Primärprävention von Herz- und Gefäßerkrankungen

Allgemeine Informationen

  • Der Artikel bezieht sich, sofern nicht gesondert referenziert, auf die DEGAM-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention.1

Hintergrund

  • Die Mortalität durch kardiovaskuläre Erkrankungen hat in den vergangenen Jahren abgenommen, ursächlich sind möglicherweise neben Fortschritten in der Akutbehandlung eine bessere Primär- und Sekundärprävention – es können aber auch ganz andere Faktoren wie der allgemeine Lebensstandard oder eine lange Friedensperiode in Europa eine Rolle spielen.2
  • Dennoch gehören koronare Herzerkrankung und Schlaganfall weiterhin zu den wichtigsten Ursachen für Mortalität und Behinderung in Deutschland.3-4
  • Vermeidung oder zumindest späterer Beginn atherosklerotischer Gefäßerkrankungen durch Primärprävention könnte zu einem deutlichen Gewinn an Lebenszeit führen.
  • Die Bestimmung des kardiovaskulären Risikos und die Beratung dazu sind daher wesentliche Bestandteile der kardiovaskulären Primärprävention und von großer Bedeutung.5

Ziele der hausärztlichen Beratung zur Primärprävention

  • Identifikation von Patient*innen mit deutlich erhöhtem kardiovaskulärem Risiko
  • Senkung der Erkrankungs- und Sterberate an kardiovaskulären Erkrankungen durch primärpräventive Maßnahmen
  • Gleichzeitig Vermeidung von Überdiagnostik und Überversorgung bei geringem kardiovaskulärem Risiko
  • Gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Hausärzt*innen und Patient*innen auf Grundlage der zur Verfügung gestellten Informationen.

Risikokalkulation und -kommunikation

Indikation zur Risikokalkulation

  • Eine strukturierte Beurteilung des kardiovaskulären Risikos sollte in folgenden Situationen erwogen werden:
    • anlässlich einer Gesundheitsuntersuchung bei Frauen > 60 Jahre, bei Männern > 55 Jahre
    • bei neuem Auftreten von einem oder mehreren Risikofaktoren: Rauchen, erhöhter Blutdruck, erhöhte Lipide, Typ-2-Diabetes, positive Familienanamnese
    • bei Übergewicht besonders mit bauchnaher Fettverteilung oder Adipositas
    • bei Personen mit erhöhtem kardiovaskulärem Risikoprofil in regelmäßigen Abständen (1–2 Jahre)
    • bei Personen mit hoher psychosozialer Belastung, geringem Bildungsstand oder prekärer sozialer Situation ab 35 Jahre
    • Bei entsprechendem Wunsch der Patient*innen bzw. wenn eine entsprechende Besorgnis geäußert wird.

Bestimmung des kardiovaskulären Risikos – Risikorechner

  • Für Therapieentscheidungen soll vor allem das kardiovaskuläre Gesamtrisiko betrachtet werden.
    • Die getrennte Betrachtung einzelner Risikofaktoren kann sowohl zu einer Über- als auch einer Unterversorgung führen.
  • Zwar gibt es insgesamt mehrere 100 bekannte Risikofaktoren, das Gesamtrisiko kann aber anhand einiger weniger bedeutender Risikofaktoren stratifiziert werden.
  • Ohne Risikorechner wird das kardiovaskuläre Gesamtrisiko häufig unterschätzt.2
  • Die Berechnung des kardiovaskulären Risikos soll dabei mit einem evaluierten Risikoalgorithmus erfolgen.
  • Häufig verwendete Instrumente zur Risikoberechnung sind:
    • ARRIBA (von der DEGAM für die hausärztliche Versorgungsebene empfohlen)6
      • Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses (Herzinfarkt, Schlaganfall) in den nächsten 10 Jahren
      • Entscheidungshilfe zur Kommunikation des individuellen kardiovaskulären Gesamtrisikos im hausärztlichen Bereich
      • Bezieht bei Menschen mit Diabetes das durchschnittliche HbA1c mit ein.
      • Berücksichtigt auch den therapeutisch bereits gesenkten Blutdruck.
    • SCORE2 (ESC)7 
      • Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses (Herzinfarkt, Schlaganfall) in den nächsten 10 Jahren
      • Entwickelt auf der Basis von großen europäischen Kohortenstudien.
      • Bewertet Diabetes nur kategorial und berücksichtigt nicht die aktuelle Stoffwechselsituation.
    • PROCAM (basiert auf deutschen Daten)8
      • Risiko eines tödlichen und nichttödlichen Herzinfarktes in den nächsten 10 Jahren
      • Bewertet Diabetes nur kategorial und berücksichtigt nicht die aktuelle Stoffwechselsituation.

Prädiktoren des kardiovaskulären Risikos

  • Die verwendeten Risikoprädiktoren sind bei den verschiedenen Kalkulationsinstrumenten ähnlich, aber nicht identisch.
  • Folgende Parameter fließen bei Verwendung von ARRIBA in die Berechnung des kardiovaskulären Gesamtrisikos ein:
  • Hinsichtlich des Risikofaktors Diabetes mellitus empfiehlt die DEGAM:
    • kein generelles Screening
    • Wenn Erwachsene dennoch untersucht werden sollen, kann ein Intervall von 3 Jahren ab dem vollendeten 35. Lebensjahr genutzt werden.
    • Bei erhöhtem Blutdruck sollte auf Diabetes untersucht werden.
    • Bei Menschen mit Diabetes soll das kardiovaskuläre Risiko kalkuliert werden.
    • Bei Menschen mit Diabetes sollen im Rahmen des kardiovaskulären Risiko-Assessments die Blutlipide bestimmt werden.
  • Für weitere Risikofaktoren konnte ein Zusammenhang mit kardiovaskulären Ereignissen gezeigt werden, unter Abwägung von Nutzen und Schaden sollen diese aber nicht routinemäßig zur Risikokalkulation bestimmt werden:

Klassifizierung des Risikos mit ARRIBA

  • Das prognostizierte 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis wird in drei Schweregrade klassifiziert:
    • niedrig: < 10 %
    • mittel: 10 % bis < 20 %
    • hoch: ≥ 20 %
  • Zu berücksichtigen ist beim ARRIBA-Instrument, dass das Ereignisrisiko bei Frauen leicht unterschätzt und bei Personen im Alter von 30–69 Jahren leicht überschätzt wird.
  • Am kardiovaskulären Risiko orientieren sich auch Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses GBA zur Verordnung von Lipidsenkern (ab einem kardiovaskulären 10-Jahres-Gesamtrisiko von ≥ 20 %).

Risikokommunikation mit ARRIBA

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.6
  • ARRIBA wurde neben der reinen Risikokalkulation auch explizit als Beratungsinstrument und Entscheidungshilfe konzipiert.
  • Das Akronym steht für:
    • Aufgabe gemeinsam definieren.
    • Risiko subjektiv – welche Vorstellung haben die Patient*innen?
    • Risiko objektiv – Darstellung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses
    • Informieren über Interventionen (bzw. abwartendes Offenhalten).
    • Bewertung der Möglichkeiten inkl. objektiver und subjektiver Faktoren
    • Absprache über das weitere Vorgehen
  • Die Prognose kann mit Histogrammen, Diagrammen oder Smileys anschaulich vermittelt werden.
  • Zudem kann veranschaulicht werden, wie viele kardiovaskuläre Ereignisse durch bestimmte Maßnahmen (Lebensstiländerung, Medikamente) verhindert werden können.

Leitlinie: Risikokalkulation und -kommunikation1

  • Zur Risikoberatung und gemeinsamen Therapie-Entscheidungsfindung sollte das ARRIBA-Instrument eingesetzt werden.

Maßnahmen zur Primärprävention

Nichtmedikamentöse Maßnahmen

Allgemeines zur Beratung

  • Bei erhöhtem kardiovaskulärem Risiko soll eine Beratung zu gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen stattfinden, vor allem
  • Dies führt nachweislich zu anhaltender Risikoreduktion.2
  • Ein evidenzbasiertes Modell zur Beratung ist die sog. 5A-Strategie:
    1. Assess: Erfassen des Risikoverhaltens und der Veränderungsbereitschaft (Motivation, Verhalten, Wissen)
    2. Advise: direkte, deutliche Empfehlung zur Verhaltensänderung
    3. Agree: Festlegung von gemeinsamen Zielen unter Berücksichtigung der Änderungsbereitschaft
    4. Assist: Unterstützende Maßnahmen unter Berücksichtigung der Änderungsbereitschaft
    5. Arrange: Vereinbarung und Durchführung von Folgekontakten

Körperliche Aktivität

  • Empfohlen werden sollten Freizeitaktivitäten
    • von moderater Intensität
      • Atemfrequenz oder Puls steigen spürbar an mit Wärmegefühl oder Schwitzen, aber ohne Gefühl der Erschöpfung.
    • über mindestens 30 min an 5 Tagen der Woche.
  • Das kardiovaskuläre Risiko liegt bei Personen, die sich bewegen, um ca. 35 % niedriger. Diese Erkenntnis beruht allerdings auf Kohortenanalysen – ein Verzerrungsrisiko ist dabei nicht auszuschließen – z. B.: Ohnehin gesunde Menschen, die sich auch viel bewegen, leben länger. Ob die Bewegung wirklich für eine Verlängerung der Lebenserwartung verantwortlich ist, wissen wir nicht.
  • Die einzige randomisierte Studie zum Thema9 wurde bei Menschen mit Diabetes durchgeführt – und führte zu dem enttäuschenden Ergebnis, dass neben einer HbA1c-Senkung klinische Endpunkte wie Infarktrate und Mortalität nicht beeinflusst werden konnten.
  • Sofern nur eine geringere Belastungsdauer erreicht wird, gilt:
    • Jede regelmäßige moderate Bewegungseinheit zählt.
    • Sogar eine minimale Bewegung ist im Vergleich zu völliger körperlicher Inaktivität mit einer Verringerung der Sterblichkeit assoziiert.10
  • Aktivitäten mit moderater Intensität sind z. B.:
    • Gehen 5 km/h: 3,3 MET (MET = metabolisches Äquivalent)
    • Nordic Walking 6 km/h: 5 MET
    • Fahrradfahren 18 km/h: 6 MET
  • Ob durch alleiniges Krafttraining das kardiovaskuläre Risiko reduziert werden kann, ist derzeit unklar.11

Ernährung

  • Ernährungsgewohnheiten beeinflussen das kardiovaskuläre Risiko v. a. über die Beeinflussung von Risikofaktoren wie Dyslipidämie, Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Übergewicht, häufig aber auch einfach via Wohlbefinden und Steigerung der Lebensqualität.7
  • Bei der Ernährung kann zwischen der qualitativen und quantitativen Komponente unterschieden werden.11
    • Basis ist die qualitative Komponente (vaskulär-myokardial protektive Ernährung).
    • Die quantitative Komponente ist nur bei Adipositas und v. a. metabolischer Entgleisung zu berücksichtigen.11
  • Die Ernährung sollte daher vor allem abwechslungsreich sein und sich an den Empfehlungen zur mediterranen Kost orientieren.
    • Dadurch und durch die Vermeidung verarbeiteter Produkte soll der Anteil gesättigter Fette möglichst gering sein, sie sollten durch einfach bzw. mehrfach ungesättigte Fettsäuren ersetzt werden.
  • Eine Supplementierung mit Vitaminen und/oder Antioxidanzien soll im Allgemeinen nicht empfohlen werden.
Zusammensetzung einer mediterranen Kost
  • Täglich
    • Getreide: 1–2 Portionen pro Mahlzeit, vorzugsweise als Vollkornprodukte
    • Gemüse: 2 oder mehr Portionen pro Mahlzeit, mindestens eine als Rohkost
    • Obst: 1–2 Portionen pro Mahlzeit, z. B. als Dessert
    • Trinken: 1,5–2 l Wasser und ungesüßter Kräutertee
    • Milchprodukte: 2 Portionen pro Tag, bevorzugt fettarm
    • Olivenöl: elementareres Element, reich an einfach-ungesättigten Fettsäuren
    • Oliven, Nüsse, Körner/Saat: Quelle für Fette, Proteine, Vitamine
    • Gewürze, Kräuter, Knoblauch, Zwiebeln: als Gewürze zur Geschmacksvariation und zur Reduktion des Salzkonsums
  • Wöchentlich
    • Fisch/Meeresfrüchte: 2 oder mehr Portionen
    • Eier: 2–4 Portionen (inkl. Kochen und Backen)
    • weißes Fleisch: 2 Portionen
    • rotes Fleisch: weniger als 2 Portionen, industriell weiterverarbeitete Produkte (z. B. Wurst, Fertigkost) weniger als 1 Portion
    • Kartoffeln: bis zu 3 Portionen, möglichst frisch zubereitet
  • Allgemeines
    • Alkohol: Der Konsum sollte beschränkt werden auf maximal moderaten Konsum (Männer bis 2 Glas Wein täglich, Frauen bis 1 Glas täglich zu den Mahlzeiten).
    • Salzkonsum < 6 g pro Tag

Rauchstopp

  • Bei allen Personen sollte der Nikotinkonsum erfragt und dokumentiert werden.
  • Es soll empfohlen werden, das Rauchen vollständig einzustellen.
  • Der Verzicht auf Rauchen ist die wirksamste aller Lebensstilinterventionen.12
  • Ein Rauchstopp ist gleichzeitig wirksamer als jede Pharmakotherapie.
    • Risikoreduktion um ca. 35–50 %
  • Das Beendigen des Rauchens verlängert das Leben im Mittel um:11
    • ca. 10 Jahre bei Rauchstopp im Alter von 25–34 Jahren
    • ca. 9 Jahre bei Rauchstopp im Alter von 35–44 Jahren
    • ca. 6 Jahre bei Rauchstopp im Alter von 45–54 Jahren
  • Effektivität der ärztlichen Beratung bei der Einleitung eines Nikotinverzichts
    • spontane Rate ohne Beratung: 2 %/Jahr
    • Rate nach einfacher, kurzer ärztlicher Beratung: 3–5 %/Jahr
    • Höhere Raten werden durch intensivere und geschulte hausärztliche Beratung erreicht (unterstützendes Material unter www.rauchfreiinfo.de).
  • E-Zigaretten sind eine Option zur Entwöhnung vom Rauchen.13-14 Spezifische pulmonale Risiken sowie das Risiko einer chronischen Abhängigkeit von E-Zigaretten sind zu berücksichtigen.

Medikamentöse Maßnahmen

Arterielle Hypertonie

  • Screening: Eine Blutdruckmessung sollte im Regelfall alle 3 Jahre im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung sowie anlassbezogen erfolgen, bei Patient*innen mit Diabetes z. B. bei jeder DMP-Konsultation.
  • Der Beginn einer antihypertensiven Therapie richtet sich nach dem kardiovaskulären Gesamtrisiko.
    • 10-Jahres-Risiko < 20 %
      • Lebensstiländerung für 4–6 Monate (syst. Blutdruck 140–159 mmHg und/oder diast. Blutdruck 90–99 mmHg)
      • Lebensstiländerung für einige Wochen (syst. Blutdruck 160–179 mmHg und/oder diast. Blutdruck 100–109 mmHg)
      • Eine medikamentöse antihypertensive Therapie sollte bei Nichterreichen des Blutdruckzielwertes nach diesen Intervallen empfohlen werden.
    • 10-Jahres-Risiko ≥ 20 %
      • Syst. Blutdruck > 140 mmHg und/oder diastolisch > 90 mmHg: Der Beginn einer medikamentösen Therapie sollte empfohlen werden.
      • syst. Blutdruck ≥ 180 mmHg und/oder diastolisch ≥ 110 mmHg: zeitnaher Beginn der medikamentösen, antihypertensiven Therapie
    • Ältere (> 80 Jahre)
      • Bei Personen > 80 Jahre kann über einen Therapiebeginn bzw. -stopp individuell entschieden werden.
  • Therapieziele
    • Primäres Ziel ist die Reduktion des kardiovaskulären Gesamtrisikos.
    • Im Allgemeinen soll ein Blutdruck von ≤ 140 mmHg systolisch und von ≤ 90 mmHg diastolisch angestrebt werden.
  • Die primäre Auswahl des Antihypertensivums sollte erfolgen nach:
    • Wirksamkeit
    • Verträglichkeit
    • Begleiterkrankungen
    • Kosten
  • Die Behandlung kann begonnen werden als:
    • Monotherapie (1. Wahl: Diuretika, ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptorblocker, Ca-Antagonisten)
    • Kombinationstherapie, z. B.:
      • Diuretikum+ ACE-Hemmer (oder ARB)
      • Ca-Antagonist + ACE-Hemmer (oder ARB)
      • Diuretikum + Betablocker
  • Ein Therapiebeginn mit zwei Antihypertensiva mit halber Standarddosis kann erwogen werden, um mögliche Nebenwirkungen zu minimieren.
  • Eine Kombinationstherapie wird zudem empfohlen, wenn durch die Behandlung mit einem Medikament in adäquater Dosis der Blutdruck noch > 20/10 mmHg über dem Zielwert liegt.
  • Bei weiter unzureichend eingestelltem Blutdruck kann die Dosis im Rahmen der 2er-Kombination erhöht und ggf. die Therapie auf 3er-oder 4er-Kombination ausgebaut werden.
  • Erfolgskontrolle: in der Regel monatliche Folgeuntersuchung bis zum Erreichen des Blutdruck-Zielwertes

Hypercholesterinämie

  • Vor Beginn einer lipidsenkenden Behandlung sollten zunächst sekundäre Hyperlipoproteinämien bedacht und entsprechende Grunderkrankungen behandelt werden (z. B. Nieren- und Lebererkrankungen, Diabetes mellitus, Hypothyreose).
  • Außerdem ist wegen der besseren Effekte einer Lebensstiländerung auf das Gesamtrisiko (relative Reduktion ca. 35–45 %) vor Einleitung einer lipidsenkenden medikamentösen Behandlung eine Darstellung der absoluten und relativen kardiovaskulären Risiken und der möglichen Therapieeffekte sinnvoll (ARRIBA).
  • Empfehlungen in Abhängigkeit vom kardiovaskulären 10-Jahres-Gesamtrisiko
    • Risiko > 20 %: Statintherapie sollte angeboten werden.
    • Risiko 10–20 % (bzw. deutlich erhöhtes altersbezogenes Risiko): Eine Statintherapie kann nach individueller Beratung erwogen werden.
  • Außerdem sollte Patient*innen mit sehr hohem Gesamt-Cholesterin > 8 mmol/l (> 310 mg/dl) bzw. LDL > 4,9 mmol/l (> 190 mg/dl) PLUS bei familiärer Hypercholesterinämie und Belastung mit kardiovaskulären Erkrankungen aufgrund des per se stark erhöhten Risikos eine Statintherapie empfohlen werden.
  • Relative und absolute Risikoreduktion
    • In Studien mit vorwiegend niedrig-moderat dosierten Statinen (z. B. Simvastatin 40 mg) wurde das relative Risiko für Myokardinfarkt um ca. 30 % und für die Mortalität um ca. 10 % gesenkt.15
    • in den vorliegenden Studien bei medianer Therapiedauer 4 Jahre geringe absolute Reduktion (Risikoreduktion abhängig vom individuellen Ausgangsrisiko): Myokardinfarkt 0,8 %, Schlaganfall 0,4 %, Mortalität 0,4 %15
  • Time-to-benefit
    • Zur Vermeidung eines schwerwiegenden kardiovaskuläres Ereignisses in der Primärprävention müssen 100 Personen 2,5 Jahre lang behandelt werden.15
  • Spezielle Gruppen
    • Ältere Personen profitieren in der Primärprävention weniger von einer Statintherapie als jüngere. Bei > 75-jährigen Personen konnte ein Benefit für den Einsatz von Statinen nicht sicher nachgewiesen werden.15
    • Bei bekanntem Diabetes mellitus ist eine etwas höhere absolute Risikoreduktion zu erwarten als ohne Diabetes mellitus.
    • Bei Dialyse oder Herzinsuffizienz ist kein Nutzen einer Statinbehandlung belegt.
  • Dosierung
    • Die Behandlung sollte als „Fixdosistherapie“ in Standarddosierung erfolgen (insbesondere Simvastatin oder Pravastatin 20–40 mg/d), eine Dosis-Titration auf einen bestimmten LDL-Zielwert hin sollte nicht durchgeführt werden.
      • Es ist nicht belegt, dass Patient*innen in der Primärprävention von einer Titration nach bestimmten LDL-C-Zielwerten profitieren.15
      • In den aktuellen ESC-Leitlinien wird abweichend von den DEGAM-Empfehlungen eine zielwertorientierte Behandlung empfohlen.7
    • Eine Statin-Hochdosis-Therapie sollte bei Menschen ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankungen oder familiäre Hypercholesterinämie nicht durchgeführt werden.
      • Es gibt keine Daten aus randomisierten Studien, die den Nutzen einer intensivierten Statintherapie in der Primärprävention belegen.15
      • Ab einer mittleren Dosis führt eine Verdoppelung der Dosis meist nur zu geringem zusätzlichen LDL-Effekt bei Zunahme der Nebenwirkungen. Simvastatin sollte keinesfalls mit mehr als 40 mg eingesetzt werden.16
  • Muskelschmerzen als Nebenwirkung
    • Auftreten typischerweise 4–6 Wochen nach Therapiebeginn
    • Im ersten Behandlungsjahr bei moderater Dosis tritt ein zusätzlicher Fall von Muskelbeschwerden/100 Personen, der auf die Statintherapie zurückgeführt werden kann.15
    • Bei Muskelbeschwerden unter Statinen sind folgende Fragen zu klären:15
      1. Liegt eine Muskelschädigung vor (CK > 5-fach oberer Grenzwert)?
      2. Gibt es Hinweise auf andere Ursachen der Muskelbeschwerden?
      3. Besteht weiterhin aus Ärzt*innen- und Patientensicht ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis der Statintherapie?
      4. Wird eine sehr niedrige Dosis oder ein alternatives Statin vertragen?
    • Die Diagnose einer „Statin-Intoleranz“ setzt voraus, dass mindestens zwei verschiedene Statine auch in niedriger Dosierung nicht vertragen wurden.15
    • mögliche Maßnahmen
      1. Dosisreduktion
      2. Wechsel auf ein anderes Statin
      3. Absetzen
  • Andere Wirkstoffe als Statine (oder bei Unverträglichkeit Fibrate) wie Ezetimib, Cholestyramin, Omega-3-Fettsäuren sollten bei Menschen ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankungen oder familiäre Hypercholesterinämie wegen fehlendem Nutzenbeweis nicht verwendet werden.
  • Bei familiärer Häufung kardiovaskulärer Erkrankungen und stark erhöhten Cholesterinwerten sollte eine Überweisung zur spezialisierten Versorgungsebene erfolgen.

Diabetes mellitus

  • Primäre Maßnahmen bei Diabetes mellitus sind regelmäßige körperliche Aktivität, Ernährungsberatung, Gewichtsabnahme, erst danach die medikamentöse Therapie.2
  • Zur Senkung des kardiovaskulären Risikos bei übergewichtigen Menschen mit Typ-2-Diabetes sollte Metformin eingesetzt werden, wenn mit Veränderungen des Lebensstils keine befriedigende HbA1c-Senkung erzielt wird.
    • Senkung des Risikos durch Metformin relativ um 40 %
  • Eine medikamentöse Senkung des HbA1c unter 7,0 % erbringt keinen Nettonutzen und soll daher nicht zur kardiovaskulären Prävention eingesetzt werden.

Thrombozytenaggregationshemmer

  • Der Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmer in der Primärprävention ist seit Jahren umstritten.17-19
  • In aller Regel sollte ASS in der kardiovaskulären Primärprävention nicht eingesetzt werden.
  • Bei einem sehr hohen kardiovaskulären Risiko sind mögliche primärpräventive Effekte von ASS gegen das zu erwartende Blutungsrisiko (sowie eine mögliche medikamentöse Gastroprotektion) individuell ausführlich zu diskutieren.
  • Bei Personen ≥ 60 Jahre soll eine Thrombozytenaggregationshemmung im primärpräventiven Setting grundsätzlich nicht angeboten werden.1,20

Genderbedingte Unterschiede

  • Insgesamt gibt es zu Mechanismen, Prognose und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen weniger gesichertes Wissen, da sie in Studien in der Vergangenheit unterrepräsentiert waren.21
  • Klassische Risikofaktoren können in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Auswirkungen haben.
    • Beispielsweise ist Rauchen bei Frauen mit einem höheren relativen Risiko von Herzerkrankungen assoziiert.21
    • Umgekehrt führt ein Rauchstopp bei Frauen rascher zu einem Rückgang des Risikos als bei Männern.22
  • Bei Frauen wurden bisher Risikofaktoren seltener erfasst als bei Männern, und sie wurden seltener über ein bestehendes kardiovaskuläres Risko aufgeklärt.21,23-24
  • Andererseits nutzen aufgeklärte Frauen häufiger primärpräventive Strategien als Männer.25
  • Der ARRIBA-Rechner unterschätzt bei Frauen tendenziell das Risiko.25

Besonderheiten bei Älteren

  • Ältere Personen sind oft nur begrenzt in den Therapiestudien abgebildet, sodass die entsprechende Evidenz fehlt.26
  • Es bedarf daher besonders häufig individueller Überlegungen in der Therapie.
  • Statine
    • Im Alter sollte die Therapieindikation unter Berücksichtigung der 10-Jahres-Lebenserwartung gestellt werden.1
    • Bei Personen > 75 Jahre ohne Diabetes liegt ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht sicher vor.27
      • Insbesondere bei reduzierter Lebenserwartung und eingeschränktem Allgemeinzustand kann hier auch ein Absetzen einer bestehenden Statintherapie diskutiert werden.27
  • Antihypertensiva
    • Evidenz liegt vor für Personen zwischen 40 und 80 Jahren, der Beginn einer antihypertensiven Therapie bei Älteren sollte individuell entschieden werden.1
    • Während fitte Ältere vermutlich von einer antihypertensiven Therapie profitieren, ist der Nutzen bei geriatrischen Patient*innen weniger klar.26
      • Zu berücksichtigen ist dabei auch ein erhöhtes Sturzrisiko, Antihypertensiva zählen zu den „Fall-Risk-Increasing Drugs“.
  • Thrombozytenaggregationshemmer
    • Aufgrund des ansteigenden Blutungsrisikos ist der Einsatz von ASS zur Primärprävention bei Älteren besonders kritisch zu sehen.28

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Patienteninformationen der DEGAM

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). S3-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. AWMF-Nr. 053-024, Stand 2016. register.awmf.de
  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Schlaganfall. AWMF-Nr. 053-011. S3, Stand 2020. www.awmf.org
  • European Society of Cardiology. Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Stand 2021. www.escardio.org
  • Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Leitfaden „Medikamentöse Cholesterinsenkung zur Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse“. Stand Juli 2023. www.akdae.de

Literatur

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  2. Bleckwenn M, Weckbecker K. Von der Leitlinie in die Hausarztpraxis - Kardiovaskuläre Primärprävention. MMW - Fortschritte der Medizin 2018; 13: 54-59. doi:10.1007/s15006-018-0021-3 DOI
  3. Deutsche Herzstiftung. Deutscher Herzbericht 2021. herzstiftung. de, Zugriff 20.0.23. www.herzstiftung.de
  4. Busch M, Kuhnert R. 12-Monats-Prävalenz von Schlaganfall oder chronischen Beschwerden infolge eines Schlaganfalls in Deutschland. Journal of Health Monitoring 2017; 2: 71-75. doi:10.17886/RKI-GBE-2017-010 DOI
  5. Angelow A, Klötzer C, Donner-Banzhoff N, et al. Validation of cardiovascular risk prediction by the arriba instrument— an analysis based on data from the Study of Health in Pomerania. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 476–82. doi:10.3238/arztebl.m2022.0220 DOI
  6. Konsultation mit arriba. arriba-hausarzt.de, Zugriff 21.02.23. arriba-hausarzt.de
  7. European Society of Cardiology. Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Stand 2021. www.escardio.org
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Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i.Br.
  • Günther Egidi, Dr. med., Arzt für Allgemeinmedizin, Bremen (Review)
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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