Diabetes insipidus

Zusammenfassung

  • Definition:Erkrankung heterogenen Ursprungs (idiopatisch, erworben, angeboren), die durch einen Mangel an dem antidiuretischen Hormon (ADH/Vasopressin) oder aufgrund einer Resistenz gegenüber ADH verursacht wird (zentraler bzw. renaler Diabetes insipidus).
  • Häufigkeit:Selten.
  • Symptome:Polydipsie, Polyurie, Nykturie.
  • Befunde:Erhöhte Urinmenge im 24-Stunden-Sammelurin, erniedrigte Urinosmolalität,erhöhte Serumosmolalität, evtl. Hypernatriämie.
  • Diagnostik:Erfolgt anhand von Labordiagnostik (Urinmenge im 24-Stunden-Sammelurin, Urinosmolalität, Serumosmolalität, Elektrolyte) , evtl. Durstversuch, Desmopressin-Test, evtl. MRT des Gehirns und molekulargenetische Tests.
  • Therapie:Desmopressin beim zentralen Diabetes insipidus, Thiaziddiuretika beim renalen Diabetes insipidus, evtl. Behandlung des zugrunde liegenden Krankheitsbildes.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Diabetes insipidus ist eine Erkrankung heterogenen Ursprungs, die durch ein gesteigertes Durstgefühl und vermehrte Urinausscheidung gekennzeichnet ist.1
  • Die Erkrankung wird durch einen Mangel an oder eine Resistenz gegenüber dem antidiuretischen Hormon (ADH, Vasopressin) verursacht.2
  • Hiernach erfolgt auch die Einteilung:
    • Zentraler Diabetes insipidus (Diabetes insipidus centralis oder neurohormonalis) erzeugt durch einen ADH-Mangel.
    • Renaler (auch nephrogener) Diabetes insipidus (Diabetes insipidus renalis) entstanden durch eine ADH-Resistenz.

Häufigkeit

  • Selten
  • Zentraler Diabetes insipidus: Prävalenz: 1–9/100.0003
  • Nephrogener Diabetes insipidus: Prävalenz 1–2/1.000.0004

Physiologie

  • Die Osmolalität im Serum wird durch ein komplexes System genau kontrolliert.
  • Wichtiger Akteur ist hier ADH, ein Hormon der Neurohypophyse, das im Hypothalamus gebildet, in den sekretorischen Vesikeln des Hypophysenhinterlappens gespeichert und bei Bedarf freigesetzt wird.
  • Eine erhöhte Serumosmolalität z. B. durch Dursten löst im Normalfall die Freisetzung von ADH aus. Dies führt zu einer Wasserretention und folglich einer Urinkonzentrierung.5
  • Die Osmolalität wird relativ konstant zwischen 280 und 290 mosm/l gehalten.5
  • Bei einer Osmolalität unter 280 mosm/l wird so gut wie kein Vasopressin (ADH) ausgeschüttet, während die Sekretion sich kräftig erhöht, wenn die Osmolalität Werte von bis zu 280 mosm/l erreicht.
  • Das Durstgefühl stellt sich erst ein, wenn die Osmolalität ca. 293 mosm/l erreicht. Dank dieses Mechanismus bleibt uns meist ein Durstgefühl erspart; das Vasopressin erledigt die Arbeit für uns.5

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Einteilung erfolgt hauptsächlich in 2 Ursachengruppen:
    1. zentraler Diabetes insipidus
    2. renaler Diabetes insipidus.

Zentraler Diabetes insipidus (ADH-Mangel)

  • Primärer Diabetes insipidus
    • ohne nachweisbare Läsion der Hypophyse und des Hypothalamus im MRT
    • Kann familiär (meist dominante Vererbung einer gestörten ADH-Biosynthese) oder idiopatisch (ca. 30–50 % der Fälle eines zentralen Diabetes insipidus1) auftreten.6
    • DIDMOAD (Wolfram-Syndrom) ist eine seltene, autosomal rezessiv vererbte Krankheit mit Diabetes insipidus, Diabetes mellitus, Optikusatrophie und Taubheit.7
  • Sekundärer Diabetes insipidus
    • Wird durch Schäden an Hypophyse oder Hypothalamus verursacht.
    • Die Gründe können Tumoren (z. B. Germinome, Kraniopharyngeome, Hypophysenadenome, Metastasen), Anoxie, iatrogen (Strahlentherapie, operativ) oder traumatisch sein; auch Infektion und seltene Systemerkrankungen (z. B. Sarkoidose, autoimmun-bedingte Vaskulitiden, Langerhans-Histiozytosen) können eine solche Schädigung bewirken.1

Renaler Diabetes insipidus

  • Die Erkrankung wird durch einen Defekt in den Nierentubuli mit Störung der Wasserreabsorption verursacht.
  • Die ADH-Sekretion ist hier nicht gestört.
  • Die Erkrankung kann erblich auftreten (in 90 % der Fälle Mutation im Vasopressin2-Rezeptor-Gen (AVPR2-Gen, V2-Rezeptor-Gen, Erbgang X-chromosomal), bei den übrigen Fällen Mutation im Aquaporin2-Gen (AQP2-Gen, Erbgang autosomal-rezessiv).8
  • Erworbene Formen des ADH-resistenten Diabetes insipidus sind deutlich verbreiteter und kommen vor:8

Sonderform Diabetes insipidus in der Schwangerschaft

  • Entsteht durch eine vermehrte Ausschüttung des Enzyms Vasopressinase aus der Plazenta, wodurch es zu einem schnelleren Abbau von ADH kommt. Zusätzlich kann eine partielle ADH-Resistenz der Nierentubuli auftreten.
  • Der Wasserhaushalt normalisiert sich nach der Geburt innerhalb von 1–2 Wochen eigenständig.5

Prädisponierende Faktoren

ICPC-2

  • T99 Endo./metab./ernäh. Erkrank., andere

ICD-10

  • E23 Unterfunktion und andere Störungen der Hypophyse
    • E23.2 Diabetes insipidus
  • N25 Krankheiten infolge Schädigung der tubulären Nierenfunktion
    • N25.1 Renaler Diabetes insipidus

Diagnostik

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Polydipsie
    • Symptome bei Erkrankung sind starkes Durstgefühl mit hoher Flüssigkeitsaufnahme von 2–20 l pro Tag.
    • Eiskaltes Wasser mit Eiswürfeln wird häufig zuckerhaltigen Getränken vorgezogen.
  • Polyurie, Nykturie, die bei Kindern oft als Enuresis in Erscheinung tritt.
  • Gewichtsverlust und Wachstumsretardierung bei Auftreten im Kindesalter durch eingeschränkte Kalorienaufnahme bei Polydipsie oder auch gleichzeitig bestehendem Verlust der Hypophysenvorderlappenfunktion.1
  • Weitere mögliche Symptome bei Kindern sind: Lethargie, Irritabilität, Fieber, Erbrechen oder Diarrhö.4

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Urindiagnostik
    • Vor jeder aufwändigeren Diagnostik ist es empfehlenswert die Polyurie im 24-Stunden-Sammelurin zu bestätigen:
      • V. a. Diabetes insipidus bei > 150 ml/kg/24 h bei Neugeborenen, 100–120 ml/kg/24 h bei Kleinkindern und 40–50 ml/kg/24 h bei Adoleszenten und Erwachsenen1
      • Die Urinmenge kann je nach Flüssigkeitsaufnahme bis zu 10 l am Tag betragen.
    • Glukose und Blut im Urin (Urinstix) zur differenzialdiagnostischen Abklärung1
    • ggf. Messung des spezifischen Gewichts im Urin (Urinosmolalität, bei Diabetes insipidus erniedrigt)1
  • Blutuntersuchung

Diagnostik beim Spezialisten

Durstversuch

  • Bei Verdachtsmomenten in der Anamnese und einer hoch normalen oder erhöhten Serumosmolalität sowie einer erniedrigten Urinosmolalität ist die Durchführung eines Durstversuchs sinnvoll.1
    • Der Test wird aufgrund der hohen Belastung für die Testperson in der Regel unter stationären Bedingungen durchgeführt.
    • Der Test beginnt nach einer möglichst langen Periode von Flüssigkeitsrestriktion (meist sind hier 7 Stunden Flüssigkeitskarenz ausreichend).1 
    • Es werden in regelmäßigen Abständen unter Kontrolle der Vitalparameter und des Körpergewichtes Serum- und Urinosmolaltiät gemessen.
    • Des Weiteren kann der ADH-Spiegel im Serum oder besser das Copeptin (ct-proAVP) im Serum als stabilerer Surrogatparameter des ADH vor und während des Durstversuches gemessen werden.9
      • Bei Gesunden kommt es während des Durstversuches zu einem Anstieg der Urinosmolalität.
      • Ein Diabetes insipidus liegt bei einem submaximalen bis fehlenden Anstieg der Urinosmolalität während des Durstversuches vor.
      • Ein Diabetes insipidus centralis liegt bei erniedrigtem ADH- bzw. Copeptin-Spiegel vor.
      • Ein Diabetes insipidus renalis liegt bei erhöhten ADH- bzwl. Copeptin-Spiegel vor.9
    • Bei zu starker Belastung für die Testperson (Gewichtsverlust von > 5–10 % des Körpergewichtes im Testverlauf oder der Entwicklung von Fieber > 38,5 °C) sollte der Durstversuch abgebrochen werden.1
    • Alternativ kann im Anschluss an einen Durstversuch auch ein DDAVP-Test (auch Desmopressin-Test – Desmopressin entspricht synthetisch hergestelltem Vasopressin) ergänzt werden, wodurch ebenfalls zwischen einem zentralen und renalen Diabetes insipidus unterschieden werden kann.1
    • Nach Applikation von Desmopressin (s. c., i. v. oder intranasal) wird hier in regelmäßigen Abständen die Urin- und Serumosmolalität sowie das Körpergewicht bestimmt.
      • Ein fehlender Anstieg der Urinosmolalität nach Desmopressin-Gabe deutet auf einen renalen Diabetes insipidus hin.
  • Bei zentraler Genese des Diabetes insipidus wird zur Ursachenforschung meist ein MRT von Hypophyse und Hypothalamus durchgeführt.1
    • Bei Kindern unter 2 Jahren für die ein Durstversuch eine potenzielle Gefährdung darstellen kann oder bei Patienten mit einer positiven Familienanamnese wird in der Regel sogar meist primär ein MRT des Gehirns oder aber auch eine molekulargenetische Diagnostik des Vasopressin-Gens veranlasst.1
  • Bei zentraler Genese ist die Bestimmung von FT4, TSH, IGF-I, IGFBP-3, Kortisol, ACTH und Prolaktin inklusive entsprechender Stimulationstests zum Ausschluss einer Hypophysenvorderlappeninsuffizienz empfehlenswert (bei ca. der Hälfte der Patienten liegt hier ebenfalls eine Beeinträchtigung vor).1

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung Überweisung zum (Kinder-)Endokrinologen

Therapie

Therapieziele

  • Symptome verbessern und Komplikationen verhindern.

Allgemeines zur Therapie

Zentraler Diabetes insipidus

  • Medikamentöse Therapieoption: Desmopressin ist das Präparat der 1. Wahl.
    • synthetische ADH-Analoga mit antidiuretischer Wirkung, aber geringerer Pressorwirkung als ADH
    • Das Medikament wird meist sublingual oder intranasal gegeben.
  • Operative Therapieoption: neurochirurgische Eingriffe bei Tumoren1

Renaler Diabetes insipidus

  • Ausreichende Wasserzufuhr, salz-und eiweißarme Kost4
  • Ursachenbeseitigung sowie Verzicht auf nephrotoxische Substanzen
  • Medikamentös
    • Thiazide (Off-Label-Use) können die Urinmenge um ca. 50 % reduzieren.
    • Dosierung: 50–100 mg pro Tag bei Erwachsenen und 2–5 mg/kg bei Kindern. Cave: Die relativ hohe Dosis macht oft eine Kaliumsubstitution notwendig!5
    • bei nicht ausreichendem Ansprechen: evtl. Kombination mit Indometacin (150 mg/Tag, bei Kindern 2 mg/kg/Tag, verteilt auf 3 Dosen, Off-Label-Use) oder Amilorid (10–20 mg/Tag, bei Kindern 0,1 mg/kg/Tag, verteilt auf 2 Tagesdosen, Off-Label-Use)5

Empfehlungen für Patienten

  • Es ist sinnvoll, dass Patienten mit Diabetes insipidus einen Notfallausweis bei sich tragen, da diese vital gefährdet sind, wenn keine orale Flüssigkeitszufuhr möglich ist (Unfall, Operation, Bewusstseinsverlust).10

Medikamentöse Therapie

  • Desmopressin ist das Präparat der 1. Wahl.
    • z. B. Nasenspray 10 µg/Dosis: 10–20 µg 1- bis 2-mal bei Erwachsenen, 5–10 µg pro Dosis bei Kindern
      • Dosistitrierung in Abhängigkeit vom Grad der Polyurie – mit niedrigster Dosis beginnen. 
      • Bei einer Entzündung der Nasenschleimhaut (z. B. starker Schnupfen) kann die Wirkung vermindert sein.
    • Beispielsweise Desmopressin-Tabletten 0,1 und 0,2 mg: Die passende Anfangsdosis für Kinder und Erwachsene ist 0,1 mg sublingual 3 x tgl., danach Dosierung nach Wirkung.
  • Potenzielles Risiko ist eine mögliche Verdünnungshyponatriämie (Wasserintoxikation) bei Desmopressin-Einnahme und gleichzeitig sehr hoher Aufnahme von Flüssigkeiten oder Desmopressin-Überdosierung.
  • Faustregel für die Patienten: Je heller der Urin, desto geringer ist die Desmopressin-Wirkung.
  • Eine Anpassung der Desmopressin-Dosis an Stress oder körperlicher Aktivität ist in der Regel nicht erforderlich.10

Sekundärbehandlung

  • Reservemedikamente bei zentralem Diabetes insipidus: Hydrochlorothiazid (Off-Label-Use), Carbamazepin (durch das deutlich höhere Nebenwirkungspotenzial kaum noch Bedeutung in der Therapie des Diabetes insipidus, Off-Label-Use).

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Unter individuell eingestellter Desmopressin-Therapie sind die Patienten asymptomatisch.
  • MRT-Kontrollen des Gehirns sind in 1- bis 2-jährigen Abständen empfehlenswert, da ein Diabetes insipidus Erstsymptom eines hypothalamisch/hypophysären Tumors sein kann.1

Komplikationen

  • Ohne ausreichende Flüssigkeitszufuhr führt die Polyurie zu schwerer Dehydrierung.
  • Zudem können Elektrolytstörungen mit schwerer Hypernatriämie auftreten (vor allem bei Patienten mit gestörtem Durstmechanismus).
  • Bei Patienten, die eine antidiuretische Behandlung erhalten, besteht die Gefahr einer Verdünnungshyponatriämie (Wasserintoxikation).

Prognose

  • Der idiopathische Diabetes insipidus centralis hat eine gute Prognose, erfordert aber eine lebenslange Behandlung.3
  • Wenn bei einem sekundären zentralen Diabetes insipidus die zugrunde liegende Krankheit ungenügend behandelt wird, ist ein letaler Verlauf möglich.3
  • Ein zentraler Diabetes insipidus, der nach Hypophysenoperationen entsteht, ist möglicherweise reversibel.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Hirnrinde Übersicht medial Mittenansicht
Hirnrinde Übersicht medial Mittenansicht
Hypophyse normal.jpg
Hypophyse normal

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Diabetes insipidus neurohormonalis. AWMF-Leitlinie Nr. 027-031. S1, Stand 2011. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Diabetes insipidus neurohormonalis. AWMF-Leitlinie Nr. 027-031, Stand 2011. www.awmf.org
  2. Khardori R. Diabetes insipidus. emedicine.medscape, 10.4.2014. emedicine.medscape.com
  3. Diabetes insipidus, zentraler. Das Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs. Dr. Stefano Ghirardello, letzte Aktualisierung: Juli 2012. www.orpha.net
  4. Diabetes insipidus, nephrogener. Das Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs. Pr. Patrick Niaudet, letzte Aktualisierung: Februar 2007. www.orpha.net
  5. Flückiger A. Diabetes insipidus. Pharma-Kritik 1999; 21(3). www.infomed.ch
  6. Christensen JH, Rittig S. Familial neurohypophyseal diabetes insipidus--an update. Semin Nephrol 2006; 26:209. PubMed
  7. Strom TM, Hortnagel K, Hofmann S, et al. Diabetes insipidus, diabetes mellitus, optic atrophy and deafness (DIDMOAD) caused by mutations in a novel gene (wolframin) coding for a predicted transmembrane protein. Hum Mol Genet. 1998; 7: 2021. PubMed
  8. Diabetes Insipidus. Channing Hui; Jared M. Radbel.March 29, 2019. www.ncbi.nlm.nih.gov
  9. LADR- Der Laborverbund. Durstversuch und Desmopressin-Test. ladr.de
  10. Diabete insipidus. Infobroschüre für Patientinnen und Patienten.Netzwerk Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen e.V. www.glandula-online.de

Autoren

  • Kristine Scheibel, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Norderney
  • Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL
  • Stein Vaaler, overlege, Senter for Klinisk Epidemiologi, Rikshospitalet, Universitetet i Oslo

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