Infektionen in Pflegeeinrichtungen, Allgemeines

Allgemeine Informationen

Definition

  • Bewohner*innen in Pflegeeinrichtungen stellen eine für Infektionen besonders vulnerable Gruppe dar.1
  • Hierfür gibt es verschiedene Gründe:2-4
    • Immunoseneszenz
      • Sowohl die unspezifische als auch die spezifische Abwehr sind betroffen.
      • verminderte Wirksamkeit von Impfungen
      • Reaktivierung latenter Infektionen
    • physiologische Veränderungen
      • z. B. verminderte mukoziliäre Clearance, verminderter Urinfluss/Residualurin
    • funktionelle Einschränkungen, z. B. Schluckstörungen
    • Immobilität
    • Komorbiditäten/Multimorbidität
    • vermehrter Einsatz von Kathetern und Devices
    • erleichterte Transmission von Erregern (Mitbewohner*innen, Personal)

Häufigkeit

  • Punktprävalenz
    • In einer europäischen Untersuchung wiesen 2,5 % der deutschen Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung mindestens eine Infektion auf (3,4 % in Europa).5
  • Inzidenz
    • In verschiedenen Studien zeigten sich Inzidenzraten von 1,8 bis 13,5 Infektionen/1.000 Heimtage.6
  • Häufigste Infektionen
    • Die häufigsten Infektionen sind zu etwa gleichen Teilen:7-8
    • weitere Infektionen8
      • HNO (ca. 5 %)
      • gastrointestinal (ca. 3 %)
      • andere/unspezifizierte Infektionen (ca. 3 %)
      • unerklärtes Fieber (ca. 1 %).
  • Häufigkeit antibiotischer Behandlung
    • 1,9 % der Bewohner*innen deutscher Pflegeeinrichtungen erhalten mindestens 1 Antibiotikum (Punktprävalenz).5
    • Der Anteil der Patient*innen, die antibiotisch behandelt werden, beträgt bei:9
      • Harnwegsinfektionen 78 %
      • Haut- und Weichteilinfektionen 46 %
      • Atemwegsinfektionen 90 %.

Diagnostik

Differenzialdiagnosen

Diagnostische Überlegungen

  • In Pflegeeinrichtungen manifestieren sich Infektionserkrankungen häufig „untypisch", z. B.:
    • isolierte Beeinträchtigung des Allgemeinzustands
    • Fehlen von Fieber
    • Appetitlosigkeit
    • Unruhe
    • Verwirrtheit, evtl. Delir.
  • Schwierige Abgrenzung, da sich diese Veränderungen auch unabhängig von Infektionen ergeben können.3
  • In deutschen Pflegeeinrichtungen vergleichsweise geringer Anteil (ca. 15 %) an mikrobiologisch gesteuerten Therapien, etwa 85 % der Antibiotikabehandlungen erfolgen empirisch.7
  • Andererseits ist auch eine Überdiagnostik zu vermeiden, dies gilt insbesondere für asymptomatische Harnwegsinfektionen.
    • In Pflegeeinrichtungen haben bis zu 50 % der Bewohner*innen eine asymptomatische Bakteriurie ohne therapeutische Konsequenz.14
    • Die Unterscheidung zwischen symptomatischen Harnwegsinfektionen und asymptomatischer Bakteriurie ist allerdings bei geriatrischen Patient*innen eine Herausforderung.15
  • Bei Atemwegsinfektionen besteht durch die Verbreitung von SARS-CoV-2 derzeit Indikation zu einer raschen virologischen Diagnostik.
  • Unabhängig von SARS-CoV-2 sind Atemwegsinfektionen mehrheitlich viral bedingt, diese führen aber nicht selten zu einer dann inadäquaten antibiotischen Therapie.14

Therapie

Antibiotikaeinsatz in Pflegeeinrichtungen

  • Im Rahmen des europäischen HALT-Projektes (Healthcare-Associated Infections in European Long Term Care Facilities) wurden in Deutschland für 2016/17 folgende Indikationen zum Antibiotikaeinsatz erhoben:16
    • Harnwegsinfektion 41 %
    • Atemwegsinfektion 21 %
    • Haut- und Weichteilinfektion 16 %.
  • Die am häufigsten verschriebenen Antibiotika für die häufigsten Indikationen waren 2016/17:16
    • Harnwegsinfektionen
      • Ciprofloxacin
      • Trimethoprim/Sulfamethoxazol
      • Nitrofurantoin
    • Atemwegsinfektionen
      • Amoxicilllin/Betalaktamaseinhibitor
      • Cefuroxim
      • Doxycyclin
    • Haut- und Weichteilinfektionen
      • Ciprofloxacin
      • Amoxicillin
      • Clindamycin.

Überlegungen zur antibiotischen Therapie

  • Ein inadäquater Einsatz von Antibiotika sollte aus verschiedenen Gründen vermieden werden:17-18
    • Unwirksamkeit bei nicht gegebener Indikation
    • Nebenwirkungen
    • Interaktionen mit anderen Medikamenten
    • Resistenzentwicklung
    • Kosten.

Indikationsstellung

  • Die Indikationsstellung zur antibiotischen Therapie sollte auf einem gut begründeten Verdacht auf eine klinisch relevante bakterielle Infektion beruhen.
  • Hilfreich sind hier auch die Empfehlungen der Initiative Klug entscheiden der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (Klug entscheiden in der Infektiologie):19
    • Patient*innen mit asymptomatischer Bakteriurie sollen nicht mit Antibiotika behandelt werden.
    • Patient*innen mit unkomplizierten akuten oberen Atemwegsinfektionen inklusive Bronchitis sollen nicht mit Antibiotika behandelt werden.
    • Der Nachweis erhöhter Entzündungswerte wie C-reaktives Protein (CRP) oder Procalcitonin (PCT) allein soll keine Indikation für eine Antibiotikatherapie darstellen.
  • Nicht selten werden Betalaktamantibiotika wegen einer dokumentierten Penicillinallergie nicht verordnet und stattdessen Antibiotika mit deutlich schlechterem Nebenwirkungsprofil (z.B. Fluorchinolone, Clindamycin).14
    • Untersuchungen konnten zeigen, dass ein Teil dieser Patient*innen nie eine Allergie hatte.14
    • Bei unklaren Allergien, die lange (> 10 Jahre) zurückliegen oder Niedrigrisikoanamnese (z. B. Juckreiz ohne Ausschlag) kann eine beobachtete Reexposition vertretbar sein.14

Nebenwirkungen

Toxizität von Fluorchinolonen
  • Wegen Toxizitäten ist das Nutzen/Risikoverhältnis bei Fluorchinolonen besonders genau abzuwägen ist (siehe auch Rote-Hand-Brief):10
    • Vermeidung des Einsatzes bei Patient*innen in hohem Alter (> 80 Jahre), insbesondere bei eingeschränkter Hirnleistung
    • besondere Vorsicht bei schwerer kardialer Komorbidität
    • Vermeidung des Einsatzes bei gleichzeitiger systemischer Steroidtherapie
    • Vermeidung des Einsatzes bei Patient*innen mit Aortenaneurysma.
  • Verstärkt wird das Problem dadurch, dass Fluorchinolone bislang besonders häufig mit inadäquater Indikation verschrieben wurden.14
QT-Zeit-Verlängerung durch Antibiotika
  • Antibiotika, die eine Verlängerung der QT-Zeit bewirken können:20
    • Azithromycin, Clarithromycin, Erythromycin
    • Ciprofloxacin, Levofloxacin, Moxifloxacin, Ofloxacin
    • Trimethoprim-Sulfamethoxazol

Multimedikation und Interaktionen

  • Bei geriatrischen Patient*innen besteht häufig eine Multimedikation, d. h. die Verordnung von 5 oder mehr Medikamenten.21
  • Diese Patient*innen stellen eine Risikogruppe für unerwünschte Ereignisse und Therapieprobleme dar, auch durch zusätzliche akute Medikation mit Antibiotika.20
  • Makrolidantibiotika (außer Azithromycin) können mit Statinen interagieren:20
    • gegenseitige Wirkungsverstärkung, Risiko der Rhabdomyolyse
    • Wenn möglich, sollte das Statin während der Makrolidgabe pausiert werden.
    • Bei Notwendigkeit der gemeinsamen Gabe sollte auf Pravastatin gewechselt werden (Pravastatin und Fluvastatin mit nur geringer Interaktion).
  • Verstärkung der Wirkung von Phenprocoumon durch:20
    • Amoxicillin/Clavulansäure
    • Doxycyclin 
    • Makrolide (alle)
    • Trimethoprim-Sulfamethoxazol 
    • Metronidazol.
  • Zum Umgang mit Multimedikation siehe auch:
  • Bei Visite in einer Pflegeeinrichtung sollte gezielt nach Problemen mit der Medikation gefragt werden.20

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

  • Schwere Infektionen erfordern die stationäre Einweisung und Behandlung.
  • Bei palliativem Therapieziel kann auch die Pflege außerhalb des Krankenhauses erwogen werden, wenn diese sichergestellt werden kann.10
  • Angaben zur gewünschten Vorgehensweise können Patient*innen schon im Vorfeld durch Ausfüllen des Notfallbogens Pflegeheim machen (siehe DEGAM – hausärztliche Leitlinie Multimedikation).20

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Brennen beim Wasserlassen. AWMF-Leitlinie 053-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Hausärztliche Leitlinie: Multimedikation. AWMF-Leitlinie Nr. 053-043. S3, Stand 2021. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Urologie. Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. AWMF-Leitlinie Nr. 043-044. S3, Stand 2017. www.awmf.org 
  • Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Behandlung von erwachsenen Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie. AWMF-Leitlinie Nr. 020-020. S3, Stand 2021. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Antibiotikatherapie bei HNO-Infektionen. AWMF-Leitlinie Nr. 017-066. S2k, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

 
  1. Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut (RKI). Infektionsprävention in Heimen. Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2005; 48: 1061-1080. doi:10.1007/s00103-005-1126-2 DOI
  2. Mutters N. Langzeitpflegeeinrichtungen und Rehabilitationszentren: Infektionsprophylaxe. eMedpedia. Zugriff 19.06.21. www.springermedizin.de
  3. Ruscher C, Schaumann R, Mielke M. Herausforderungen durch Infektionen und mehrfachresistente Bakterien bei alten Menschen in Heimen. Bundesgesundheitsbl 2012; 55: 1444–1452. doi:10.1007/s00103-012-1555-7 DOI
  4. Juthani-Mehta M, Quagliarello V. Infectious Diseases in the Nursing Home Setting: Challenges and Opportunities for Clinical Investigation. Clin Infect Dis 2010; 51: 931-936. doi:10.1086/656411 DOI
  5. Latour K, Kinross P, Moro ML. Point prevalence survey of healthcare-associated infections and antimicrobial use in European long-term care facilities. 2013. www.ecdc.europa.eu
  6. Heudorf U, Boehlcke K, Schade M. Healthcare-associated infections in long-term care facilities (HALT) in Frankfurt am Main, Germany, January to March 2011. Euro Surveill 2012;17:pii=20256. www.eurosurveillance.org
  7. Ruscher C, Kraus-Haas M, Nassauer A, et al. Healthcare-associated infections and antimicrobial use in long term care facilities (HALT-2). Bundesgesundheitsbl 2015. doi:10.1007/s00103-015-2126-5 DOI
  8. European Centre for Disease Prevention and Control. Types of health-care-associated infections in long-term care facilities. Zugriff 19.06.21. www.ecdc.europa.eu
  9. Wischnewski N et al. Healthcare-associated infections in long-term care facilities. German results of the European Prevalence Study HALT. 2011. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Behandlung von erwachsenen Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie. AWMF-Leitlinie 020-020. S3, Stand 2021. www.awmf.org
  11. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Brennen beim Wasserlassen. AWMF-Leitlinie 053-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org
  12. Deutsche Gesellschaft für Urologie. Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter, bakterieller, ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. AWMF-Leitlinie Nr. 043-044. S3, Stand 2017. www.awmf.org
  13. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Antibiotikatherapie bei HNO-Infektionen. AWMF-Leitlinie Nr. 017-066. S2k, Stand 2019. www.awmf.org
  14. Fathi A, Hennigs A, Addo M. Weniger ist mehr . . . in der Infektiologie. Internist 2021; 62: 373–378. doi:10.1007/s00108-021-00967-5 DOI
  15. Kranz J, Schneidewind L, Schmidt S. Harnwegsinfektionen bei geriatrischen Patienten. UroNews 2021; 25: 20-22. doi:10.1007/s00092-021-4584-4 DOI
  16. European Centre for Disease Prevention and Control. Healthcare-associated infections and antimicrobial use in long-term care facilities: HAI-Net HALT database. Zugriff 18.06.2019. www.ecdc.europa.eu
  17. Montoya A, Mody L. Common infections in nursing homes: a review of current issues and challenges. Aging Health 2011; 7: 889–899. doi:10.2217/AHE.11.80 DOI
  18. Montoya A, Cassone M, Mody L. Infections in Nursing Homes. Clin Geriatr Med 2016; 32: 585-607. doi:10.1016/j.cger.2016.02.004 DOI
  19. Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Initiative Klug entscheiden: Klug entscheiden in der Infektiologie. Zugriff 19.06.21. www.klug-entscheiden.com
  20. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Hausärztliche Leitlinie: Multimedikation. AWMF-Leitlinie 053-043. Stand 2021. www.awmf.org
  21. Thiem U, Heppner H, Sieber C. Weniger kann mehr sein – Beispiele zur Medikation bei älteren und geriatrischen Patienten aus aktuellen Studien. Internist 2021; 62: 363-372. doi:10.1007/s00108-021-00981-7 DOI
  22. O’Mahony D et al. STOPP & START criteria. A new approach to detecting potentially inappropriate prescribing in old age. European Geriatric Medicine 1 (2010) 45-51. www.sciencedirect.com
  23. Pazan F, Weiss C, Wehling M. The EURO-FORTA (Fit fOR The Aged) List: International Consensus Validation of a Clinical Tool for Improved Drug Treatment in Older People. Drugs Aging 2018; 35: 61-71. doi:10.1007/s40266-017-0514-2 DOI

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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