Zusammenfassung
- Definition:Akute, selbstlimitierende Erkrankung der Haut und/oder der Schleimhäute mit polymorphen Erythemen. Häufigste Ursachen sind virale Infektionen (Herpes-simplex-Virus) und Medikamente.
- Häufigkeit:Schätzungen zur jährlichen Inzidenz liegen zwischen 0,01 und 1 %, meist bei jungen Erwachsenen.
- Symptome:Prodromalphase mit Fieber und Krankheitsgefühl. Jucken und Brennen im Bereich von Hautläsionen, Schmerzen im Bereich von Schleimhauterosionen.
- Befunde:Initial typische kokardenförmige Läsionen, im Verlauf variierendes Erscheinungsbild. Betroffen sind vor allem die streckseitigen Extremitäten. Schleimhautbeteiligung vor allem enoral.
- Diagnostik:Klinische Diagnosestellung, im Einzelfall ergänzend Biopsie/Histologie.
- Therapie:Bei leichten Verläufen keine Therapie erforderlich, ansonsten symptomatisch mit Antihistaminika, Kortikosteroiden.
Allgemeine Informationen
Definition
- Das Erythema multiforme (EM) ist eine akute, selbstlimitierende Erkrankung der Haut und/oder der Schleimhäute mit polymorphen Erythemen.1-2
- Es handelt sich um eine Hypersensitivitätsreaktion, die meist durch virale Infektionen (v. a. HSV) oder Medikamente verursacht wird.3
- Synonym: Erythema exsudativum multiforme
Klassifikation
- EM minor
- nur kutane Manifestationen
- Auftreten bevorzugt an den Extremitäten4
- Gesicht und Rumpf können auch betroffen sein.
- EM major
Häufigkeit
- Prävalenz und Inzidenz
- keine genauen epidemiologischen Daten
- Schätzungen zur jährlichen Inzidenz liegen zwischen 0,01 und 1 %1
- Geschlecht
- m:w ca. 3:23
- Alter
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Über 90 % der Fälle werden durch Infektionen ausgelöst.7
- vor allem Herpes-simplex-Virus (HSV)
- bei Kindern auch gehäuft durch Mykoplasmen
- Insgesamt sind zahlreiche Auslöser in der Literatur beschrieben, manche Fälle bleiben aber auch ätiologisch ungeklärt.1,4,6,8-10
- Infektionen
- viral: HSV 1 und 2, EBV, CMV, Hepatitis C, Influenza, SARS-CoV-2
- bakteriell: Mycoplasma pneumoniae, Yersinia enterocolitica, Mycobacterium tuberculosis
- Pilze: Candida, Histoplasma
- Medikamente: NSAR, Antiepileptika, Sulfonamide, Antibiotika u. a.
- Impfungen: MMR, HBV, HPV, SARS-CoV-2 u. a.
- Andere: entzündliche Darmerkrankungen, Malignome, Menstruation, UV-Licht
Pathogenese
- Die Pathogenese ist unvollständig verstanden.11
- Wahrscheinlich immunvermittelte Hypersensitivitätsreaktion5
- Zytotoxische Immunreaktion gegen Keratinozyten (die z. B. HSV-Antigene exprimieren), CD8-positive T-Lymphozyten induzieren Apoptose der Keratinozyten.4
Prädisponierende Faktoren
- Genetische Prädisposition1
- Assoziation mit HLA-B35, HLA-B62 und HLA-DR53
ICPC-2
- S99 Hautkrankheit, andere
ICD-10
- L51 Erythema multiforme
- L51.0 Nicht-bullöses Erythema multiforme
- L51.1 Bullöses Erythema multiforme
- L51.8 Sonstiges Erythema multiforme
- L51.9 Erythema multiforme, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinische Diagnose7
- typische Anamnese (Virusinfektion, Medikamente)
- typischer klinischer Befund mit Kokardenläsionen
- Im Einzelfall ergänzende Hautbiopsie/Histologie4
Differenzialdiagnosen
- Virales Exanthem
- Urtikaria
- Polymorphe Lichtdermatose12
- Pityriasis rosea
- SJS/TEN
- Arzneimittelinduzierte Hautreaktionen
- Toxic Shock Syndrome
- Staphylococcal Scalded Skin Syndrome (SSSS)
- Allergische Vaskulitis
- Pemphigus und Pemphigoid
- Hand-Fuß-Mund-Krankheit
- Lupus erythematodes, kutaner
- Sweet Syndrom
- Porphyria cutanea tarda
- Insektenstiche und -bisse
Anamnese
- Prodromi (ca. 1 Woche vor Auftreten der Hautläsionen), bei EM minor nur mild, bei EM major oft ausgeprägt
- Fieber
- grippeartiges Krankheitsgefühl
- Symptome
- Zurückliegende (ca. 1–2 Wochen) Infektionen (v. a. HSV)
- Medikamente (v. a. NSAR, Sulfonamide, Antibiotika, Antiepileptika)
- Vorerkrankungen
Klinische Untersuchung
- Art der Hautläsionen
- Verteilung der Hautläsionen
- Erosionen im Bereich von Schleimhäuten (Lippen, enoral, nasal, urogenital)
- Mundschleimhaut am häufigsten betroffen2
- Gerötete Konjunktiven bei Augenbeteiligung
- Variante des EM majus (Fuchs-Syndrom): ausschließliche Beteiligung von Konjunktiven und Genitalschleimhaut4
Ergänzende Untersuchungen in der hausärztlichen Praxis
- Es gibt keine pathognomonischen Laborbefunde.13
- Das Labor ist häufig unauffällig.4
- Die Entzündungsparameter können erhöht sein (BSG, CRP, Leukozyten).4
- Evtl. serologische Untersuchungen auf zurückliegende Infektionen (HSV, Mykoplasmen).10
Diagnostik bei Spezialist*innen
Biopsie/Histologie
- Vor allem auch zum Ausschluss anderer Hauterkrankungen
- Histologisches Bild bei EM4
- initial lymphozytäres perivaskuläres Infiltrat mit Ödem
- im Verlauf vakuoläre Degeneration der Basalzellschicht und nekrotische Keratinozyten
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
- Überweisung an ophthalmologische Praxis bei Augenbeteiligung
- Klinikeinweisung bei V. a. schwere, generalisierte Hautreaktion (SJS/TEN, SSSS, TSS, Pemphigus, bullöses Pemphigoid u. a.)
Therapie
Therapieziele
- Symptome lindern.
- Komplikationen vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
- Die Behandlung hängt ab von:7
- der Ätiologie
- dem Schweregrad der Erkrankung
- Nach Identifizierung einer auslösenden Infektion/Medikation erfolgt vor einer symptomatischen Therapie zunächst:8
- Behandlung der Infektion
- Beendigung der verursachenden Medikation
- Leichte Fälle erfordern keine medikamentöse Behandlung.
Medikamentöse Therapie
Akutes EM8
- Erstlinientherapie
- Antiseptika
- topische Kortikosteroide, z. B.:
- 0,1 % Triamcinolon-Creme
- 0,05 % Betamethason-Lösung
- Antihistaminika
- Uneinheitliche Datenlage zum Einfluss antiviraler Therapie auf den Verlauf eines HSV-assoziierten EM
- Bei enoralem Befall antiseptische/anästhesierende Mundspülungen
- Bei schwerem EM major mit ausgeprägter Schleimhautbeteiligung evtl. systemische Steroide
- z. B. Prednison 40–60 mg/d, Ausschleichen über 2–4 Wochen
- Bei Augenbeteiligung nach augenärztlicher Beurteilung
- kortikoidhaltige Augentropfen
- antibiotische Augentropfen
- Tränenersatz
Rezidivierendes EM8
- Ein rezidivierendes HSV-assoziiertes EM kann mit antiviraler Langzeitprophylaxe behandelt werden.
- Eingesetzt werden können:
- Aziclovir 400 mg 2 x/d
- Valaziclovir 500 mg 2 x/d
- Famciclovir 250 mg 2 x/d
- Bei Ansprechen ist eine Behandlung über 1–2 Jahre sinnvoll.8
- Ziel der Behandlung ist eine Verminderung der Anzahl an Rezidiven und evtl. eine komplette Remission.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Superinfektionen
- Narbenbildung bei schwerem Verlauf
- Behinderte orale Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme bei Mundschleimhautbeteiligung
Verlauf und Prognose
- Überwiegend kommt es zu einer Abheilung nach 2–4 Wochen ohne Narbenbildung.4
- Selten ist eine Hospitalisierung notwendig.3
Rezidive
- Treten vor allem bei EM minor auf, bei EM major meist nur einmaliger Schub.4
- Rezidiv bei bis zu 1/3 der Fälle mit EM minor5
- v. a. nach HSV-Infektion3
- Nach Beendigung einer antiviralen Therapie kommt es häufig erneut zu einem Rezidiv.8
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Illustrationen
Quellen
Literatur
- Sokumbi O, Wetter D. Clinical features, diagnosis, and treatment of erythema multiforme: a review for the practicing dermatologist. Int J Dermatol 2012; 51: 889-902. read.qxmd.com
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- Miguel D, Lindhaus C. Polymorphe Lichtdermatose in der Gestalt von Erythema multiforme. Dtsch Arztebl Int 2018; 115(38): 627; DOI: 10.3238/arztebl.2018.062. www.aerzteblatt.de
- Nonnenmacher M. Retrospektiv ist alles klar. Swiss Med Forum 2022; 22: 1-2. doi:10.4414/smf.2022.09041 DOI
Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i.Br.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).