Postoperative Harnretention

Zusammenfassung

  • Definition:Unfähigkeit, die Harnblase nach einer Operation zu entleeren. Häufigste Ursachen: medikamentöse Nebenwirkungen der Anästhesie und der postoperativen Schmerzbehandlung ([Opiat-]Analgesie).
  • Häufigkeit:Die Inzidenz liegt zwischen 10 und 20 % und steigt mit der Komplexität des Eingriffs.
  • Symptome:Bauchschmerzen, Rückenschmerzen, vegetative Begleitsymptomatik mit Hypotonie, kann auch symptomlos sein.
  • Befunde:Ggf. tastbar vergrößerte Harnblase, Hypertonie, Hypotonie, Bradykardie.
  • Diagnostik:Diagnosebestätigung mittels Ultraschalls.
  • Therapie:Die Behandlung besteht in der Überwachung des Zustands und einer frühzeitigen Diagnostik/Entlastung (Katheterisierung) der Harnblase, um das Risiko chronischer Blasenentleerungsstörungen oder anderer Komplikationen zu reduzieren. Bei frühzeitiger Behandlung ist die Prognose gut.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Die Unfähigkeit, die gefüllte Harnblase nach einer Operation zu entleeren, wird als postoperative Harnretention (Harnverhalt) bezeichnet.1-2

Häufigkeit

  • Häufigkeit abhängig von:
    • Geschlecht und Alter der Patient*innen
    • Art und Dauer des operativen Eingriffs
    • vorbestehenden Blasenentleerungsstörungen
    • Art des Anästhesieverfahrens.
  • Die Prävalenz in allgemeinen chirurgischen Mischstudien variiert zwischen 4 und 29 %.1,3-4
  • Nach Spinalanästhesie bei bis zu 1/4 der Patient*innen5

Ätiologie und Pathogenese

  • Die normale Blasenkapazität bei Erwachsenen liegt bei 400–600 ml.2
  • Grundsätzlich kann es bei allen postoperativen Patient*innen ohne Blasenkatheter zur Harnretention kommen.

Prädisponierende Faktoren

Perioperative Faktoren

  • Chirurgisches Verfahren
    • Hernienchirurgie und anorektale Eingriffe erhöhen das Risiko für POUR (Postoperative Urinary Retention).5
      • Inzidenz nach einer offener Leistenhernien Operation 5–26 %, bei laparoskopischen Hernieneingriffen 4–22 %6
      • nach Operationen aufgrund benigner anorektaler Erkrankungen Inzidenz bei rund 15 %7-9
    • Bei Einsatz von Hüft- und Kniegelenksprothesen beträgt die Inzidenz postoperativer Harnretentionen 0–75 %.10
    • Nach umfangreichen Abdominal- und Beckenoperationen besteht ebenfalls ein erhöhtes Risiko.
    • Mit der Länge der Operation erhöht sich das Risiko einer postoperativen Harnretention.11
  • Anästhesietechnik4,12
    • Bei der Allgemeinanästhesie kommt es aufgrund der Entspannung der glatten Muskulatur zu einer Atonie der Harnblase und einer Beeinträchtigung der autonomen Regulation des Detrusors.
    • Bei einer Spinalanästhesie kommt es zur Blockade des sakralen vegetativen Blasenzentrums (S1–S4).5
      • Wann immer möglich, sollte auf langwirksame Lokalanästhetika verzichtet werden, und es sollten kurzwirksame Lokalanästhetika verwendet werden, bei denen das Risiko einer postoperativen Harnretention geringer ist.5
    • Bei der Verwendung epiduraler Anästhesie oder Pudendusblockade ist das Risiko für eine postoperative Harnretention geringer als bei Spinalanästhesie.13
  • Erhöhte intravenöse Flüssigkeitszufuhr11
  • Opioide
    • Die präsynaptische Inhibition der Acetylcholin-Freisetzung in den postganglionären Neuronen führen zur Reduktion der parasympathischen Detrusorspannung.
    • Folge: passive Füllung der Harnblase
    • Opioide verringern zudem das Gefühl der Blasenfüllung und den Harndrang.
    • Das Risiko einer Retention steigt mit der Dosierung.14-15

Patientenbezogene Faktoren

  • Alter und Geschlecht11,16
    • Ein Lebensalter > 50 Jahre sowie männliches Geschlecht erhöhen das Risiko einer postoperativen Harnretention.5,11
  • Symptome des unteren Harntraktes (Lower Urinary Tract Symptoms, LUTS)
    • Vorbestehende Blasenentleerungsstörungen sind mit einem höheren Risiko assoziiert.5,11,15
  • Diabetes mellitus11

ICPC-2

  • U99 Erkrankung Harnorgane, andere

ICD-10

  • Y65.8 Sonstige näher bezeichnete Zwischenfälle bei chirurgischem Eingriff und medizinischer Behandlung
  • Y83 Chirurgischer Eingriff und sonstige chirurgische Maßnahmen als Ursache einer abnormen Reaktion eines Patienten oder einer späteren Komplikation, ohne Angabe eines Zwischenfalls zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Ausbleibende Miktion postoperativ für 8 (12) Stunden bei gefüllter Harnblase (ca. 500 ml)2
  • Symptomatik der Betroffenen in Kombination mit der Unfähigkeit zur Miktion bei gefüllter Harnblase2
  • Der klinische Verdacht wird mittels Ultraschalls bestätigt.5

Differenzialdiagnosen

  • Andere Ursachen für postoperative Schmerzen im Abdomen

Anamnese

  • Abdominelle und lumbale Schmerzen postoperativ5
    • Schmerzen können auch völlig fehlen.
  • Begleitende oder auch alleinige vegetative Symptomatik
    • Herz-Kreislauf-Problemen wie Hypertonie, Hypotonie, Bradykardie, Synkope
    • Übelkeit, Erbrechen

Klinische Untersuchung

  • Ggf. tastbar vergrößerte Harnblase
  • Vitalparameter

Ergänzende Untersuchungen

  • Ultraschall der Harnblase5
    • Es handelt sich um ein zuverlässiges Untersuchungsverfahren, mit dem sich eine unnötige Blasenkatheterisierung vermeiden lässt.
  • Monitoring und Dokumentation der Spontandiurese

Therapie

Therapieziele

  • Symptome lindern.
  • Akute Komplikationen und Langzeitschäden verhindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Gewissenhafte postoperative Überwachung der Diurese
    • ggf. prophylaktische Katheteranlage bei Prozeduren mit erhöhtem Risiko
  • Möglichst geringe Dosierung opioider Analgetika13
    • Eine kombinierte Schmerztherapie mit opioiden und nichtopioiden Analgetika ist vorzuziehen.
  • Nach ambulanter OP in Spinalanästhesie sollten v. a. bei Vorliegen von Risikofaktoren für eine postoperative Harnretention vor Entlassung eine eigenständige Miktion oder der sonografische Nachweis einer leeren Harnblase erfolgt sein.5

Medikamentöse Therapie

  • Naloxon
    • bei Harnretention infolge der spinalen oder epiduralen Verabreichung von Morphin
  • Alphablocker
    • Die prophylaktische Gabe von Alphablockern ist mit einer niedrigeren Rate an postoperativen Harnretentionen assoziert.13
    • Wird in der Praxis dennoch wenig durchgeführt.
    • Einsatz in der Behandlung der postoperativen Harnretention13

Weitere Therapien

  • Blasenentleerung mit Einmalkatheter bei diagnostizierter Harnretention
    • Bei Erwachsenen wird ab einer Blasenfüllung von 400–500 ml eine Katheterisierung empfohlen.5
  • Wärmeapplikation suprapubisch13

Prävention

  • Eine unnötige intravenöse Flüssigkeitszufuhr ist zu vermeiden.13
  • Prophylaktische Katheterisierung
    • Eine sofortige postoperative Einmalkatheterisierung kann das Risiko eines postoperativen Harnverhaltes nicht reduzieren.13
    • Anlage eines Dauerkatheters bei hohem Risiko erwägen.
  • Postoperative Opioidtherapie
    • Eine kombinierte Schmerztherapie mit opioiden und nichtopioiden Analgetika ist im Allgemeinen vorzuziehen.
  • Postoperative epidurale Schmerzlinderung
    • Patient*innen mit thorakaler epiduraler Analgesie benötigen nicht unbedingt einen Blasenkatheter.17
    • Bei einer lumbalen epiduralen Analgesie besteht ein erhöhtes Risiko für einen postoperativen Harnverhalt.
  • Aufklärung über Symptome einer Harnretention bei ambulanten Patient*innen vor Entlassung5

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Restharnbildung mit erhöhtem Risiko für Harnwegsinfekte
  • Dauerhafte Störung der Detrusorfunktion bei nicht rechtzeitig erkannter und behandelter Harnretention
  • Während der akuten Phase kann es zu kardiovaskulären Komplikationen kommen.

Prognose

  • Wird der postoperative Harnverhalt innerhalb weniger Stunden behandelt, ist die Prognose gut.
  • Eine unbemerkte Harnretention kann zu persistierenden Miktionsstörungen führen.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Regionalanästhesie bei ambulanten Patienten – Empfehlungen zur Durchführung. AWMF-Leitlinie Nr. 001-022. S1, Stand 2021. www.awmf.org

Literatur

  1. Darrah DM, Griebling TL, Silverstein JH. Postoperative urinary retention. Anesthesiol Clin 2009; 27: 465-84. PubMed
  2. Baldini G, Bagry H, Aprikian A, Carli F. Postoperative urinary retention: anesthetic and perioperative considerations. Anesthesiology 2009; 110: 1139-57. PubMed
  3. Lau H, Lam B. Management of postoperative urinary retention: a randomized trial of in-out versus overnight catheterization. ANZ J Surg 2004; 74: 658-61. PubMed
  4. Olsen SW, Nielsen J. A Study into Postoperative Urine Retention in the Recovery Ward. British Journal of Anaesthetic and Recovery Nursing 2007; 8: 91-5. www.cambridge.org
  5. Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Regionalanästhesie bei ambulanten Patienten – Empfehlungen zur Durchführung. AWMF-Leitlinie Nr. 001-022. S1, Stand 2021. www.awmf.org
  6. Koch CA, Grinberg GG, Farley DR. Incidence and risk factors for urinary retention after endoscopic hernia repair. Am J Surg 2006; 191: 381-5. PubMed
  7. Chik B, Law WL, Choi HK. Urinary retention after haemorrhoidectomy: Impact of stapled haemorrhoidectomy. Asian J Surg 2006; 29: 233-7. PubMed
  8. Chan PY, Lee MP, Cheung HY, et al. Unplanned admission after day-case haemorrhoidectomy: a retrospective study. Asian J Surg 2010; 33: 203-7. PubMed
  9. Miles AJ, Dunkley AJ. Day case haemorrhoidectomy. Colorectal Dis 2007; 9: 532-5. PubMed
  10. Balderi T, Carli F. Urinary retention after total hip and knee arthroplasty. Minerva Anestesiol. 2010 Feb;76(2):120-30. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Chang Y, Chi KY, Tai TW, Cheng YS, Lee PH, Huang CC, Lee JS. Risk factors for postoperative urinary retention following elective spine surgery: a meta-analysis. Spine J. 2021 Nov;21(11):1802-1811. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  12. Keita H, Diouf E, Tubach F, et al. Predictive factors of early postoperative urinary retention in the postanesthesia care unit. Anesth Analg 2005; 101: 592-6. PubMed
  13. Jackson J, Davies P, Leggett N, Nugawela MD, Scott LJ, Leach V, Richards A, Blacker A, Abrams P, Sharma J, Donovan J, Whiting P. Systematic review of interventions for the prevention and treatment of postoperative urinary retention. BJS Open. 2018 Nov 19;3(1):11-23. www.ncbi.nlm.nih.gov
  14. Kumar P, Mannan K, Chowdhury AM, et al. Urinary retention and the role of indwelling catheterization following total knee arthroplasty. Int Braz J Urol 2006; 32: 31-4. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  15. Mason SE, Scott AJ, Mayer E, Purkayastha S. Patient-related risk factors for urinary retention following ambulatory general surgery: a systematic review and meta-analysis. Am J Surg. 2016 Jun;211(6):1126-34. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  16. Taylor JA 3rd, Kuchel GA. Detrusor underactivity: Clinical features and pathogenesis of an underdiagnosed geriatric condition. J Am Geriatr Soc 2006; 54: 1920-32. PubMed
  17. Niemi G, Breivik H. Epidural fentanyl markedly improves thoracic epidural analgesia in a low-dose infusion of bupivacaine, adrenaline and fentanyl. A randomized, double-blind crossover study with and without fentanyl. Acta Anaesthesiol Scand 2001; 45: 221-32. PubMed

Autor*innen

  • Franziska Jorda, Dr. med., Fachärztin für Viszeralchirurgie, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Kaufbeuren
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit