Akute Extremitätenischämie (ALI)

Zusammenfassung

  • Definition:Akute arterielle Durchblutungsstörung einer Extremität durch eine Embolie oder lokale Thrombose mit ischämischer Gewebsschädigung. Akute Extremitätenischämie definiert bis 14 Tage nach Symptombeginn. Überwiegend sind die unteren Extremitäten betroffen (85 %).
  • Häufigkeit:Inzidenz von 7–15/100.000 Einw./Jahr, zunehmend mit steigendem Lebensalter.
  • Symptome:Akuter Schmerz, Blässe und Kälte der Extremität, sensible und motorische Ausfälle.
  • Befunde:Im Seitenvergleich blasse und kalte Extremität mit fehlenden oder abgeschwächten peripheren Pulsen.
  • Diagnostik:Dopplersonografischer Ausfall der Flusssignale (venös und/oder arteriell). Gefäßdarstellung mittels DSA, MR-A oder CT-A. Im Verlauf Diagnostik hinsichtlich der Ischämieursache.
  • Therapie:Notfallmäßige Klinikeinweisung. Sofortmaßnahmen inkl. Analgesie und Antikoagulation. Bei inkompletter Ischämie zunächst Angiografie, bei kompletter Ischämie sofortige Revaskularisation mittels offener, gefäßchirurgischer OP oder interventioneller endovaskulärer Behandlung.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Die akute Extremitätenischämie (ALI) bezeichnet die plötzliche arterielle Durchblutungsstörung einer Extremität verschiedener Ursachen.1-3
  • Innerhalb der ersten 2 Wochen nach Symptombeginn gilt eine Extremitätenischämie als akut.4-5

Häufigkeit

  • Inzidenz von 7–15 pro 100.000 Einw. pro Jahr2,4,6
  • Die Inzidenz nimmt mit steigendem Alter zu.7
  • Zu 85 % ist die untere Extremität betroffen, selten die obere.2
  • Abnahme der Majoramputationen in Deutschland (2005–2012) trotz Zunahme bedrohlicher Extremitätenischämien7

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie

  • Entstehungsmechanismen1,6
    • arterielle Embolien (30–46 %)
    • lokale Thrombose auf Basis einer Stenose (24–40 %)
    • Gefäßtransplantat- oder Stentthrombose (10–20 %)
    • Trauma (bis 5 %)
    • Thrombose eines poplitealen Aneurysmas (bis 5 %)
    • weitere, seltene Ursachen
  • Mögliche Emboliequellen6,8
  • Akute Extremitätenischämien der oberen Extremitäten stehen häufig in Zusammenhang mit systemischen Erkrankungen, z. B. maligne Grunderkrankung oder Kollagenose.

Pathogenese

  • Folge der Durchblutungsstörung ist zunächst eine Funktionsstörung, anschließend der Zelltod (irreversible Gewebeschädigung).1-2,6
    • Ischämietoleranz nach Gewebeart2
      • Nervengewebe 2–4 Stunden
      • Muskulatur 6–8 Stunden
      • Haut: 12 Stunden
  • Restperfusion bestimmt über das Ausmaß der Symptomatik und Gewebeschädigung2
    • durch zwei wesentliche Faktoren beeinflusst
      • Lokalisation und Art des arteriellen Verschlusses
      • Kollateralkreisläufe (z. B. bei chronisch progredienter PAVK)
    • bei inkompletter Ischämie Erhalt von Sensibilität und Motorik

Prädisponierende Faktoren

ICPC-2

  • K92 Arteriosklerose/periphere Gefäßkrankheiten

ICD-10

  • I74 Arterielle Embolie und Thrombose
    • I74.2 Embolie und Thrombose der Arterien der oberen Extremitäten
    • I74.3 Embolie und Thrombose der Arterien der unteren Extremitäten
    • I74.4 Embolie und Thrombose der Extremitätenarterien, nicht näher bezeichnet
    • I74.8 Embolie und Thrombose sonstiger Arterien
    • I74.9 Embolie und Thrombose nicht näher bezeichneter Arterie

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Leitlinie: Diagnostik der akuten Extremitätenischämie1

  • Klinische Diagnosestellung anhand der „5 P“
    1. „Pain“ (Schmerz)
    2. „Paleness“ (Blässe)
    3. „Pulselessness“ (Pulsverlust)
    4. „Paresthesia“ (Verlust der Sensibilität)
    5. „Paralysis“ (Verlust der Motorik)
  • Einteilung der akuten Extremitätenischämie nach Rutherford-Klassifikation
  • Akute Diagnostik mittels systematischer gefäßmedizinischer Untersuchung und Doppler- bzw. Duplexsonografie
    • Die Unterscheidung zwischen Embolie und arterieller Thrombose bei vorbestehender PAVK ist entscheidend für die Therapiestrategie.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

Beschwerden

  • Dauer der Symptome1-2,6,8
    • Typisch sind (per-)akute Beschwerden der betroffenen Extremität.
    • Auftreten meist innerhalb von Minuten bis Stunden
    • subakutere Symptome häufiger bei PAVK mit bestehenden Kollateralkreisläufen
  • Klassisch sind die Symptome der „5 P“:1,6,8
    1. „Pain“ (Schmerz)
    2. „Paleness“ (Blässe)
    3. „Pulselessness“ (Pulsverlust)
    4. „Paresthesia“ (Verlust der Sensibilität)
    5. „Paralysis“ (Verlust der Motorik)
    • z. T. weiteres, 6. „P“: „Prostration“ (Schock).
  • Auch der Übergang von Claudicatio intermittens zum Ruheschmerz kann Ausdruck einer akuten Extremitätenischämie sein.6

Ursachen

Klinische Untersuchung

Untersuchung der Extremität1-2,5-6,8

  • Beurteilung der Extremitäten im Seitenvergleich
  • Inspektion und Palpation der Haut
    • initial typischerweise abgegrenzte Blässe, Marmorierung
    • im Verlauf livide Verfärbung und/oder Zyanose
    • Temperatur: typischerweise kalte Extremität
  • Pulsstatus
    • Palpation der Arterien
      • obere Extremität: A. brachialis, A. radialis, A ulnaris
      • untere Extremität: A. femoralis, A. poplitea, A. tibialis posterior, A. dorsalis pedis
    • typischerweise einseitig fehlende Extremitätenpulse distal der Ischämie
    • beidseitiges Fehlen der distalen Fußpulse hinweisend auf PAVK
  • Neurologische Defizite
    • Sensibilität (Berührungs-, Temperatur- oder Schmerzempfinden)
    • Motorik (Kraftgrad der Muskulatur)
    • wiederholte Verlaufsbeurteilungen
  • Schwellung der Extremität häufiger bei Kompartmentsyndrom oder tiefer Venenthrombose (TVT)

Allgemeine körperliche Untersuchung6

  • Vitalparameter (Hinweis auf systemischen Schock)
  • Auskultation des Herzens (Hinweis auf Vitien, Arrhythmie)
  • ggf. Narben als Zeichen zurückliegender Operationen (z. B. Bypass-OP)
  • Trophische Störungen oder Nekrosen als Hinweis auf eine PAVK

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Keine weiterführenden Untersuchungen in der Akutsituation

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Gefäßmedizinische klinische Beurteilung5
    • Ziel Abschätzung von Vitalität und Erhaltbarkeit
  • Doppler- und Duplexsonografie1-2,6
    • farbkodierte Duplexsonografie
    • Dopplersonografie mit Dopplerverschlussdrücken
      • Verlust des arteriellen Dopplersignals spricht für eine bedrohte Extremität.
      • Verlust zusätzlich des venösen Dopplersignals ist ein Hinweis für eine irreversible Schädigung der Extremität.
  • Bildgebende Gefäßdiagnostik1-2,6,8
    • insbesondere bei diagnostischer Unsicherheit (Rutherford I und IIa) und vor Majoramputation zur Abklärung von Gefäßprozessen
    • eingesetzte Verfahren
      • computertomografische Angiografie (CT-A)
      • magnetresonanztomografische Angiografie (MR-A)
      • digitale Subtraktionsangiografie (DSA), ggf. mit Interventionsbereitschaft
  • Labordiagnostik2
    • Routinelabor
    • zusätzlich Myoglobin, Kreatininkinase (CK) und Laktatdehydrogenase (LDH)
      • Marker für irreversible Gewebeschädigung (v. a. Muskulatur)
  • Echokardiografisch kann ggf. eine Ursache von Embolien geklärt werden.

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

  • Notfallmäßige Krankenhauseinweisung bei Verdacht auf die Erkrankung1
    • Eine akute Extremitätenischämie ist ein vaskulärer Notfall.
    • Versorgung in gefäßmedizinischen Zentren anstreben.

Therapie

Therapieziele

  • Symptome lindern.
  • Verhinderung von:
    • irreversibler Gewebsschädigung
    • Majoramputationen
    • Schock und Tod.

Allgemeines zur Therapie

Leitlinie: Therapie der akuten Extremitätenischämie1

  • Behandlung schnellstmöglich in einer stationären Einrichtung mit ausreichender Expertise in allen Möglichkeiten zur Revaskularisation
  • Der Ischämiegrad gibt das diagnostische und therapeutische Procedere vor.
    • Siehe Tabelle Klassifikation der akuten Extremitätenischämie nach Rutherford.
    • bei inkompletter Ischämie (I, IIa) zunächst Angiografie
      • ggf. interdisziplinär in Interventionsbereitschaft
    • bei kompletter Ischämie (IIb, III) sofort interventionelle Therapie oder OP
    • Im Stadium III ist je nach Gewebedefekt oft eine primäre Amputation nötig.
  • Therapieverfahren interventionell oder gefäßchirurgisch
    • Entscheidend ist die rasche Verfügbarkeit und Expertise in der jeweiligen Behandlungsoptionen.
  • Offen gefäßchirurgische oder interventionelle Therapie1,5,10-11
    • entsprechend einer Cochrane-Metaanalyse keine allgemeingültige Empfehlung für eine der Therapien10
      • kein signifikanter Unterschied hinsichtlich Beinerhaltungsrate
        oder Mortalität nach 30 Tagen, 6 Monaten oder 1 Jahr
    • Ergebnisse sind ähnlich (Beinerhalt 80–90 %), allerdings ggf. geringere Mortalität bei interventionellem Vorgehen (6,5–16 % vs. 8,5–42 %).1
  • Individuelle Therapieentscheidung bei jeder Extremitätenischämie2

Sofortmaßnahmen2,5-6

  • Tieflagerung und Polsterung der Extremität
  • Vermeidung von Druck auf jegliche Bereiche der betroffenen Extremität
  • Nüchternheit beibehalten vor möglicher Notfall-OP.
  • Analgesie und Antikoagulation

Medikamentöse Therapie

Analgesie2

  • Suffiziente Analgesie anstreben.
  • Morphin s. c. oder i. v.
    • z. B. 5–10 mg Morphin
    • keine i. m. Injektionen (Gefahr der Hämatombildung bei Lysetherapie)

Antikoagulation2,5-6,8,12

  • Heparin unfraktioniert i. v.
    • initial Bolusgabe (z. B. 5.000 IE Heparin), dann kontinuierlich als Perfusor (nach PTT)
    • Kann das Fortschreiten des Thrombus reduzieren, ggf. antiinflammatorischer Effekt.
  • Fortführung postoperativ/-interventionell bis zur Identifikation der Emboliequelle

Operative Therapie

  • Gefäßchirurgische, offene Operation zur Thromboembolektomie3
  • Eingesetzte chirurgische Verfahren2,5,8
    • Katheterthrombektomie nach Fogarty
    • „Over-the-Wire“-Thrombembolektomie
    • Thrombendarteriektomie (TEA) mit Patchplastik
    • verschiedene Bypass-Verfahren
  • Intraoperativ Kombination mit Angiografie und endovaskulärer Therapie (Hybridverfahren) möglich2

Interventionelle Therapie

  • Kathetergestützte, endovaskuläre Embolektomie und/oder Thrombolyse8
  • Eingesetzte endovaskuläre Verfahren2,5,11
    • lokale direkte und pharmakomechanische Thrombolyse
    • Thrombusaspiration
    • mechanische Thrombektomie
    • Ballon- und Stentangioplastie

Prävention

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Akuter Symptombeginn
  • Progrediente Gewebeschädigung mit Dauer der Ischämie
  • Meist Beginn der Symptomatik mit Schmerzen und Blässe, im Verlauf Zyanose, Sensibilitätsstörungen und Muskellähmungen2

Komplikationen

Prognose

  • Vaskulärer Notfall mit hoher Morbidität und Mortalität6-7
  • Prognose hinsichtlich Gesamtüberleben2,4,6-7
    • 30-Tage-Mortalität von etwa 10–15 %
      • höher bei embolischen als thrombotischen Ischämien
      • höhere Letalität ab dem 80. Lebensjahr
    • Mortalitätsraten nach 1 Jahr von 15–20 %
      • Assoziation mit zugrunde liegender Herzerkrankung
  • Prognose hinsichtlich Majoramputationen2,4,6
    • 30-Tage-Majoramputations-Risiko von 10–30 %
      • höher bei thrombotischen als embolischen Ischämien
  • In Deutschland zunehmende Anzahl endovaskulärer Therapien der akuten Extremitätenischämie7
    • Reduktion der Majoramputationen in deutschen Krankenhäusern um 32 % zwischen 2005 und 2012

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Stenose der Arteria iliaca, Röntgenbild
Stenose der Arteria iliaca, Röntgenbild
Arterien der unteren Extremitäten
Arterien der unteren Extremitäten
Stentbehandlung eines engen Blutgefäßes
Stentbehandlung eines engen Blutgefäßes
Bypass einer peripheren Okklusion
Bypass einer peripheren Okklusion

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Angiologie – Gesellschaft für Gefäßmedizin. Periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK), Diagnostik, Therapie und Nachsorge. AWMF-Leitlinie Nr. 065–003. S3, Stand 2015 (abgelaufen), überarbeitete Langfassung Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Angiologie - Gesellschaft für Gefäßmedizin. Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), Diagnostik, Therapie und Nachsorge. AWMF-Leitlinie Nr. 065–003. S3, Stand 2015 (abgelaufen), überarbeitete Langfassung Stand 2020. www.awmf.org
  2. Duran M, Oberhuber A, Schelzig H, et al. Aktueller Forschungsstand zur akuten Extremitätenischämie. Gefässchirurgie 21, 83–90 (2016). doi.org
  3. Aboyans V, Ricco JB, Bartelink MEL, et al (2018) 2017 ESC guidelines on the diagnosis and treatment of peripheral arterial diseases, in collaboration with the European Society for Vascular Surgery (ESVS): document covering atherosclerotic disease of extracranial carotid and vertebral, mesenteric, renal, upper and lower extremity arteries. Endorsed by: the European Stroke Organization (ESO) the task force for the diagnosis and treatment of peripheral arterial diseases of the European Society of Cardiology (ESC) and of the European Society for Vascular Surgery (ESVS). Eur Heart J 39:763–816. doi.org
  4. Creager MA, Kaufman JA, Conte MS. Clinical practice. Acute limb ischemia. N Engl J Med. 2012;366(23):2198-2206. doi:10.1056/NEJMcp1006054 DOI
  5. Debus ES, Grundmann RT (2019). Akute Extremitätenischämie. In: Evidenzbasierte Gefäßchirurgie. Evidenzbasierte Chirurgie. Springer, Berlin, Heidelberg. doi.org
  6. Olinic DM, Stanek A, Tătaru DA, Homorodean C, Olinic M. Acute Limb Ischemia: An Update on Diagnosis and Management. J Clin Med. 2019;8(8):1215. Published 2019 Aug 14. doi:10.3390/jcm8081215 doi.org
  7. Eckstein HH, Knipfer E, Trenner M, et al. Epidemiologie und Behandlung der PAVK und der akuten Extremitätenischämie in deutschen Krankenhäusern von 2005 bis 2012. Gefässchirurgie 19, 117–126 (2014). doi.org
  8. Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirugie. Der akute periphere Arterienverschluss. DGG-Leitlinie, Stand 2008 (abgelaufen). www.klinikumdo.de
  9. AbuRahma AF, Downham L. The role of paradoxical arterial emboli of the extremities. Am J Surg 1996; 172: 214-7. PubMed
  10. Berridge DC, Kessel DO, Robertson I. Surgery versus thrombolysis for initial management of acute limb ischaemia. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013; 6: CD002784. DOI: 10.1002/14651858.CD002784.pub2. The Cochrane Library
  11. Wang JC, Kim AH, Kashyap VS. Open surgical or endovascular revascularization for acute limb ischemia. J Vasc Surg. 2016;63(1):270-278. doi:10.1016/j.jvs.2015.09.055 doi.org
  12. Alonso-Coello P, Bellmunt S, McGorrian C, et al. Antithrombotic therapy in peripheral artery disease: Antithrombotic Therapy and Prevention of Thrombosis, 9th ed: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines. Chest 2012; 141: e669S. pmid:22315275 PubMed

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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