Zusammenfassung
- Definition:Akutes Lungenversagen mit schwerer Oxygenierungsstörung unter Ausschluss einer primär kardialen Ursache.
- Häufigkeit:Große Variation in der angegebenen Inzidenz, ca. 10–80 Fälle pro 100.000/Jahr.
- Symptome:Die führenden Symptome sind Dyspnoe, Tachypnoe, Zyanose. Evtl. Unruhe und Verwirrtheit.
- Befunde:Schwere Hypoxämie, röntgenologisch bilaterale pulmonale Infiltrate, Fehlen von Anzeichen für ein kardiogenes Lungenödem.
- Diagnostik:Rö-Thorax oder CT-Thorax. Blutgasanalyse mit Messung des O2-Partialdrucks, Bestimmung des Ausmaßes der Oxygenierungsstörung anhand des PaO2/FiO2-Quotienten bei beatmeten Patient*innen. Echokardiografie zum Ausschluss einer primär kardialen Ursache.
- Therapie:Behandlung auslösender Ursachen, lungenschonende Beatmung, Bauchlagerung, ggf. Lungenersatzverfahren.
- Verlauf:Bei letalem Verlauf (ca. 30–40 %) Tod meist innerhalb der ersten 2 Wochen. Ansonsten breites Spektrum zwischen vollständiger Erholung und andauernder Gasaustauschstörung.
Allgemeine Informationen
Definition
- Akutes Atemnotsyndrom (Syn. akutes Lungenversagen, Schocklunge) oder ARDS = Acute Respiratory Distress Syndrome (früher wurde auch die Bezeichnung Adult Respiratory Distress Syndrome verwendet)
- ARDS definierende Kriterien1
- Auftreten innerhalb einer Woche nach einem auslösenden Ereignis oder neu aufgetretenen bzw. verschlechterten respiratorischen Symptomen
- Hypoxämie
- PaO2/FiO2 ≤ 300 bei
- PEEP (oder CPAP) ≥ 5 cm H2O
- bilaterale pulmonale Infiltrate in Rö-Thorax oder CT-Thorax
- echokardiografischer Ausschluss einer kardialen Ursache
- Früher wurde invasive Bestimmung des PCWP empfohlen (< 18 mmHg zum Ausschluss einer kardialen Ursache).2
- Die frühere Unterscheidung2 in ALI (Acute Lung Injury) bei PaO2/FiO2 ≤ 300 und ARDS bei PaO2/FiO2 ≤ 200 wird nicht mehr verwendet.
- Seit Konsensuskonferenz Berlin 2012 gilt folgende Einteilung:1
- „leichtes ARDS“: PaO2/FiO2 = 201–300
- „moderates ARDS“: PaO2/FiO2 = 101–200
- „schweres ARDS“: PaO2/FiO2 ≤ 100.
Häufigkeit
- Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie weltweite Zunahme der Inzidenz3
- Angaben zur Inzidenz variieren in Abhängigkeit von Regionen und Berichtssystemen.
- Inzidenz höher als früher angenommen4
- Jährliche Inzidenz ca. 10–80 Fälle pro 100.0004-5
- 7 % aller Patient*innen in Intensivbehandlung entwickeln ein ARDS.5
- 12,5 % bei Patient*innen mit Intensivtherapie > 24 Stunden5
Ätiologie und Pathogenese
- Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.10
- Direkte pulmonale oder indirekte extrapulmonale Noxen bewirken einen Anstieg an proinflammatorischen Mediatoren.
- Durch diese Entzündungsmediatoren migrieren aktivierte neutrophile Granulozyten in das vaskuläre Endothel und alveoläre Epithel, setzen dort Proteasen, Zytokine und Sauerstoffradikale frei.
- Dies führt zu einer pathologischen vaskulären Permeabilität, Schäden im Alveolarepithel und einer Nekrose der Pneumozyten.
- Es folgt eine pathologische Flüssigkeitsansammlung in den Alveolen (Lungenödem).
- Bildung von Mikrothromben in den kleinen Blutgefäßen
- Verlust von Surfactant auf der Alveolaroberfläche
- Bildung von hyalinen Membranen zwischen Alveolen und Bronchiolen
- Daraus resultieren eine reduzierte Lungencompliance und ein schlechter Gasaustausch.
- Im Verlauf werden das geschädigte vaskuläre Endothel und alveoläre Epithel durch Bindegewebe (Fibroblasten) ersetzt, was eine Fibrose zur Folge hat.
- in Folge dauerhaft verschlechterter Gasaustausch
Auslöser eines ARDS
- Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
- Direkte Lungenschädigung wie:
- COVID-19
- Pneumonie
- Inhalationsschäden
- Lungenkontusion
- Aspiration
- Ertrinkungsunfall
- längere Exposition gegenüber O2-Konzentrationen > 50 %
- Höhenexposition.
- Indirekte Lungenschädigungen
- Sepsis
- SIRS nicht-mikrobieller Ursache
- Verbrennungen
- Polytrauma
- Schock jeglicher Ursache
- Massentransfusionen
- disseminierte intravasale Gerinnung (DIC)
- diabetische Ketoazidose
- akute nekrotisierende Pankreatitis
- u. a.
ICPC-2
- R99 Atemwegserkrankung, andere
ICD-10
- J80 Atemnotsyndrom des Erwachsenen [ARDS]
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Siehe Tabelle Atemnotsyndrom bei Erwachsenen – Diagnostische Kriterien.
- PaO2/FiO2 (Horovitz-Index)
- Quotient aus dem arteriellen Sauerstoffpartialdruck und der inspiratorischen Sauerstoffkonzentration
- bei Lungengesunden: Horovitz-Index > 450
Differenzialdiagnosen
- Akutes Lungenödem
- Lungenembolie
- Linksherzversagen
- Akutes Asthma
- COPD-Exazerbation
- Lungenentzündung
- (Akute eosinophile Lungenentzündung)
- (Exogen allergische Alveolitis)
- Pneumothorax
- Salicylatvergiftung
- Sepsis
- Chronische Lungenschädigungen
Anamnese
- Atemnot seit wann? Rasche Zunahme?
- Hinweise auf Atemwegsinfekt?
- U. U. ist es schwierig, eine schwer verlaufende Pneumonie von einem beginnenden oder bereits ausgeprägten ARDS zu unterscheiden.
- Bei vorbestehender Herzinsuffizienz ist ein akutes Lungenödem wahrscheinlicher.
- Sind Asthma oder COPD bekannt?
- Hinweise auf anderen Fokus als Atemwege?
- Nicht selten kann aufgrund drohender oder bereits eingetretener Beatmungspflichtigkeit keine differenzierte Eigenanamnese erhoben werden.
Klinische Untersuchung
- Kann helfen, zwischen ARDS und anderen Erkrankungen zu differenzieren.
- Dyspnoe, Tachypnoe und Hypoxie sind sowohl bei ARDS, Pneumonie als auch beim Lungenödem häufig.
- Beim ARDS häufig keine pathologischen Atemgeräusche4
- Kontrast zur Schwere der Ateminsuffizienz4
- Bei einem akuten Lungenödem aufgrund einer Herzinsuffizienz Rasselgeräusche, evtl. 3. Herzton
- gestaute Halsvenen, periphere Ödeme bei zusätzlicher Rechtsherzinsuffizienz
- Bei Pneumonie evtl. feinblasige Rasselgeräusche, Bronchialatmen, purulentes Sputum
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Pulsoxymetrie: niedrige O2-Sättigung
Diagnostik in der Klinik
- Röntgen-Thorax (oder CT-Thorax)
- Blutgasanalyse, Bestimmung von PaO2/FiO2
- Echokardiografie zum Ausschluss einer Linksherzinsuffizienz
- invasive Messung des Pulmonalarteriendruckes nicht mehr obligat
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
- Bereits bei Verdacht auf ARDS!
- Meist steht aufgrund des schlechten Allgemeinzustandes der Patient*innen die stationäre Einweisung außer Frage.
Therapie
Therapieziele
- Frühzeitige intensivmedizinische Stabilisierung
- Erfolgreiche Entwöhnung von einer Beatmungstherapie
- Minimierung langfristiger pulmonaler Schäden, im Idealfall Restitutio ad integrum
Allgemeines zur Therapie
- Therapie beruht auf:
Beatmungstherapie
Nichtinvasive Beatmung
- Option nur bei leichtem ARDS
Invasive Beatmung
- Im Allgemeinen ist bei ARDS eine invasive Beatmung erforderlich.
- Ziele4
- ausreichender Gasaustausch
- Vermeidung von Atelektasen, Rekrutierung von kollabierten Lungenarealen
- Schutz vor Schäden durch die Beatmung
- Prinzipien
- lungenprotektive Beatmung mit niedrigem Tidalvolumen zur Vermeidung einer Schädigung der Lunge durch hohe inspiratorische Beatmungsdrucke (Barotrauma)
- angemessener PEEP (endexpiratorischer Druck)13
- Erhöhung des PEEP bis zur optimalen Oxygenierung, evtl. Rekrutierungsmanöver
- Vermeidung von Atelektasen bzw. Rekrutierung von kollabierten Lungenanteilen
- Vermeiden eines zu hohen PEEP
- bei zu hohem PEEP Überblähung der Lunge mit Erhöhung des Totraumvolumens, Abfall von Herzminutenvolumen und pulmonaler Perfusion4
-
- Lagerungstherapie
- Bauchlage führt bei den meisten beatmeten Patient*innen mit ARDS zu einer besseren Oxygenierung.
- Bauchlage empfohlen bei Betroffenen mit moderatem bis schwerem ARDS (PaO2/FiO2 < 150 mmHg)14
- Bei Patient*innen mit ARDS (PaO2/FIO2 < 150) und lungenprotektiver Beatmungsstrategie führt die frühe Anwendung prolongierter Bauchlagerung zu einer signifikanten Senkung der Letalität im Vergleich zur Rückenlagerung.14
- Lungenersatzverfahren
- Option bei Patient*innen mit schwerem ARDS, z. B.:
- ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung)
- p-ECLA (pumpenlose extrakorporale Lungenunterstützung).
- Option bei Patient*innen mit schwerem ARDS, z. B.:
- Lagerungstherapie
Medikamentöse Therapie
- Nutzen einer Kortikoidbehandlung noch ungeklärt12
- Surfactant kann bei Kinder helfen, hat aber keine gesicherte Wirkung bei Erwachsenen gezeigt.15
- Thrombose- und Ulkusprophylaxe
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Durchschnittliche Liegedauer rund 16 Tage auf der Intensivstation und insgesamt 26 Tage im Krankenhaus16
- Nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation Follow-up der Patient*innen erforderlich (s. u.)
Komplikationen
- Akut: Multiorganversagen
- Langfristige Probleme infolge der Intensivtherapie, zusammengefasst als „Postintensive Care Syndrome“17, u. a.:
- Muskelschwäche/-abbau aufgrund einer Critical Illness Polyneuropathie/Myopathie (CIP/CIM) durch toxische Entzündungsmediatoren
- kognitive Einschränkungen (oft nach septischer Enzephalopathie)
- posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) nach traumatisierenden Erfahrungen auf der Intensivstation
- Depressionen und Angsterkrankungen18
- chronische Schmerzen
- Kachexie
- vereinzelt sexuelle Dysfunktion.
Prognose
- Mortalitätsrate bei Patient*innen mit ARDS 27–45 %5
- 27 % bei leichtem ARDS
- 32 % bei moderatem ARDS
- 45 % bei schwerem ARDS
- Eine Restitutio ad integrum ist möglich.
- beste Chance auf vollständige Erholung bei jungen Menschen mit posttraumatischem ARDS im Lauf der nächsten 6–12 Monate5
- Bleibende respiratorische Beeinträchtigung bei ca. der 50 % der Patient*innen19
- restriktive Ventilationsstörung
- Diffusionsstörung
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Depression bei 25–50 % der Patient*innen19
- Neurokognitive Störungen bei den meisten Betroffenen19
- Insgesamt oftmals verminderte gesundheitsbezogene Lebensqualität (HRQoL) der Patient*innen über Monate und Jahre20
- Vielversprechende Ansätze zur Verbesserung sind:20
- konsequente Frühmobilisierung
- Führung von ITS-Tagebüchern.
- Vielversprechende Ansätze zur Verbesserung sind:20
Verlaufskontrolle
- Eine aktive Nachkontrolle der häufigen Komplikationen im Verlauf wird für die hausärztliche Versorgung angeraten.21
- Empfohlen werden insbesondere Gewichtskontrollen, neurologische Untersuchungen und die Verwendung von standardisierten Fragebögen.
- Insbesondere bei posttraumatischen Belastungen ist ein aktives Nachfragen unumgänglich, da hier ein Vermeidungsverhalten zur klinischen Symptomatik gehört.
- Möglicherweise Verbesserung der Lebensqualität durch Etablierung von ITS-Follow-up-Kliniken20
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Darüber informieren, dass psychische und andere Probleme bei einer so schweren Erkrankung zu erwarten sind, und dass es wichtig ist, sich aktiv Hilfe zu suchen.
Patienteninformationen in Deximed
Kompetenzzentren
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Sepsis-Gesellschaft und Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Sepsis - Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge. AWMF-Leitlinie Nr. 079-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Lagerungstherapie und Frühmobilisation zur Prophylaxe oder Therapie von pulmonalen Funktionsstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 001-015. S2e, Stand 2015. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Behandlung von erwachsenen Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie. AWMF-Leitlinie Nr. 020-020. S3, Stand 2021. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Nichtinvasive Beatmung als Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz. AWMF-Leitlinie Nr. 020-004. S3, Stand 2015. www.awmf.org
Literatur
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- Reinhart K, Brunkhorst F, Bone H. Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge der Sepsis. AWMF-Leitlinie 079-001, Stand 2018. www.awmf.org
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Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg
- Konrad Schmidt, Dr. med., Universitätsklinikum Jena (Review)
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).