Allgemeine Informationen
- Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert dieser Artikel auf folgenden Referenzen.1-3
Definition
- Chronische Schluckbeschwerden verschiedener Ätiologie
- Störungen des Schluckmechanismus können von allen beteiligten Strukturen von den Lippen bis zum unteren Ösophagussphinkter ausgehen.
Diagnostische Überlegungen
- Ohne ein entsprechendes Screening wird eine Dysphagie häufig nicht oder nicht rechtzeitig erkannt.
- Besonders bei älteren Patient*innen auch an folgende Erkrankungen denken:
- Weitere mögliche Ursachen (Näheres siehe Abschnitt Differenzialdiagnosen):
- zerebrale Funktionsstörung
- progrediente internistische Erkrankungen
- Traumata
- Krankheits- oder Operationsfolgen
- Strahlenschäden
- Sterbeprozess.
Mögliche Folgen
- Ein normaler Schluckmechanismus ist wichtig, weil dadurch sichergestellt wird, dass sich die Atemwege beim Schlucken schließen.
- Sonst besteht Aspirationsgefahr mit nachfolgenden Pneumonien und Septikämien.
- Eine Dysphagie führt bei vielen Patient*innen dazu, dass weniger Nahrung aufgenommen wird und sich der Ernährungszustand verschlechtert.5
Häufigkeit
- Dysphagie ist ein häufiges Problem, insbesondere auch bei:
- Schlaganfall (40–70 %)
- neurodegenerativen Erkrankungen (60–80 %)
- Strahlentherapie wegen Kopf-, Hals-Tumoren (60–75 %)
- Hochbetagten (bis zu 51 %).
Konsultationsgrund
- Meistens Schluckbeschwerden
- Unerklärliche Fieberspitzen, rezidivierende Infektionen der unteren Atemwege, anhaltender Husten und ständiges Räuspern können auf eine Aspiration hindeuten.
Abwendbar gefährliche Verläufe
- Eine Dysphagie sollte abgeklärt werden, auch wenn der normale Alterungsprozess ursächlich sein kann.
ICD-10
- Nach ICD-10-GM, Version 20226
- R13 Dysphagie
Differenzialdiagnosen
Gastroösophageale Refluxkrankheit
- Siehe Artikel Gastroösophageale Refluxkrankheit.
- Betrifft alle Altersgruppen, die Inzidenz steigt aber mit dem Alter.
- Refluxsymptome mit Sodbrennen in Hals/Brust, saurem Aufstoßen, brennenden Schmerzen im Epigastrium, Linderung durch Antazida/PPI, manchmal verbunden mit Dysphagie und Husten
- Die Diagnose erfolgt klinisch, kann aber ösophagoskopisch4 oder in der 24-Stunden-pH-Metrie bestätigt werden.
- Die Dysphagie kann auf einer Entzündung (Ösophagitis) oder einer narbigen Striktur im Ösophagus beruhen.
- Auch eine Hiatushernie kann den Beschwerden zugrunde liegen.
- Es kann im Verlauf zu einer ringförmigen Verengung der unteren Ösophagusabschnitte durch hypertrophe Schleimhaut kommen (Schatzki-Ring).
Motilitätsstörungen
- Können mit Schmerzen in mittleren Brustbereich verbunden sein.
Achalasie
- Verminderte Peristaltik im distalen Speiseröhrenabschnitt und mit Störung der koordinierten Erschlaffung des unteren Ösophagussphinkters
- Ursächlich ist meist eine Dysfunktion der Ganglienzellen im submukösen Plexus myentericus (Auerbach-Plexus).
- Setzt meist im Alter zwischen 30 und 60 Jahren ein.
- Allmählich einsetzende Dysphagie für feste und meist auch für flüssige Speisen
- Im Röntgenbreischluck des Ösophagus zeigt sich eine Dilatation und die typische „Vogelschnabel“-Einengung des distalen Ösophagus.
- Eine Ösophagus-Manometrie bestätigt die Diagnose.
Bei systemisch entzündlicher Erkrankung
Nach Schlaganfall oder TIA
- Dysphagie ist eine Komplikation bei bis zu 2/3 aller Patient*innen mit Schlaganfall.
- Bei allen Schlaganfall-Patient*innen soll ein Screening auf Dysphagie durchgeführt werden.
Leitlinie: Schlaganfall5
Dysphagie-Assessment
- Bei Patient*innen mit Schluckbeschwerden und/oder pathologischem Screeningbefund sollte ein weiterführendes Assessment der Schluckfunktion angeboten werden (II–III/B).
- Patient*innen ohne pathologischen Screeningbefund sollte ebenfalls ein weiterführendes Assessment angeboten werden, wenn andere etablierte klinische Prädiktoren für das Vorliegen einer Dysphagie oder deren Komplikationen vorhanden sind, wie (II–III/B):
- schweres neurologisches Defizit
- Dysarthrie
- Aphasie
- ausgeprägte Fazialisparese.
Schluckrehabilitation
- Patient*innen mit einer Dysphagie soll eine oropharyngeale Schluckrehabilitation angeboten werden, die sich aus restituierenden, kompensatorischen und/oder adaptiven Maßnahmen zusammensetzt (Ib/A).
Sondenernährung
- Ist enterale Ernährung voraussichtlich länger erforderlich (> 28 Tage), soll, bei nichtpalliativer Intention, nach 14–28 Tagen die Anlage einer PEG-Sonde angeboten werden (Ib/A).
Bei neurodegenerativer Erkrankung
- Alzheimer-Demenz
- Zerebralparese
- Parkinson-Syndrom
- Motoneuron-Krankheit, z. B. amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
- Multiple Sklerose
- Myasthenia gravis
Leitlinie: Neurogene Dysphagien1
Diagnose
- Neurogene Dysphagien lassen sich meist durch Eigen-, Fremd- und Familienanamnese sowie spezielle neurologische Untersuchungsbefunde diagnostizieren.
- Bei Unklarheit bezüglich des Vorliegens einer Dysphagie bzw. von Aspirationen soll zunächst ein standardisiertes Screeningverfahren, danach eine ausführliche klinische Schluckuntersuchung erfolgen.
- Unter den apparativen Diagnoseverfahren ergänzen sich Videofluoroskopie und Endoskopie des Schluckens in ihrer Aussagekraft.
Bei Muskelerkrankungen und -funktionsstörungen
- Muskeldystrophie
- Spinale Muskelatrophie
- Polymyositis
- Dermatomyositis
- Ösophagusspasmen, krikopharyngeale Dysfunktion, Nussknackerösophagus
- Botulismus
Kopf-Hals-Tumoren
- Sind häufig durch Schmerzen, Schluckbeschwerden und Ohrenschmerzen gekennzeichnet.
Maligne Tumoren
- Assoziiert mit Nikotinabusus, Alkoholabusus, ggf. HPV-Infektion u. a.
- Beispielsweise Ösophaguskarzinom, Oropharynxkarzinom
Benigne Tumoren des Ösophagus
- Leiomyome
- Lipome
- Polypen
Ösophagusdivertikel
- Siehe Artikel Ösophagusdivertikel.
- Divertikel sind Ausbuchtungen der Schleimhaut, die durch die muskuläre Schicht des Ösophagus dringen.
- Am häufigsten bei Patient*innen mittleren und höheren Alters (Zenker-Divertikel)
- Die Symptome entwickeln sich schleichend in Form von Dysphagie und Husten während der Mahlzeiten und Beschwerden im Rachenraum.
- Die Diagnose lässt sich am einfachsten durch einen Röntgenbreischluck des Ösophagus stellen.
Lokale Entzündung
Ösophagitis
- Eosinophile Ösophagitis
- Betrifft vor allem jüngere Patient*innen.
- gekennzeichnet durch chronische Dysphagie seit Kindes- oder Jugendalter
- Typische Symptome sind neben der Dysphagie das Gefühl, dass die Nahrung stecken bleibt, sowie Brennen im Brustbereich.
- Die Diagnose basiert auf den endoskopischen und histologischen Befunden. Es sind Biopsien entlang des gesamten Ösophagus erforderlich.
- Ösophageale Candida-Infektion
Pharyngitis
- Beispielsweise bei Infektion mit Gruppe-A-Streptokokken
Orale Mukositis
- Nach Chemo- oder Strahlentherapie
- Bei Candida-Infektion
Seltenere Erkrankungen
- Epiglottitis
- Retropharyngealer Abszess
Verletzungen
- Nach Kopfverletzungen
- Nach dem Schlucken ätzender Substanzen
- Durch Medikamente, z. B. Doxycyclin, Chinidin, NSAR, Eisenpräparate, Alendronsäure
- Symptome
- Gefühl, als ob Tablette im Hals stecken würde.
- Thoraxschmerz
- Schmerzen beim Schlucken (Odynophagie)
- Das Schlucken fester Nahrung ist zunehmend gestört.
- Symptome
Psychische Störungen
- Schluckstörungen können als Symptom psychischer Störungen auftreten.
- Häufig mit Globusgefühl („Kloß im Hals“)
- Siehe auch Artikel Somatoforme Körperbeschwerden.
Presbyphagie
- Zunehmende Schluckbeschwerden infolge normaler Alterungsprozesse
- Kommt bei vielen pflegebedürftigen älteren Menschen vor.
Stimmbandlähmung
- Beispielsweise Rekurrensparese nach Struma-OP oder OP an HWS, Lunge oder Schädelbasis
- Heiserkeit, Aspirationsneigung, geschwächte Hustfunktion
Seltenere Ursachen
- Ektope Struma/Zungengrundstruma
- Zervikale Lymphadenopathie
- Oropharyngeale Stenose, z. B. nach Strahlentherapie
- M. Wilson
- Tardive Dyskinesien nach Langzeitanwendung von Antipsychotika (siehe Artikel Arzneimittelinduzierte Bewegungsstörungen)
- Verschluckter Fremdkörper
- Web-Stenose des Ösophagus (angeboren oder erworben, z. B. infolge einer Refluxkrankheit)
- Zervikale Osteophyten (siehe Artikel Spondylose)
Anamnese
Lokalisierung?
- Können die Patient*innen die Stelle beschreiben, an der das Hindernis sitzt?
- Häufig können die Patient*innen gut lokalisieren, wo die Beschwerden auftreten.
Verlauf
- Verlauf über die Zeit? Progredienz?
- Was verursacht die Beschwerden? Feste Speisen? Alle Speisen? Flüssigkeiten?
- Gewichtsverlauf?
Häufige Symptome
- Schluckbeschwerden
- Sodbrennen: Kann auf Reflux hinweisen.
- Husten und Räuspern vor, während und nach dem Schluckvorgang kann auf einen neurologischen Defekt mit Aspiration hinweisen.
- Globusgefühl
- Mechanisches Hindernis, z. B. Fremdkörper, unvollständig geschluckte Nahrung oder Raumforderung?
- Kann auch auf einer psychosomatischen Erkrankung beruhen.
- Aufstoßen von unverdautem Essen kann auf Divertikel hinweisen.
- Gefühl eines kompletten Verschlusses: Verdacht auf eine Krebserkrankung oder Achalasie
- Gewichtsabnahme: Verdacht auf eine Krebserkrankung
Weniger deutliche Symptome
- Das Essverhalten ist möglicherweise verändert.
- Patient*innen essen z. B. langsamer und vermeiden gesellschaftliche Zusammenkünfte.
- Sie müssen sich häufig räuspern und den Hals befreien.
- Mahlzeiten werden vermieden.
- Mahlzeiten werden in die Länge gezogen.
- Es treten rezidivierende Infektionen der unteren Atemwege auf.
- Das Atemmuster nach dem Schlucken ist verändert.
- Es treten atypische Brustschmerzen auf.
Risikofaktoren
- Rauchen? Alkohol? Prädisponierende Faktoren für Ösophaguskarzinom (Refluxkrankheit, Barrett-Ösophagus).
Klinische Untersuchung
Allgemeines
- Allgemein- und Ernährungszustand?
- Kognitive Funktionen?
- Anzeichen für andere Erkrankungen?
Spezielle Aspekte
- Stomatitis oder Glossitis? Mundwinkelrhaghaden?
- Orale oder oropharyngeale Ulzeration oder Schwellung?
- Verdacht auf lokale Krebserkrankung
- Schwellungen und Knoten am Hals?
- z. B. Lymphadenopathie oder obstruierende Struma
- Unerklärliche Fieberspitzen, „feuchte“ und heisere Stimme? Kann auf Aspiration hindeuten.
- Die Patient*innen sollen unter Beobachtung essen und trinken.
- Stimmbandlähmung?
- Als Folge einer zervikalen oder thorakalen Neoplasie?
- Zungenfaszikulationen?
- Können auf eine amyotrophe Lateralsklerose (ALS) hinweisen.
Ergänzende Untersuchungen
In der Hausarztpraxis
- Hb, BSG, CRP, Ferritin
- Möglicherweise Blut im Stuhl
- B12 – Globusgefühl beobachten – Plummer-Vinson-Syndrom
Bei Spezialist*innen
Aspirationsscreening
- Wasser-Schluck-Tests
- Mehr-Konsistenzen-Tests
Dysphagie-Assessment
- Klinische Schluckuntersuchung
- Untersuchung zur Beurteilung, ob eine funktionelle oder eine strukturelle Ursache vorliegt.
- Kann von Logopäd*innen durchgeführt werden.
- Flexible endoskopische Evaluation des Schluckakts (FEES)
- Videofluoroskopische Evaluation des Schluckakts (VFSS)
Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD)4
- Ermöglicht eine gleichzeitige Biopsie.7
- Gleichzeitig können Hypopharynx und Larynx inspiziert werden.
Ösophagus-Manometrie
- Ist die empfohlene Untersuchung bei Verdacht auf ösophageale Motilitätsstörungen.
- Ermöglicht die Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Motilitätsstörungen.
- Hat die Ösophagus-Breischluck-Untersuchung weitgehend ersetzt.
- Näheres siehe auch Artikel Ösophagusspasmus.
24-Stunden-pH-Metrie
- Kann bei Verdacht auf gastroösophageale Refluxkrankheit indiziert sein.
Maßnahmen und Empfehlungen
Indikationen zur Überweisung
- Die Überweisung zu verschiedenen Fachrichtungen kann sinnvoll sein:
- Gastroenterologie/Ernährungsmedizin
- HNO
- Neurologie
- Logopädie.
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Bei schwerer Dysphagie, die zu Ernährungsproblemen führt oder mit hohem Aspirationsrisiko einhergeht.
Empfehlungen/Therapie
- Therapie je nach Grunderkrankung
- Die Prognose und Therapiemöglichkeiten der zugrunde liegenden Erkrankung sind entscheidend für die weitere Behandlung.
- Bei einem Teil der Patient*innen kann eine entsprechende Anpassung der Nahrungsaufnahme bzw. der Ernährungsform hilfreich sein.
- angedickte Nahrung
- kleine Mengen
- Logopädische und rehabilitative Behandlung, z. B.:
- Shaker-Übung
- aus der liegenden Position heraus als isometrischer Übungsteil 3 Kopfhebungen für jeweils 60 sec
- danach 60 sec Pause
- anschließend 30 isokinetische, rasche Kopfhebungen
- Exspiratory Muscle Strength Training (EMST)
- Die übende Person atmet durch ein PEEP-Ventil gegen einen erhöhten Widerstand aus.
- Shaker-Übung
- Bei neurogener Dysphagie evtl. zusätzlich:1
- apparative Stimulationsverfahren wie:
- pharyngeale elektrische Stimulation (PES)
- neuromuskuläre elektrische Stimulation (NMES)
- transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)
- repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS).
- Medikamentöse Behandlung erwägen. Dazu kommen vor allem TRPV1-Agonisten infrage. Sie stimulieren sensible Äste des N. laryngeus recurrens und des N. glossopharyngeus im Pharynx und im Larynx.
- Capsaicinoide
- Piperine (aus schwarzem Pfeffer).
- apparative Stimulationsverfahren wie:
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Neurogene Dysphagie. AWMF-Leitlinie Nr. 030-111. S1, Stand 2020. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Schlaganfall. AWMF-Leitlinie Nr. 053-011. S3, Stand 2020. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Ösophagoskopie. AWMF-Leitlinie Nr. 017-060. S1, Stand 2021. www.awmf.org
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Neurogene Dysphagie. AWMF-Leitlinie Nr. 030-111. S1, Stand 2020. www.awmf.org
- World Gastroenterology Organisation Global Guidelines. Dysphagia. Global Guidelines and Cascades. 2014. Milwaukee, WGO www.worldgastroenterology.org
- Charous SJ. Assessment of dysphagia. BMJ Best Practice. Last reviewed: 14 Aug 2022; last updated: 15 Oct 2021. bestpractice.bmj.com
- Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Ösophagoskopie. AWMF-Leitlinie Nr. 017-060. S1, Stand 2021. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Schlaganfall. AWMF-Leitlinie Nr. 053-011, S3, Stand 2020. www.awmf.org
- Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 14.08.2022 www.dimdi.de
- ASGE Standards of Practice Committee; Pasha SF, Acosta RD, Chandrasekhara V, et al. The role of endoscopy in the evaluation and management of dysphagia. Gastrointest Endosc 2014; 79: 191-201. PubMed
Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).