Schmerzen bei sexueller Aktivität (Dyspareunie)

Zusammenfassung

  • Definition:Unter Dyspareunie versteht man genitale Schmerzen in Verbindung mit dem Geschlechtsverkehr. Als Vaginismus bezeichnet man wiederkehrende oder persistierende unwillkürliche Spasmen der Muskulatur des distalen Drittels der Vagina im Zusammenhang mit der vaginalen Penetration.
  • Häufigkeit:Lebenszeitprävalenz der Dyspareunie: > 50 % aller Frauen. Prävalenz des Vaginismus in der weiblichen Gesamtbevölkerung: 0,5–1 %.
  • Symptome:Vulvaschmerzen bei Dyspareunie werden häufig als schneidend, juckend, stechend oder brennend beschrieben. Beim Vaginismus kommt es zusätzlich zur Verkrampfung der Beckenboden- und Scheidenmuskulatur häufig zu einer Anspannung der Muskulatur von Becken, Oberschenkeln, Bauch und Beinen. 
  • Befunde:Lokale pathologische Befunde bei der gynäkologischen Untersuchung sind oft wegweisend bei der Ursachensuche.
  • Diagnostik:Ist keine organische Ursache zu ermitteln, ggf. weiterführende Psychodiagnostik, u. a. zum Ausschluss zugrunde liegender oder begleitender psychischer Störungen.
  • Therapie:Ursachenorientiert je nach zugrunde liegender Erkrankung. Bei Vaginismus kognitive Verhaltenstherapie, Sexualberatung, ggf. Physiotherapie mit Biofeedback, Beckenbodenübungen und Anwendung vaginaler Dilatatoren.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-4

Definition

Dyspareunie

  • Wiederkehrende oder persistierende genitale Schmerzen in Verbindung mit dem Geschlechtsverkehr
  • Subklassifikationen
    • primäre Dyspareunie: ab der Koitarche bestehend
    • sekundäre Dyspareunie: im Laufe des sexuell aktiven Lebensabschnitts erworben
    • oberflächliche Dyspareunie: koitale Schmerzen im Bereich des Introitus vaginae
    • tiefe Dyspareunie: Unterleibschmerzen beim Geschlechtsverkehr

Vaginismus

  • Wiederkehrende oder persistierende unwillkürliche Spasmen der Muskulatur des distalen Drittels der Vagina im Zusammenhang mit der vaginalen Penetration

Vulvodynie

  • Missempfindung der Vulva, meist als brennender Schmerz beschrieben
  • Tritt auf in Abwesenheit von:
    • relevante sichtbare Befunde
    • spezifische, klinisch identifizierbare neurologische Erkrankung
  • Symptome bestehen seit mindestens 3 Monaten.

Häufigkeit

  • Dyspareunie
    • je nach untersuchter Population: 1,5–70 %
    • in klinisch gynäkologischen Kohorten > 40 %
    • postmenopausal: 9–21 %
    • Lebenszeitprävalenz >50 % aller Frauen
  • Vaginismus
    • in der weiblichen Gesamtbevölkerung: 0,5–1 %
  • Vulvodynie
    • Lebenszeitprävalenz ca. 5–10 % aller Frauen
    • Geht in rund 95 % der Fälle mit Dyspareunie einher.

Ätiologie und Pathogenese

Oberflächliche Dyspareunie

  • Mögliche Ursachen
    • Vulvitis/Vulvovaginitis, z. B.:
      • genitale Herpesinfektion
      • atrophische Vulvitis.
    • Urethritis, z. B. bei Harnwegsinfekt
    • lokale Haut- oder Schleimhautreizungen/-entzündungen, z. B.:
    • Mukosadysfunktion, z. B.:
      • Strahlentherapie
      • lubrikationshemmende Medikamente, z. B. hormonelle Kontrazeptiva, Antidepressiva, manche Antihypertensiva
      • vaginale Atrophie des Klimakteriums, mit verminderter Lubrikation.
    • Trauma von Vulva, Vagina oder Beckenboden
      • gynäkologische Voroperationen
      • geburtshilfliche Verletzungen oder Interventionen (z. B. Episiotomie)
      • sexuelle Gewalt
      • weibliche Genitalverstümmelung 
    • Obstruktion aufgrund struktureller Anomalien anderer Ursache
    • Vaginismus (s. u.)
    • Vulvodynie (Näheres zur Ätiologie und Pathogenese sowie weitere Differenzialdiagnosen siehe dort)

Tiefe Dyspareunie

Vaginismus

  • Bedingter (konditionierten) Reflex, bei dem vaginale Penetration zu einer Kontraktion des Beckenbodenmuskels M. pubococcygeus und der Muskulatur im distalen Drittel der Vagina führt.
  • Vaginaler Geschlechtsverkehr und gynäkologische Untersuchung oder auch das Einführen eines Tampons sind dadurch schmerzhaft oder nicht durchführbar.
  • Die Patientin assoziiert sexuelle Aktivität mit Schmerzen und hat Angst davor.
    • evtl. zusätzliche Anspannung der Muskulatur von Becken, Oberschenkeln, Bauch und Beinen
  • Primärer vs. sekundärer Vaginismus
    • primär
      • Tritt meist beim ersten Koitus auf.
    • sekundär
      • erworben
      • Tritt erst im Lauf des sexuell aktiven Lebensabschnitts auf.
      • Kann auch infolge einer Dyspareunie auftreten.
  • Die Ätiologie ist nur unvollständig aufgeklärt.

ICPC-2

  • X04 Schmerzen Geschlechtsverkehr

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20226
  • F52 Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
    • F52.5 Nichtorganischer Vaginismus
    • F52.6 Nichtorganische Dyspareunie
  • N94 Schmerz und andere Zustände im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus
    • N94.1 Dyspareunie
    • N94.2 Vaginismus

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose erfolgt anhand der typischen Anamnese.

Anamnese

  • Schmerzanamnese
    • Erstes Auftreten, zeitlicher Verlauf?
    • Lokalisation?
    • Charakter?
      • Vulvaschmerzen bei Dyspareunie werden häufig als schneidend, juckend, stechend oder brennend beschrieben.
    • Schweregrad?
    • Dauer?
    • Begleitsymptome?
      • z. B. Allodynie/Hyperalgesie als Hinweis auf eine Vulvodynie mit neuropathischer Komponente
  • Komorbidität im Bereich der Sexualfunktion?
    • Wiederholt schmerzhafter Geschlechtsverkehr kann dazu führen, dass die Patientin aus Angst vor Schmerzen sexuellen Kontakt gänzlich meidet.
  • Psychosexuelle Anamnese
    • Unabhängig von der Genese der Dyspareunie kommt es stets auch zu einer psychischen Reaktion bei den Frauen und ihren Partner*innen.
  • Pflege?
    • Hinweise auf eine allergische Reaktion oder sonstige Unverträglichkeit?
    • Näheres zur Intimpflege siehe Artikel Vulvodynie.
  • Iatrogen?
    • Operationen oder Bestrahlungen des kleinen Beckens?
    • Medikamente?
  • Trauma?
    • Verletzungen von Genitalien oder Beckenboden?
    • Verlauf von Geburten?
    • Hinweise auf sexuellen Missbrauch?
    • Weibliche Genitalverstümmelung?

Klinische Untersuchung

Gynäkologische Untersuchung – Abklärung somatischer Ursachen

  • Beispielsweise Zystozele, Rektozele, Enterozele, Uterus- oder Scheidenstumpfprolaps (siehe auch Artikel Descensus genitalis/Genitalprolaps)
  • Fixierter, retrovertierter Uterus und Schmerzempfindlichkeit entlang der Sakrouterinbänder?
  • Hypertonie des Beckenbodens
  • Schmerzempfindliche Punkte im Vestibulum
    • Können auf eine Vulvodynie hinweisen.
  • Ausfluss
    • Kann auf eine Infektion hinweisen.
  • Vaginale oder labiale Atrophie
    • Kann auf einen niedrigen Östrogenspiegel hinweisen.
  • Hautveränderungen im Bereich der Vulva

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Ggf. Psychodiagnostik
  • Ggf. psychosexuelle/sexualmedizinische Diagnostik, z. B. im Rahmen einer Sexual- oder Paarberatung oder -therapie

Indikationen zur Überweisung

  • Bei allen Frauen, die unter einer Dyspareunie leiden, ist eine gynäkologische Abklärung angezeigt.

Therapie

Therapieziele

  • Vollständige Remission oder zumindest deutliche Linderung der Beschwerden

Allgemeines zur Therapie

  • Ursachenorientiert
  • Wenn keine somatische Ursache zu ermitteln ist: Interdisziplinär geplante multimodale Behandlung, die physiologische, psychische und paarbezogene Dimensionen der Dyspareunie berücksichtigt.

Therapie der Vulvodynie

Therapie des Vaginismus

  • Keine stringenten Wirksamkeitsnachweise zu medikamentösen Therapien
  • Physiotherapie
    • ggf. inkl. Biofeedback, Beckenbodentraining und Verwendung eines vaginalen Dilatators
  • Kognitive Verhaltenstherapie (kVT)
    • als Einzel- oder Gruppentherapie
    • Konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen Schmerz und Unruhe/Angst sowie Muskelspasmen.
    • Scheint bei Vaginismus die Symptome zu lindern, die sexuelle Zufriedenheit zu erhöhen und Angst zu reduzieren.
      • Diese ersten Hinweise auf Wirksamkeit bedürfen der Überprüfung in randomisiert kontrollierten Studien.
  • Sexualberatung
    • Unsicherheiten der Betroffenen und ihrer Partner*innen in Bezug auf die Sexualität sowie ungünstige Interaktionsmuster werden angesprochen und sind Ausgangspunkt für mögliche Lösungsstrategien.
    • Fehlende Informationen zu Anatomie der Sexualorgane und sexuellen Physiologie, die z. B. in einer den Sex tabuisierenden Sozialisation begründet sind, werden vermittelt.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Psychische Störungen
  • Beziehungsprobleme

Prognose

  • Bislang existieren keine aussagekräftigen Forschungsergebnisse zur Prognose.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Simonelli C, Eleuteri S, Petruccelli F, Rossi R. Female sexual pain disorders: dyspareunia and vaginismus. Curr Opin Psychiatry. 2014;27(6):406-12. PMID: 25211497 PubMed
  2. Melnik T, Hawton K, McGuire H. Interventions for vaginismus. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012; Issue 12: Art. No.: CD001760. doi:10.1002/14651858.CD001760.pub2 DOI
  3. Mendling W. Dyspareunie, Vulvodynie und Vestibulodynie. Schmerzen statt Lust. Gynäkologie + Geburtshilfe 2019; 24: 24-7. www.springermedizin.de
  4. Buhling KJ. Assessment of dyspareunia. BMJ Best Practice. Last reviewed: 11 Apr 2022; last updated: 02 May 2019. bestpractice.bmj.com
  5. Tetik S, Yalçınkaya Alkar Ö. Vaginismus, Dyspareunia and Abuse History: A Systematic Review and Meta-analysis. J Sex Med 2021;18:1555-70. PMID: 34366265 PubMed
  6. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 10.05.2022 www.dimdi.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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