneute Zunahme der Muskelkrämpfe?) nach einer z. B. 3-monatigen Behandlungsphase empfohlen.1
    • Studien deuten darauf hin, dass die Wirkung von Magnesium nur der eines Placebos entspricht.5-6
  • Chininpräparate
    • Das einzige in Deutschland zugelassene chininhaltige Medikament ist seit dem 1. April 2015 rezeptpflichtig und sollte nur angewendet werden, wenn die Krämpfe sehr häufig oder besonders schmerzhaft sind und behandelbare Ursachen der Krämpfe ausgeschlossen wurden und nichtpharmakologische Maßnahmen die Beschwerden nicht ausreichend lindern können.7
    • Der Grund für die Anwendungsbeschränkung sind die teilweise ernsten Nebenwirkungen:8
    • kontraindiziert in Schwangerschaft und Stillzeit1
    • Dosierung1
      • Chininsulfat oder Hydrochinin 200–400 mg zur Nacht
    • Verlaufskontrollen1
      • Patient*in ist über Zeichen einer Gerinnungsstörung aufzuklären (spontane Haut- oder Schleimhauteinblutungen, Nasenbluten oder verstärkte Blutungsneigung).
      • Insbesondere innerhalb der ersten 2 Wochen ist auf hämatologische Nebenwirkungen zu achten.
    • Dauer der Behandlung1
      • Sollte sich die Frequenz oder Intensität der Krämpfe nicht innerhalb von 4 Wochen deutlich gebessert haben, ist die Behandlung zu beenden.
      • Alle 3 Monate sollte der Einsatz des Chinins neu bewertet werden.

Prävention

  • Regelmäßige Dehnübungen der Wadenmuskulatur und Kräftigung der antagonistischen Muskulatur (Kniestrecker und Fußheber).
  • Reduktion von belastungsabhängigen Krämpfen durch Dehnungsübungen vor der Belastung, Anpassung der körperlichen Leistung und des Trainings sowie Massagen nach der Belastung.1
  • Verzicht auf Schuhe mit hohen Absätzen3
  • Ausreichende Flüssigkeitszufuhr von ca. 2 l pro Tag, die je nach Witterungsbedingungen und Aktivität erhöht werden muss.3

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Meist chronischer Verlauf
    • Bei 59 % der Patient*innen dauern die Beschwerden > 3 Jahre.2

Komplikationen

  • Dauerhafte Schlafstörungen und dadurch verminderte Leistungsfähigkeit im Alltag9
  • In sehr schweren Fällen sind Muskelfaserrisse möglich.2

Prognose

  • Durch regelmäßige Dehnübungen der Wadenmuskulatur kann die Frequenz und Schwere der nächtlichen Wadenkrämpfe vermutlich reduziert werden.10
  • Bei stark ausgeprägter Symptomatik kann durch die Einnahme von 200 mg Chinin pro Tag bei der Mehrzahl der Patient*innen Anzahl, Dauer und Schmerzintensität der nächtlichen Wadenkrämpfe reduziert werden.11
    • guter bis sehr guter therapeutischer Effekt bei 92 % der Patient*innen
    • Cave: potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen!

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Crampi / Muskelkrampf. AWMF-Leitlinie Nr.030 - 037, Stand 2016. (abgelaufen). www.awmf.org
  2. Red. Chinidinsulfat lindert Symptome. MMW - Fortschritte der Medizin 2018; 160: 74. link.springer.com
  3. Esser M. Muskelkrämpfe: Halbwissen versus Evidenz. Sportverletz Sportschaden 2018; 32(4): 360-4. www.thieme-connect.com
  4. Delacour C, Chambe J, Lefebvre F, et al. Association Between Alcohol Consumption and Nocturnal Leg Cramps in Patients Over 60 Years Old: A Case-Control Study. Ann Fam Med 2018; 16(4): 296-301. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Garrison SR, Allan GM, Sekhon RK, et al. Magnesium for skeletal muscle cramps. Cochrane Database Syst Rev 2012; DOI: 10.1002/14651858.CD009402.pub2. onlinelibrary.wiley.com
  6. Roguin Maor N, Alperin M, Shturman E, et al. Effect of Magnesium Oxide supplementation on nocturnal leg cramps. A randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2017. pmid:28241153 PubMed
  7. BfarM. Chinin gegen nächtliche Wadenkrämpfe (Limptar® N): Bescheid des BfArM zu Änderungen der Produktinformation, einschließlich Einschränkung der Indikation, u.a. wegen des Risikos für schwere Blutbildveränderungen (Thrombozytopenien) im Rahmen eines nationalen Stufenplanverfahrens 2.4.2015 www.bfarm.de
  8. Chinin: Rezeptpflicht und Anwendungsbeschränkungen. arznei-telegramm 2014; 45: 4 www.arznei-telegramm.de
  9. Grandner MA, Winkelman JW..Nocturnal leg cramps: Prevalence and associations with demographics, sleep disturbance symptoms, medical conditions, and cardiometabolic risk factors.PLoS One. 2017 Jun 6;12(6):e0178465 www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Hallegraeff JM et al (2012). Stretching before sleep reduces the frequency and severity of nocturnal leg cramps in older adults: a randomised trial. J Physiother; 58 (1): 17-22 www.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Diener HC, Baurecht W. Chininsulfat in der Therapie nächtlicher Wadenkrämpfe: Verträglichkeit, Compliance, Lebensqualität und Einfluss auf Symptome. MMW - Fortschritte der Medizin 2019; 161: 24-31. link.springer.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Allgemeinmedizin, Frankfurt
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit