CCC MK 30.01.2020, neue LL;
MK 29.01.2018, LL Update
BBB MK 14.03.2023 umfassend revidiert und stark gekürzt.
chck go 22.3., MK 29.06.17, komplett überarbeitet, großteils neu geschrieben, LL berücksichtigt
akute Enzephalitis
akute Meningoenzephalitis
akute infektiöse Enzephalitis
akute erregerbedingte Meningoenzephalitis
atypische Enzephalitis
atypische Meningoenzephalitis
atypische infektiöse Enzephalitis
atypische erregerbedingte Meningoenzephalitis
virale Meningoenzephalitis
bakterielle Meningoenzephalitis
aseptische Meningitis
virale Enzephalitis
bakterielle Enzephalitis
Encephalitis
Zusammenfassung
Definition:Durch eine Infektion ausgelöster entzündlicher Prozess im Gehirn, der von neurologischen Symptomen begleitet wird. Virale, bakterielle, parasitäre oder mykotische Ursache.
Häufigkeit:Gesamtinzidenz unklar. Virale Enzephalitiden sind häufiger als bakterielle (Meningo-)Enzephalitiden. Noch viel seltener beruhen Enzephalitiden auf einer Infektion mit Parasiten oder Pilzen. Die häufigste sporadische Virusenzephalitis in Mitteleuropa ist die Herpes-simplex-Enzephalitis (Inzidenz: 5/100.000).
Symptome:Akute Enzephalitis: Bewusstseinsstörungen, neurologische Herdsymptome, Fieber, evtl. Kopfschmerzen, Übelkeit. Evtl. mehrphasiger Verlauf mit unspezifischen Prodromi. Chronische Enzephalitis: Verlauf in vier Stadien: Wesensänderungen, Myoklonien und Krampfanfällen, Dyskinesien, Dezerebrationsstarre.
Befunde:Evtl. typischer Haut- oder Schleimhautbefund als Zeichen der zugrunde liegenden Infektionskrankheit. Evtl. Zeichen einer meningealen Reizung (z. B. Nackensteife). Fokalneurologische Symptome, evtl. Hirnnervenausfälle, Persönlichkeitsveränderungen, kognitive Defizite.
Therapie:Frühzeitige empirische Therapie mit Aciclovir intravenös bei allen Fällen schwerer, akuter Enzephalitis. Wenn eine bakterielle Meningitis/Meningoenzephalitis differenzialdiagnostisch nicht ausgeschlossen werden kann, sofortiger Beginn einer Antibiose. Ein frühzeitiger Behandlungsbeginn vermindert das Risiko für lebensbedrohliche Komplikationen und schwere Folgeschäden.
Eine erregerbedingte Enzephalitis ist ein durch eine Infektion ausgelöster entzündlicher Prozess im Gehirn, der von neurologischen Symptomen begleitet wird.
Während die – meist blande verlaufende – virale Meningitis die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems ist (Inzidenz ca. 10–20/10.000), sind akute erregerbedingte Enzephalitiden insgesamt relativ selten.1
Die häufigste sporadische Virusenzephalitis in Mitteleuropa ist die Herpes-simplex-Enzephalitis.1-2
Inzidenz: 5/100.000 Einw./Jahr
12–44 % der erregerbedingten Enzephalitiden in europäischen Studien
95 % der Fälle durch HSV-1, 5 % durch HSV-2
HSV-2 bei immunkompromittierten Patient*innen und bei Neugeborenen häufiger
in Europa 3‒4 % der erregerbedingten Enzephalitiden
Bei Neugeborenen
Die meisten neonatalen HSV-Infektionen werden durch eine Herpes-genitalis-Erkrankung der Mutter während der Geburt verursacht.
Etwa 30 % der Neugeborenen mit HSV-Infektion entwickeln eine akute erregerbedingte Enzephalitis.
Die Viren gelangen entweder über die Blutbahn oder retrograd entlang des N. olfactorius ins Zentralnervensystem.
Bei Kindern < 1 Jahr
Im Vergleich zu anderen Altersgruppen scheint eine akute erregerbedingte Enzephalitis bei Kindern unter 1 Jahr besonders häufig vorzukommen.
Bei Erwachsenen
In einer Fallkontrollstudie an 191 erwachsenen Patient*innen, die in den Jahren 2007–2014 wegen einer nichtbakteriellen („aseptischen“) Meningitis und/oder Enzephalitis am Klinikum der TU München behandelt worden waren, wurden in der Subgruppe der Patient*innen mit Enzephalitis oder Meningoenzephalitis folgende Erreger am häufigsten nachgewiesen:6
gramnegative Enterobakterien und Pseudomonas aeruginosa (< 10 % der Fälle)
Haemophilus influenzae (1–3 %)
im Kindesalter
Pneumokokken
Meningokokken
bei Neugeborenen
Streptococcus agalactiae (Gruppe-B-Streptokokken)
Listeria monocytogenes
Ätiologie und Pathogenese
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-5
Ätiologie
Bei 40‒60 % der Patient*innen mit akuter erregerbedingter Enzephalitis sind die Erreger mikrobiologisch nachweisbar.
In gemäßigten Klimazonen verbreitete Viren, die eine Enzephalitis verursachen können (Prävalenz der Enzephalitis bei einzelnen Viruserkrankungen s. o.):
Enzephalitis durch opportunistische Infektionen, z. B. mit Toxoplasma gondii
In Deutschland seltenere Erreger, teilweise aber mit zunehmender Prävalenz, u. a. bei Fernreisenden. Viele dieser Erregertypen werden durch Stechmücken übertragen.
Polyomaviren (JC-Virus): progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), tritt z. B. gehäuft unter bestimmten Immunmodulatoren zur Behandlung der Multiplen Sklerose auf.
Bei einer akuten Meningoenzephalitis kommen zusätzlich Symptome einer Meningitis hinzu (siehe dort).
Bei Kindern
akute Enzephalitis fast immer mit Bewusstseinseintrübung
Besonders bei jüngeren Kindern, speziell bei Neugeborenen, können trotz eines ausgeprägten Befalls des Zentralnervensystems auch im weiteren Krankheitsverlauf unspezifische Symptome dominieren, z. B.:12
Trinkschwäche
Reizbarkeit
veränderter Muskeltonus
Differenzialdiagnosen
Eine akute erregerbedingte Enzephalitis kann Symptome verursachen, die denen zahlreicher anderer internistischer und neurologischer Erkrankungen ähneln.
Eine kranielle Bildgebung erfolgt bei den meisten Patient*innen vor der Lumbalpunktion zum Ausschluss eines erhöhten intrazerebralen Drucks.
Die MRT mit Kontrastmittel ist bei akuter erregerbedingter Enzephalitis sensitiver und spezifischer als die CT.2
Ein EEG kann zusätzliche differenzialdiagnostische Hinweise liefern.
Indikationen zur Klinikeinweisung
Bei Verdacht auf eine akute erregerbedingte (Meningo-)Enzephalitis die Patient*innen zur sofortigen Behandlung in die nächstgelegene neurologische Akutklinik einweisen.
Patient*innen mit akuter Enzephalitis sollten auf der Intensivstation behandelt werden.2
Gegen viele Enzephalitiserreger gibt es keine kausale Therapie. Dann ist die Behandlung überwiegend symptomatisch.
Die blande Virusmeningitis soll symptomatisch antipyretisch und analgetisch behandelt werden.2
Komplikationen und Folgeerkrankungen verhindern.
Ggf. Restitution neurologischer Funktionen
Erstmaßnahmen bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes
Bei Bewusstlosigkeit
Für freie Atemwege sorgen und Aspiration verhindern.
Stabile Seitenlage
Enge Kleidung rund um den Hals, die Brust und den Bauch lockern.
Weitere Sofortmaßnahmen
Bei Ateminsuffizienz Sauerstoff
Beine hochlagern, wenn der Blutdruck niedrig ist.
Venöser Zugang, bei Hypovolämie Flüssigkeitszufuhr (näheres siehe Artikel Schock)
Die betroffene Person sollte nicht essen oder trinken.
Bei Verdacht auf Hypoglykämie: Glukose, bei Bewusstlosigkeit i. v.
Bei Verdacht auf akute Meningitis
Bei Transportzeiten von mehr als 30 min und in Fällen, in denen eine akute bakterielle Meningitis nicht ausgeschlossen werden kann:
Blutkultur abnehmen und ggf. sofort mit der Behandlung beginnen (Dexamethason 10 mg und Antibiotika i. v.; Näheres siehe Artikel Bakterielle Meningitis).4
Venöses Blut in einer Spritze wird auf dem Transport für weitere mikrobiologische Untersuchungen mitgeführt.
Therapie im Krankenhaus
Die Behandlung einer akuten Enzephalitis im Krankenhaus basiert häufig auf dem Verdacht einer Infektion des Zentralnervensystems, bei der eine akute bakterielle Meningitis nicht ausgeschlossen werden kann.
Viele Patient*innen mit akuter erregerbedingter Enzephalitis erhalten daher zunächst auf Verdacht eine Behandlung wie bei einer akuten bakteriellen Meningitis oder wie bei einer akuten HSV-Enzephalitis (s. u.)
Bei entsprechendem Verdacht ist sofort und ohne den Erregernachweis abzuwarten die i. v. Gabe von Antibiotika oder Aciclovir sowie ggf. Dexamethason notwendig.
Bei Verdacht auf eine Enzephalitis durch Viren der Herpesgruppe (besonders HSV, VZV), der in der Frühphase bei allen schweren Enzephalitiden gegeben ist, sollte ohne zeitlichen Verzug ein Antiherpetikum (in der Regel Aciclovir) verabreicht werden.
Andere Virusenzephalitiden sind nach dem Erregernachweis entsprechend den Empfehlungen spezifisch zu behandeln.
Ist eine bakterielle Erkrankung des Zentralnervensystems differenzialdiagnostisch nicht sicher auszuschließen, wird empfohlen, zunächst zusätzlich Antibiotika zu geben (z. B. Cephalosporine der Gruppe 3 plus Ampicillin; cave: Listerien-Meningoenzephalitis!).
Die passive Immunisierung mit Hyperimmunseren ist bei der FSME nicht indiziert und wird auf andere ungewöhnliche Erreger beschränkt bleiben (z. B. bei Rabies-Verdacht unmittelbar nach der Exposition oder wenn die Übertragung einer schweren Virusinfektion aus epidemiologischen oder sonstigen Gründen naheliegt).
Die empfohlenen allgemeinen Therapiemaßnahmen sind bei allen schwer verlaufenden Enzephalitiden gleich.
Hirnödembehandlung
Osmotherapeutika
Der therapeutische Effekt der Entlastungstrepanation ist bisher nicht gesichert.
Glukokortikoide?
Wurden analog zu ihrem Einsatz bei der Pneumokokken-Meningitis und der HSVE durch randomisiert kontrollierte Studien geprüft.
Als Einzelfallentscheidungen werden bei kritischen Anstiegen des intrakraniellen Drucks höhere Glukokortikoid-Dosen eingesetzt.
Antikonvulsive Therapie?
bei hirnorganischen/epileptischen Anfällen
beim Status epilepticus
evtl. Analgetika und Sedativa
Cave: Senkung der Krampfschwelle durch Neuroleptika (z. B. Haloperidol, Melperon, Olanzapin)!
Thrombose- und Lungenembolie-Prophylaxe
niedrig dosiertes subkutanes Heparin bei allen bettlägrigen Patient*innen
symptomatische Therapie bei:
vegetativen Entgleisungen
Temperatur- und Atemstörungen
Salzverlustsyndrom
Diabetes insipidus.
Auf eine ausreichende Ernährung und ein optimales Temperatur-Management ist besonderer Wert zu legen.
Aciclovir i. v. 3 x 10 mg/kg KG für mindestens 14 Tage
Wenn die HSV-PCR im Liquor negativ ist, der klinische Verdacht fortbesteht und es nicht gelingt, eine andere Krankheitsursache zu finden, soll die Aciclovir-Therapie mindestens 10 Tage lang durchgeführt werden.
In den ersten 3 Wochen der Behandlung wird die zusätzliche Gabe von Foscarnet (60 mg/kg alle 8 h oder 90 mg i. v. alle 12 h) empfohlen.
anschließend Ganciclovir als Monotherapie, bei immunologisch kompetenten Personen über 3 Wochen und bei immunologisch kompromittierten Patient*innen über 6 Wochen
ggf. individueller Therapieversuch an einem spezialisierten Zentrum
Andere Erreger
Siehe die Artikel zu den entsprechenden Infektionskrankheiten.
Prävention
Allgemeine Maßnahmen
Händewaschen und Desinfektion nach Kontakt mit infizierten Patient*innen
Bei Patient*innen mit Verdacht auf akute infektiöse Enzephalitis: Isolation und Maßnahmen zum Verhindern einer Kontaktübertragung (Handschuhe, Schutzkleidung, Mundschutz etc.)
Vermeidung der Exposition gegenüber bekannten Vektoren wie Mücken, Fliegen, Flöhen, Milben, Zecken etc.
Safer Sex (z. B. Kondome)
Näheres zur Prävention einer Erregerübertragung siehe die Artikel zu den einzelnen Infektionskrankheiten.
Schutzimpfung
Ist der wirksamste Schutz gegen eine Reihe potenzieller Enzephalitis-Erreger.
Näheres zu den Impfindikationen und -schemata finden Sie in den Artikeln zu den jeweiligen Infektionskrankheiten.
Bei einer Exposition wird spezifisches Tollwut-Immunglobulin bei vitaler Indikation gegeben, bis die Impfung wirkt.
Als Exposition gelten Bisse, Kratzer oder Ablecken von Schleimhäuten oder verletzter Haut durch ein mutmaßlich tollwütiges Tier bei einer nicht geimpften Person.
Massive systemische Entzündung mit Vasodilatation, kapillären Lecks und Mikrothrombosen
Dysfunktion von Endorganen wie Lunge, Herz, Niere, Leber, Darm und im Gerinnungs- und fibrinolytischen System
Die wichtigsten Punkte der Behandlung sind die Sicherstellung einer adäquaten Zirkulation und Beatmung in Kombination mit antimikrobieller Behandlung (z. B. Antibiose, Virostatika).
Zerebrovaskuläre Beteiligung bei Meningitis/Meningoenzephalitis4
Arteriell
Arteriitis (Stenosen, Kaliberschwankungen)
Vasospasmus
fokale kortikale Hyperperfusion
zerebrale Autoregulationsstörung
Septische Sinusthrombosen (überwiegend des Sinus sagittalis superior)
Kortikale Venenthrombosen
Prognose
Relevante Faktoren
Alter, Bewusstseinszustand, Dauer der klinischen Symptome und verstrichene Zeit bis zur antimikrobiellen Behandlung (z. B. mit Aciclovir oder Antibiotika)
Bei akuter Enzephalitis sind eine frühe Diagnose und ein rascher Therapiebeginn ausschlaggebend für die Prognose.
Neurologische Ausfälle nach der Entlassung aus dem Krankenhaus
neurologische Folgeschäden: 62 % der Patient*innen
Verhaltensauffälligkeiten: 10 %
Verlaufskontrolle
Evtl. im Rahmen der Rehabilitation und Weiterbehandlung von Folgeschäden (Näheres siehe die Artikel zu den genannten Störungen/Erkrankungen), z. B.:1-5
Hacke W (Hrsg.), Poeck K (Begr.). Neurologie. Berlin, Heidelberg: Springer 2016; 514-524.
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Virale Meningoenzephalitis. AWMF-Leitlinie Nr. 030-100. S1, Stand 2018 (abgelaufen). www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Atypische erregerbedingte Meningoenzephalitiden. AWMF-Leitlinie Nr. 030-061, Stand 2012 (abgelaufen). www.thieme-connect.de
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Meningoenzephalitis, ambulant erworbene bakterielle (eitrige). AWMF-Leitlinie Nr. 030-089. S2k, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
Patel PB. Encephalitis. BMJ Best Practice. Last reviewed: 26 Jan 2023; last updated: 16 Aug 2022. bestpractice.bmj.com
Kaminski M, Grummel V, Hoffmann D, et al. The spectrum of aseptic central nervous system infections in southern Germany - demographic, clinical and laboratory findings. Eur J Neurol 2017 Jun 21 Epub ahead of print PMID: 28636287 PubMed
Robert Koch-Institut. RKI-Ratgeber für Ärzte - Windpocken, Herpes zoster (Gürtelrose). Stand: 01.08.2017 www.rki.de
Robert Koch-Institut. Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2020. Datenstand: 01.03.2021. www.rki.de
Robert Koch-Institut. Masernerkrankung. Stand: 18.01.2022 www.rki.de
Robert Koch-Institut. RKI-Ratgeber für Ärzte - Mumps. Stand 20.02.2023. www.rki.de
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2023, Stand 16.09.2022. www.dimdi.de
Gesellschaft für Neuropädiatrie. Nicht-eitrige ZNS Infektionen von Gehirn und Rückenmark im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 022-004, Klasse S1, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut. Fachliche Anwendungshinweise zur Masern-Postexpositionsprophylaxe bei Risikopersonen. Epidemiologisches Bulletin 2/2017. edoc.rki.de
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).