Nadelstichverletzungen (Inokulationsverletzungen)

Definition

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-3
  • Mit Inokulationsverletzungen sind in diesem Zusammenhang Verletzungen gemeint, bei denen durch eine Penetration der Haut oder Schleimhaut (z. B. durch einen Nadelstich) Erreger von Patient*innen auf medizinisches Personal übertragen werden.
  • Zu dieser Verletzungsgruppe gehören neben den klassischen Na­del­stichen auch Schnitte, Blut- oder Sekretspritzer in Auge und Mund sowie infektiöse Kontakte mit Haut und Schleimhaut.

Erstmaßnahmen

  • Stich- oder Schnittverletzung
    • Spontanen Blutfluss nicht sofort unterbinden, da potenziell infektiöses Material dadurch ausgespült wird.
      • Mindestens 1 Minute lang bluten lassen.
    • Sonstige Manipulationen an der Wunde vermeiden, insbesondere Quetschen und Ausdrücken direkt im Einstichbereich, um keine Erregerverschleppung in tiefere Gewebsschichten zu begünstigen.
    • Nach der spontanen Blutung: Ggf. Stichkanal spreizen und gründliches Spülen mit Wasser/Seife oder Antiseptikum (ethanolbasiertes Händedesinfektionsmittel oder Hautantiseptikum) anwenden.
  • Zu Erstmaßnahmen nach Exposition mit infiziertem Material durch Schleimhautspritzer (Mund, Nase, Augen), Kontamination intakter und geschädigter Haut siehe Abschnitt „Therapie nach HIV-Exposition – Sofortmaßnahmen“ im Artikel HIV-Infektion und AIDS.

Weiterbehandlung

  • Sofort Blut abnehmen.
    • erster HIV-Antikörper-Test, möglichst auch bei Quellpatient*in
    • Hepatitis-Serologie, möglichst auch bei Quellpatient*in
  • Impfstatus beim Verunfallten und bei Quell-Patient*in klären.
  • Unverzügliche Vorstellung in der Rettungsstelle oder bei Durchgangsärzt*in 
    • entweder mit bereits abgenommener Blutprobe auch der Quellpatient*in
    • oder zusammen mit Quellpatient*in
    • Erfolgt eine Meldung beim Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, können die Kosten der Blutuntersuchungen und ggf. der Postexpositionsprophylaxe einschließlich Immunisierungen übernommen werden.
  • Umgehender Transport der Blutproben ins Labor
    • z. B. durch die verunfallte Person selbst, ggf. auch mit dem Taxi (Kosten werden von der Berufsgenossenschaft erstattet)
    • Die Probe der Quellpatient*in kann anonymisiert werden.
  • Entscheid über systemische, medikamentöse HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP)
    • Bei hohem Infektionsrisiko evtl. sofortiger Beginn der PEP, noch bevor das Ergebnis der serologischen Untersuchung vorliegt (siehe Leitlinienkasten „Indikationen für eine PEP“ im Artikel HIV und AIDS).
  • Nach Eintreffen des serologischen Befunds (in der Regel ca. 2 Stunden nach Eintreffen der Probe im Labor)
    • Entscheidung über aktive und/oder passive Hepatitis-B-Impfung und weitere Laborkontrollen bezüglich Hepatitis C (siehe Abschnitte zum Vorgehen nach Exposition in den Artikeln Hepatitis B und Hepatitis C)

Weitere Informationen

  • Nadelstichverletzungen zählen zu den häufigsten Arbeitsunfällen von Beschäftigten im Gesundheitswesen.
    • Blut ist die Körperflüssigkeit mit dem größten Infektionsrisiko.
    • Das Risiko scheint bei Medizinstudierenden und während der chirurgischen Facharztausbildung besonders hoch zu sein.
    • Auch Pflege-, Reinigungs- und Transportpersonal hat ein erhöhtes Risiko.
    • Die Inzidenz in Deutschland ist rückläufig, vermutlich dank erfolgreicher Prävention.
    • Im Jahr 2015 wurden rund 51.000 Nadelstichverletzungen als Arbeitsunfälle gemeldet.4
    • Der Anteil nicht gemeldeter Fälle wird auf 50–90 % geschätzt.
  • Zurückzuführen sind die meisten Unfälle vermutlich auf risikobehaftete Arbeitsabläufe, schwierige Arbeitsbedingungen und nicht ausreichend sicheres Arbeitsmaterial.5

Anerkennung als Berufskrankheit

  • Treten Nadelstichverletzungen während der beruflichen Tätigkeit auf, können diese in Zusammenhang mit Infektionen als Berufskrankheit anerkannt werden.6
  • Zuständig hierfür sind die gesetzlichen Unfallversicherungsträger.
  • Der Verdacht auf eine Berufskrankheit muss dort gemeldet werden (Meldebogen7).
  • Es wird eine ausführliche Arbeits- und Gefährdungsanamnese erhoben, und ein Gutachten entscheidet über die Anerkennung als Berufskrankheit.
  • Dann können bestimmte Maßnahmen auf Kosten der GUV durchgeführt werden:
    • geeignete Schutzvorrichtungen
    • spezielle therapeutische Maßnahmen
    • Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zur Zahlung einer Rente.8
  • Manchmal muss die Tätigkeit erst vollständig aufgegeben werden, damit die Anerkennung als Berufskrankheit erfolgen kann.

Infektionsrisiko

HIV-, HBV- und HCV-Prävalenz in der Bevölkerung

  • HIV9
    • Im Jahr 2020 lebten in Deutschland rund 91.400 Menschen mit HIV oder AIDS, d. h. ca. 0,1 % der Gesamtbevölkerung.
    • Die 3 hauptbetroffenen Bevölkerungsgruppen:
      1. Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten (MSM) (ca. 2/3)
      2. Personen, die i. v. Drogen konsumieren (ca. 1/10).
      3. Personen, die aus Hochprävalenzländern stammen.
    • Etwa 1/4 der Neuinfektionen wird über heterosexuelle Kontakte erworben, meist über Partner*innen aus einer der 3 hauptsächlich betroffenen Gruppen (s. o.).
    • 4–32 von 10.000 Verletzungen durch Nadeln oder andere scharfe medizinische Instrumente ziehen eine HIV-Übertragung nach sich.5
  • Hepatitis B10
    • akute oder chronische Infektionen (Anti-HBc und HBsAg positiv) 0,3 %
    • Inzidenz in 2020: Je nach Bundesland 2,1–18,4/100.000 Einw.11 
      • bei Jungen und Männern höher als bei Mädchen und Frauen (9,4 vs. 6,8/100.000 Einw.)
    • bei Personen mit Migrationshintergrund je nach Herkunftsland höhere Prävalenzen
    • Mehr als 40 von 10.000 Verletzungen durch Nadeln oder andere scharfe medizinische Instrumente ziehen eine HBV-Übertragung nach sich.5
  • Hepatitis C12-13
    • Anti-HCV-Prävalenz > 0,3 %
      • Konsument*innen von i. v. Drogen: 37–75 %
      • Gefängnisinsassen: 9–18 %
      • Migrant*innen: 1–6 %
    • In Deutschland sind ca. 400.000–500.000 Menschen infiziert.
  • 5–13 von 10.000 Verletzungen durch Nadeln oder andere scharfe medizinische Instrumente ziehen eine HCV-Übertragung nach sich.5

Weitere Erreger

  • Die Verletzung mit einem blutkontaminierten Instrument kommt aus infektiologischer Sicht einer winzigen Bluttransfusion gleich. Daher können prinzipiell alle Erreger, die einen parenteralen Übertragungsweg nehmen, über eine solche Verletzung übertragen werden, d. h. neben Viren auch Bakterien, Protozoen und Prionen.
  • In Fallberichten wurde die Übertragung von mehr als 20 verschiedenen viralen und nicht-viralen Erregern beschrieben. Beispiele:

Prävention

Grundsätzliche Hygieneregeln

  • Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen so handhaben, als wären sie infektiös.

Wichtige Schutzmaßnahmen

  • Schutzimpfung gegen Hepatitis B (generiert auch Impfschutz gegen Hepatitis D)
  • Sicherer Umgang mit Kanülen und scharfen, schneidenden Gegenständen
  • Sofortige Entsorgung verletzender Gegenstände in bruch- und stichfeste Behälter direkt am Verbrauchsort. Volle Behälter sofort austauschen.
  • Persönliche Schutzausrüstung: Handschuhe, (flüssigkeitsdichte) Schutzkleidung (über der Dienst-/Bereichskleidung), Schutzbrille, Atemschutzmaske
  • Regelmäßige Händehygiene und Hautpflege
  • Desinfektion und Reinigung, Sterilisation
  • Regelmäßige Information über die Arbeitsschutzvorschriften

Persönliche Schutzausrüstung

  • Schutzhandschuhe
    • Bei allen Tätigkeiten, bei denen ein Kontakt mit Blut, Blutbestandteilen, Körperflüssigkeiten oder Ausscheidungen zu erwarten ist.
    • bei allen Reinigungs- und Desinfektionsarbeiten
    • qualitative Minimalanforderungen an medizinische Einmalhandschuhe für den Gesundheitsdienst
      • hergestellt nach DIN EN 455 u. a. mit der geforderten Dichtigkeit (Accepted Quality Level, AQL)
      • Einmalhandschuhe aus Naturlatex müssen entsprechend der technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS 540) puderfrei und allergenarm sein.
  • Ggf. Schutzkittel (über der Dienst-/Bereichskleidung) und flüssigkeitsundurchlässige Schürzen
    • Bei Arbeiten, bei denen mit Verunreinigungen der Kleidung durch Blut bzw. Körperflüssigkeiten oder Ausscheidungen zu rechnen ist.
  • Schutzbrille, ggf. Gesichtsschirm zum Schutz von Mund Atemwegen und Augen
    • Wenn mit Aerosolbildung oder Verspritzen von Blut, Körperflüssigkeiten oder Ausscheidungen zu rechnen ist, z. B. bei Intubation, Absaugen, intraoralen und transurethralen Behandlungen.

Sicherer Umgang mit Kanülen und scharfen, schneidenden Gegenständen

  • Bruch- und durchstichsichere Entsorgungsbehälter für gebrauchte Kanülen etc. unmittelbar am Ort der Verwendung
  • Behältnisse bei jedem entsprechenden Eingriff mitnehmen oder an geeigneten Plätzen fest installieren.

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG). Medikamentöse Postexpositionsprophylaxe (PEP) nach HIV-Exposition. AWMF-Leitlinie Nr. 055-004. S2k, Stand 2021. www.awmf.org

Literatur

  1. Maßnahmen gegen Nadelstichverletzungen zahlen sich aus. Deutsches Ärzteblatt 25.10.2016. www.aerzteblatt.de
  2. Arbeitskreis "Krankenhaus - & Praxishygiene" der AWMF. Leitlinien zur Hygiene in Klinik und Praxis. Prävention blutübertragbarer Virusinfektionen. AWMF-Leitlinie Nr. 029-026. Klasse S1, Stand 2017 (abgelaufen). www.awmf.org
  3. Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG). Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG). Medikamentöse Postexpositionsprophylaxe (PEP) nach HIV-Exposition. AWMF-Leitlinie Nr. 055-004. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
  4. Dulon M, Lisiak B, Wendeler D, Nienhaus A. Unfallmeldungen zu Nadelstichverletzungen bei Beschäftigten in Krankenhäusern, Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen. Gesundheitswesen 2018; 80: 176-82. PMID: 28753705 PubMed
  5. Kaur M, Mohr S, Andersen G, Kuhnigk O. Needlestick and sharps injuries at a German university hospital: epidemiology, causes and preventive potential - a descriptive analysis. Int J Occup Med Environ Health. 2022; 35: 497-507. PMID: 35661161 PubMed
  6. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Dortmund. Merkblätter und wissenschaftliche Begründungen zu den Berufskrankheiten der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), zuletzt aktualisiert durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 22. Dezember 2014. www.baua.de
  7. DGVU Formtexte für Ärzte: Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit. www.dguv.de
  8. Mehrtens G, Valentin H, Schönberger A. Arbeitsunfall und Berufskrankheit: rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung S. 878ff. Berlin: Erich Schmidt.Verlag 9: Auflage, 2017.
  9. Robert Koch-Institut. RKI-Ratgeber HIV-Infektion/AIDS. Berlin, 16.06.2022. www.rki.de
  10. Robert Koch-Institut. Hepatitis B und D, RKI-Ratgeber für Ärzte. Stand 2016. www.rki.de
  11. Robert Koch-Institut. Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2020. Stand 01. März 2021. www.rki.de
  12. Robert Koch-Institut. Hepatitis C, RKI-Ratgeber für Ärzte. Stand 2018. www.rki.de
  13. Beermann S, Zimmermann R, Seeling S. GBE-Themenheft Hepatitis C. Gesundheitsberichterstattung des Bundes gemeinsam getragen von RKI und DESTATIS, Stand 2016. edoc.rki.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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