Stromunfall

Zusammenfassung

  • Definition:Verletzung nach Kontakt mit Strom.
  • Häufigkeit:Jährlich 3.500 gemeldete Stromunfälle bei Berufsgenossenschaft. Zusätlich Stromunfälle im Privatbereich, die jedoch in der Minderheit sind.
  • Symptome:Sehr variabel, u. a. Palpitationen, Schmerzen an Eintrittsstelle.
  • Befunde:Strommarken an Ein- und Austrittsstelle. Verbrennungen verschiedenen Ausmaßes. Bewusstseinsstörungen möglich.
  • Diagnostik:Anamnese um Risiko für Komplikationen einzuschätzen (u. a. Höhe der Spannung, Art des Stroms, Kontaktzeit). Körperliche Untersuchung insbesondere der Haut. 12-Kanal-EKG obligat.
  • Therapie:Abhängig von Befunden. Bei Hochspannungsunfall immer stationäre Überwachung.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Verletzung nach Kontakt mit Strom
  • Volt (V): Einheit der elektrischen Spannung

Häufigkeit

  • Jährlich werden ca. 3.500 Stromunfälle bei der Berufsgenossenschaft gemeldet.1
    • Zusätzlich gibt es noch die Stromunfälle im Privatbereich, die jedoch in der Minderheit sind.
  • Überwiegende Mehrzahl der Fälle betrifft den Niederspannungsbereich.2
  • Jährlich in Deutschland etwa 130 Verletzte und 3–7 Todesfälle durch Blitzunfälle3

Ätiologie und Pathophysiologie

  • Elektrische Unfälle entstehen durch:4
    • Berühren unter Spannung stehender Teile im Nieder -und Hochspannungsbereich
    • Nähern an unter Hochspannung stehende Teile; durch einen Lichtbogen kann der Abstand überbrückt werden.
    • Blitzschlag
    • Elektroschockdistanzwaffen („Taser“), insbesondere bei Polizeieinsätzen5
  • Wechselstrom 
    • Vorkommen: öffentliches Stromnetz, haushaltsübliche Steckdosen
    • wegen der häufigen Polaritätswechsel Gefahr von Herzrhythmusstörungen und Kammerflimmern erheblich größer als bei Gleichstrom6
  • Gleichstrom
    • Vorkommen: bei Batterien, Akkus und Ladegeräten
    • Führt mit zunehmender Stromstärke zu kurzzeitiger Muskelkontraktion (Zuckung) bis hin zu andauernder Muskelkontraktion (Verkrampfung).7
  • Niederspannungsunfall: bis 1.000 V Gleichstrom bzw. 1.500 V Wechselstrom1
    • Vorkommen
      • im Haushalt üblicherweise 230 V Wechselstrom
      • An Herd und Sauna liegen etwa 400 V Wechselstrom an.
    • Verletzungsmuster
      • Gefahr maligner Herzrhythmusstörungen, insbesondere Kammerflimmern
      • Risiko von „Klebenbleiben“ durch strombedingte Muskelkontraktion
  • Hochspannungsunfall: über 1.000 V Gleichstrom bzw. 1.500 V Wechselstrom1
    • Vorkommen
      • Oberleitungen von Bahn üblicherweise 15.000 V
      • Hochspannungsleitungen meist über 100.000 V
      • Blitz mehrere Millionen Volt
      • Gefahr von Lichtbögen (Umwandlung von elektrischer in mehrere 1.000 °C heiße thermische Energie), die über mehrere Meter Entfernung Verletzungen verursachen können.
    • Verletzungsmuster
      • vor allem thermische Verletzungen (Verbrennungen), aber auch schwerste Gewebezerstörungen möglich8
      • durch Muskelkontrakturen ausgeprägte Muskelschäden, Rhabdomyolyse und Crush-Niere möglich
      • Augenverletzungen durch „Verblitzung“ bei Lichtbögen

ICD-10

  • T75.0 Schäden durch Blitzschlag
  • T75.4 Schäden durch elektrischen Strom
  • W87.9! Unfall durch elektrischen Strom

Diagnostik

Allgemeines zur Diagnostik

  • Wegen der Gefahr von Herzrhythmusstörungen ist eine umgehende ärztliche Vorstellung notwendig, auch nach einem mutmaßlichen „Wischer“ (kurzer Kontakt zur Spannungsquelle mit kurzer Durchströmungszeit). 6
  • Notwendig: Anamnese, körperliche Untersuchung und 12-Kanal-EKG, ggf. mit Rhythmus-Monitoring6

Erstmaßnahmen

  • Wichtig ist bei Stromunfällen der Eigenschutz der Ersthelfer*innen!6
  • Niederspannung6
    • Sicherung entfernen.
    • Gerät abschalten.
    • Netzstecker ziehen.
    • Verunfallte Person durch einen geeigneten Standort isolieren.
  • Hochspannung6
    • Sicherheitsabstand von bis zu 20 m einhalten.
    • Anlagenbetreiber*in benachrichtigen.
    • Bereich von Fachpersonal frei schalten und frei geben lassen.

Notfallbehandlung

Anamnese

  • Fakten zum Unfall
    • Unfallzeitpunkt
    • Aktivität bei Stromunfall
      • Je schneller ein Herz schlägt (bei körperlicher Arbeit), desto empfindlicher reagiert es auf den Stromfluss und desto eher kommt es zu einer Herzrhythmusstörung.6
    • Hoch- oder Niederspannung
    • Lichtbogen
    • Eintritts- und Austrittspunkte
      • nasse Haut und Stromfluss von Hand-zu-Hand sind Risikofaktoren für Komplikationen9
    • „Festkleben“ an der Stromquelle
    • Expositionsdauer
    • etwaiger Sturz
  • Aktuelle Symptomatik
  • Vorerkrankungen, insbesondere kardiale

Klinische Untersuchung

  • Inspektion der Haut 
    • Farnkrautphänomen5
      • für Blitzschlag charakteristische feine Verästelung subkutaner Hautgefäße
    • Strommarke5
      • Haut-/Weichteilverbrennungen bei lokaler Einwirkung von Starkstrom oder länger andauernder Einwirkung von Schwachstrom („Klebenbleiben“) 
      • kleine, runde bis rund-ovale, porzellanfarbene, muldenartige Einsenkung der Haut mit ringartig umgebendem Hautwall
  • Bewusstseinszustand
    • Benommenheit
    • akute psychische Reaktionen, Schock
  • Bodycheck
    • Anhalt für muskuloskelettale Verletzungen durch Sturz
  • Orientierende Untersuchung des Kreislaufs 
    • Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • 12-Kanal-EKG, wenn möglich Vergleich mit Vor-EKG
    • Die European Society of Cardiology empfiehlt grundsätzlich eine mindestens 24-stündige Monitor-Überwachung der Herzfunktion.10
    • Bei Niederspannungsunfällen, bei denen die Patient*innen ein normales EKG und normale Blutwerte aufweisen, können die Patient*innen nach individueller Risikobewertung evtl. nach Hause entlassen werden.11
    • Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung nennt u. g. Indikationen zur Krankenhauseinweisung bei Niederspannungsunfällen

Diagnostik bei Spezialist*innen

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

Bei Niedrigspannung6

  • Anhaltende Auffälligkeiten im EKG
  • Bewusstseinsverlust nach dem Stromschlag
  • Bestehende Vorerkrankungen des Herzens
  • Zustand nach längerem Stromdurchfluss durch „Klebenbleiben“
  • Subjektive Beschwerden wie z. B. Benommenheit, Herzstiche, Herzschmerzen, Atemnot
  • Verletzungen nach Sekundärunfällen
  • Verbrennungen durch Störlichtbögen oder Strommarken, die tiefere Gewebsschädigung vermuten lassen.
  • Schwangerschaft der Verunfallten

Bei Hochspannung6

  • Eine stationäre Behandlung mit engmaschiger Kontrolle ist unbedingt erforderlich. 

Indikationen zur direkten Einweisung in ein Verbrennungszentrum9

  • Verbrennungen 3. Grades über 10 % der Körperoberfläche
  • Verbrennungen 2. Grades über 25 % Körperoberfläche
  • Jegliche drittgradigen Verbrennungen im Gesicht, an Händen oder Füßen, in der anogenitalen Region

Therapie

Therapieziele

  • Überleben.
  • Akutkomplikationen wie Herzrhythmusstörungen beheben.
  • Spätfolgen vermeiden.

Allgemeines zur Therapie

  • Bei malignen Herzrhythmusstörungen/Kammerflimmern siehe den Artikel zur Herz-Lungen-Wiederbelebung.
    • Cave: bei Intubation keine depolarisierenden Muskelrelaxanzien wegen der Gefahr des Kaliumanstiegs!7
    • kardiologische Therapie abhängig von Art der Herzrhythmusstörung
  • Bei Hautverletzungen Überprüfung vom Tetanusstatus und ggf. Auffrischimpfung
  • Bei Verbrennungen siehe Artikel Verbrennungen, Akutversorgung.
    • u. a. Versorgung der Wunden, Analgesie, Volumenmanagement

Gesetzliche Unfallversicherung

  • Bei Arbeitsunfall zwingend Vorstellung bei Durchgangs-Ärztin/Arzt
  • Auch der Blitzschlag ist als „Unfall des täglichen Lebens“ während versicherter Tätigkeit ein Arbeitsunfall.4

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die Stärke des Stroms, die durch den Körper fließt, ist maßgeblich für die Folgen.
  • Selbst bei äußerlich weitgehend unverletzt erscheinenden Personen können erhebliche innere Verletzungen vorliegen („innere Verbrennung“).

Komplikationen

  • Massive Gewebezerstörungen bei Hochspannungsunfall möglich, u. a. mit:
  • Verbrennungen
  • Innere Organschädigungen, insbesondere bei horizontalem Fluss durch den Körper9
  • Herzrhythmusstörungen
  • Neurologische Komplikationen, insbesondere bei Blitzschlag in den Kopf3

Prognose

  • Letalität bei Niederspannungsunfall etwa 3 %9
  • Letalität bei Hochspannungsunfall wie Blitzschlag 25–30 %9,12
    • Personen ohne primären Herz-/Atemstillstand überleben normalerweise.

Quellen

Literatur

  1. Eschbach T, Pongratz M. Der Stromunfall. Notfallmedizin up2date 2022; 17(2): 142-5. www.thieme-connect.com
  2. Meyknecht B, Pieske O. Strom- und Elektrounfälle – Harmlose Verletzung oder lebensbedrohliche Situation?. Notaufnahme up2date 2022; 4(2): 165-183. www.thieme-connect.com
  3. Gruhn KM, Knossalla F, Schwenkreis P, et al. Neurologische Erkrankungen nach Blitzschlag. Nervenarzt 2016; 87: 623-8. link.springer.com
  4. Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H., Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Erich Schmidt Verlag Berlin. 9. Auflage 2017. S. 1267 ff.
  5. Birngruber CG, Lasczkowski G, Dettmeyer RB. Forensische Verletzungskunde. Berlin, Heidelberg: Springer, 2020. link.springer.com
  6. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung. Fachbereich Erste Hilfe. Stromunfall. Stand September 2016. www.dguv.de
  7. Lederer S. Notfall: Stromschlag. Notfallmedizin. Thieme Verlag 2007. Zugriff 29.07.2018 www.thieme.de
  8. Ziegenfuß T. Notfallmedizin. Berlin, Heidelberg: Springer, 2021. link.springer.com
  9. Beck A, Krischak G, Bischoff M. Stromunfall und Verbrennung. Notfallmedizin up2date 2008; 3(1): 25-40. www.thieme-connect.com
  10. Waldmann V, Narayanan K., et al. Electrical cardiac injuries: Current concepts and management. European Heart Journal Apr 2017. academic.oup.com
  11. Searle J, Slagman A, Maaß W, Möckel M: Cardiac monitoring in patients with electrical injuries—an analysis of 268 patients at the Charité hospital. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(50): 847–53. www.aerzteblatt.de
  12. Zack F, Puchstein S, Büttner A. Letalität von Blitzunfällen. Rechtsmedizin 2016. www.springermedizin.de

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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