Zusammenfassung
- Definition:Intravasale Aktivierung des Blutgerinnungssystems mit Auswirkungen vor allem auf die Mikrozirkulation.
- Häufigkeit:Häufige Komplikation bei Sepsis oder schweren Traumata.
- Symptome:Sowohl thrombotische Ereignisse als auch Blutungsneigung.
- Befunde:U.a. akutes Nierenversagen als Zeichen der Mikrothrombosierung. Hauteinblutungen wie Petechien oder Ekchymosen im Rahmen der Blutungsneigung.
- Diagnostik:Zusammenschau aus Klinik und Laborparametern.
- Therapie:Wichtigste Maßnahme ist die Behandlung der Grunderkrankung.
Allgemeine Informationen
Definition
- Intravasale Aktivierung des Blutgerinnungssystems mit Auswirkungen vor allem auf die Mikrozirkulation1
- Die Bildung von Mikrothromben und konsekutiv Durchblutungsstörungen mit multiplem Organversagen sind möglich.2
- Der Verbrauch von Gerinnungsfaktoren führt sekundär zu Blutungen.
- Erworbener Zustand und Ausdruck einer zugrunde liegenden schweren Erkrankung
- kausale Therapie durch Behandlung der ursächlichen Erkrankung
- Die symptomatische Therapie ist abhängig von der Phase der disseminierten intravasalen Gerinnung (DIG).
- in der Frühphase erhöhtes Thromboserisiko, bei manifester DIG erhöhtes Blutungsrisiko
Häufigkeit
- Unter knapp 4.000 kritisch kranken Patient*innen wurde in Japan eine Inzidenz von 8,5 % beobachtet.3
- Häufige Komplikation bei SIRS (Systemic Inflammatory Response Syndrome) im Rahmen einer Sepsis oder eines schweren Traumas bzw. einer großer Operation2
- bei 30–50 % aller Patient*innen mit schwerer Sepsis4
Ätiologie und Pathogenese
- Die Verschiebung der hämostatischen Balance in den prokoagulatorischen Bereich geschieht über verschiedene Mechanismen.2
- Proinflammatorische Zytokine bei SIRS führen zur Aktivierung des Gerinnungssystems.5
- Vermehrte Bildung von Gewebefaktor (Faktor III des Gerinnungssystems) und daraufhin Thrombin2
- Thrombin ist die zentrale Protease zur Aktivierung der Gerinnungskaskade.2
- Konversion von Fibrinogen in aktives Fibrin
- Aktivierung weiterer Gerinnungsfaktoren
- Agonist der Thrombozytenaggregation
- Thrombin ist die zentrale Protease zur Aktivierung der Gerinnungskaskade.2
- Entstehung von Mikrothromben im gesamten Gefäßsystem
- Organischämien führen zu Verstärkung der SIRS.
- Ein Teufelskreislauf entsteht mit ständiger Neubildung von proinflammatorischen, prokoagulatorischen Zytokinen.6
- Organischämien führen zu Verstärkung der SIRS.
- Im Verlauf erhöhter Verbrauch und verminderte Produktion von antikoagulatorischen Faktoren (Protein C, Antithrombin)2
- Blutungen
Risikofaktoren
- Folgende Erkrankungen sind mit einer DIG assoziiert:2
- Sepsis
- Trauma oder große Operation
- vor allem an thrombokinasereiche Organen wie Prostata, Lunge, Plazenta und Pankreas
- Lebererkrankungen
- fulminante Hepatitis
- schwere Leberzirrhose
- Hitzschlag
- schwere Pankreatitis
- Malignome
- Geburtskomplikationen, u. a.:
- Eklampsie und Präeklampsie
- HELLP
- Plazentaablösung
- Gefäßanomalien
- Aneurysma
- Hämangiome
- Kasabach–Merritt Syndrom (auch Hämangiom-Thrombozytopenie-Syndrom)
- schwere toxische oder immunologische Reaktionen
- Schlangenbiss
- i. v. Drogenabusus
- Transfusionsreaktion
- Transplantatabstoßung
- Bakterientoxine.
ICPC-2
- B83 Purpura/Gerinnungsstörung
ICD-10
- D65.1 Disseminierte intravasale Gerinnung (DIG, DIC)
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Sehr unterschiedliche Manifestation möglich in Form von Durchblutungsstörungen, Blutungen, Organdysfunktion oder klinischer Verschlechterung der kritisch kranken Patient*innen2
- Eine schnelle und simple Diagnostik ist notwendig. 2
- Berücksichtigung von Risikofaktoren, klinischen Manifestationen und Laborergebnissen7
- Bei klinischem Verdacht Berechnung des ISTH-Scores8
- Bei ≥ 5 Punkten ist die Empfehlung DIG wahrscheinlich und eine Therapie empfohlen.
- Eine Berechnung ist online hier möglich.
Differenzialdiagnosen
- Schweres Leberversagen bei Leberzirrhose
- Heparininduzierte Thrombozytopenie
- Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura
- Immun-thrombozytopenische Purpura
- Hämolytisch-urämisches Syndrom
- HELLP-Syndrom
- Vaskulitis
- Virale Infektionen
- Toxisches Schocksyndrom
Anamnese
- In der Regel durch eine schwere Grunderkrankung verursacht
- z. B. Sepsis, Karzinom, größere Traumata, Schwangerschaftskomplikation
Akute DIG
- Schlagartiger fulminanter Beginn
Chronische DIG
- Häufiger bei malignen Erkrankungen, schleichender Beginn
Klinische Untersuchung
- Akute DIG wird häufig apparent durch Petechien und Ekchymosen
- Blutungszeichen an 3 verschiedenen Lokalisationen sind besonders verdächtig auf DIG.9
- Ischämische Symptome?
- z. B. TVT
- akutes Nierenversagen oder neurologische Auffälligkeiten als Zeichen für Mikrothrombosierung
- Hämorrhagische Symptome?
- Vor allem auf Hauteinblutungen achten, es sind aber auch z. B. fulminante GI-Blutungen möglich.
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Kein einzelner Test ist spezifisch oder sensitiv genug für eine eindeutige Diagnose.
- Zusammenschau aus klinischem Bild und Laborparametern
- Empfohlene Labordiagnostik2
- Prothrombin-Zeit
- aktivierte PTT
- Thrombozytenzahl
- Fibrinogen
- D-Dimere
Indikationen zur Überweisung
- Sofortige Einweisung ins Krankenhaus bei Verdacht auf DIG
Therapie
Therapieziel
- Rettung des Patientenlebens
Allgemeines zur Therapie
- Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.4,10
- Schnellstmögliche Behandlung der Grunderkrankung
- Simultane Therapie der DIG bei unkontrollierter Gerinnungssituation
- Ventilation und Organperfusion sicherstellen.
- Spezifische Behandlung?
- abhängig von der Phase (thrombogen vs. Blutungsneigung)
- Die Klinik entscheidet, ob eine Indikation zur Spezialbehandlung vorliegt (z. B. Heparin, Antithrombinkonzentrat, Zufuhr von Gerinnungsfaktoren oder Thrombozyten, Fibrinolysehemmer).
- Patient*innen ohne klinische Symptome sollten keine spezifische Behandlung erhalten, auch wenn die Blutgerinnungstests auf DIG hinweisen.
Medikamentöse Therapie
- Die Studienlage ist noch nicht so eindeutig, dass jede therapeutische Option mit ausreichender Evidenz belegt ist. Weitere Studien sind notwendig, um die vorliegenden Hinweise abzusichern.4,10-11
Heparinbehandlung
- Indikationen10
- bei eingeschränkter Organfunktion aufgrund einer ausgedehnten Mikrothrombosierung
- bei Zeichen einer Makrothrombosierung (tiefe Venenthrombose, Lungenembolie, aseptische thrombotische Endokarditis)
- in diesem Fall therapeutische Vollantikoagulation
Protein-C-Plasmakonzentrat
- Möglicherweise Reduktion der Mortalität bei schwerer Sepsis, jedoch bislang konträre Studienergebnisse2
Antithrombinkonzentrat
- Die Wirksamkeit ist in prospektiven klinischen Studien nicht belegt.
- Die Reduktion der Sterblichkeit bei schwerkranken Patient*innen ist nicht nachgewiesen, die Anzahl der episodischen Blutungen nahm zu.12
- Kann bei einzelnen Patient*innen mit niedrigem Antithrombinspiegel im Plasma und heilbarer Grunderkrankung ggf. die Mortalität senken.13
Substitutionsbehandlung
- Ausgleich des Blutverlusts durch Erythrozytkonzentrate
- Bei ausgeprägter Blutung bzw. hohem Blutungsrisiko sind folgende Präparate wahrscheinlich sinnvoll:2
- Fresh Frozen Plasma (FFP)
- Enthält viele Faktoren, die bei der DIG verbraucht werden.
- Gefriergetrocknetes, virusinaktiviertes Kryopräzipitat (SD-Kryo)
- Enthält Faktor VIII, Von-Willebrand-Faktor und Fibrinogen
- Thrombozytenkonzentrat bei ausgeprägter Thrombozytopenie.
- Fresh Frozen Plasma (FFP)
Fibrinolysehemmer
- Sollten wegen der Gefahr der zunehmenden Mikrothrombosierung nicht eingesetzt werden.2
Prävention
- Schnelle Diagnostik und adäquate Behandlung von Sepsis, geburtshilflichen Komplikationen und anderen auslösenden Ursachen der DIG4,7,10
- Bei jeder Erkrankung mit entsprechender Disposition auf eine gute Gewebsperfusion und Ventilation achten.
- Pneumokokkenimpfung nach Splenektomie
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- In der Regel dramatisch und lebensbedrohlich
Komplikationen
- Lebensbedrohliche Blutungen
- Multiorganversagen mit ARDS
- Akutes Nierenversagen
- Herztamponade, Hämothorax, intrazerebrales Hämatom
- Gangrän, Verlust von Zehen/Fingern
Prognose
- Mortalität in den letzten Jahren abnehmend, jedoch immer noch sehr hoch:
- Kritisch kranke Patient*innen mit DIG haben etwa doppelt so hohe Mortalität wie Patient*innen ohne DIG.3
- Ein hoher ISTH-Score korreliert mit hoher Sterblichkeit.16
Verlaufskontrolle
- Anbindung an Hämatologen empfohlen
- Bei onkologischen Patient*innen mit chronischer DIG ist eine ambulante Therapie mit subkutaner Gabe von Heparin möglich.9
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Taylor FB Jr, Toh CH, Hoots WK, et al; Scientific Subcommittee on Disseminated Intravascular Coagulation (DIC) of the International Society of Thrombosis and Haemostasis (ISTH). Towards definition, clinical and laboratory criteria, and a scoring system for disseminated intravascular coagulation. Thromb Haemost 2001; 86: 1327-1330. PubMed
- Gando S, Levi M, Toh C. Disseminated intravascular coagulation. Nat Rev Dis Primers 2016; 2: 16037. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Gando S, Saitoh D, Ogura H, et al. Natural history of disseminated intravascular coagulation diagnosed based on the newly established diagnostic criteria for critically ill patients: Results of a multicenter, prospective survey. Crit Care Med 2008; 36(1): 145-50. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Levi M, Toh CH, Thachil J, Watson HG. Guidelines for the diagnosis and management of disseminated intravascular coagulation. British Committee for Standards in Haematology. Br J Haematol 2009; Apr. 145(1): 24-33. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Levi M, van der Poll T, ten Cate H, et al. The cytokine-mediated imbalance between coagulant and anticoagulant mechanisms in sepsis and endotoxaemia. Eur J Clin Invest 1997; 27: 3-9. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Eltzschig HK, Collard C. Vascular ischaemia and reperfusion injury. Br Med Bull 2004; 70: 71-86. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Wang H, Zavisca FG. Disseminated intravascular coagulation. BMJ Best Practice, last updated January 2020. bestpractice.bmj.com
- Renz H. Praktische Labordiagnostik: Lehrbuch zu Laboratoriumsmedizin, klinischer Chemie und Hämatologie. Berlin: De Gruyter, 2009.
- Levi MM. Disseminated Intravascular Coagulation. Medscape, last updated Oct 07, 2018. emedicine.medscape.com
- Wada H, Matsumoto T, Yamashita Y. Diagnosis and treatment of disseminated intravascular coagulation (DIC) according to four DIC guidelines. J Intensive Care 2014; 2(1): 15. PubMed
- AWMF: S3-Leitlinie: Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE), AWMF-Leitlinie 003 – 001, Stand 2015 www.awmf.org
- Allingstrup M, Wetterslev J, Ravn FB, Møller AM, Afshari A. Antithrombin III for critically ill patients. Cochrane Database Syst Rev 2016 Feb 8; 2: CD005370. doi:10.1002/14651858.CD005370.pub3 DOI
- Levy JH, Sniecinski RM, Welsby IJ, Levi M. Antithrombin: anti-inflammatory properties and clinical applications. Thromb Haemost 2016 Apr; 115(4): 712-28. pmid:26676884 PubMed
- Matsuda T. Annual Report of the Research Committee on DIC. Japan: Ministry of Health and Welfare of Japan, 1992.
- Murata A, Okamoto K, Mayumi T, et al. The recent time trend of outcomes of disseminated intravascular coagulation in Japan: an observational study based on a national administrative database. J Thromb Thrombolysis 2014; 38(3): 364-71. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Toh CH, Hoots WK. The scoring system of the Scientific and Standardisation Committee on Disseminated Intravascular Coagulation of the International Society on Thrombosis and Haemostasis: a 5-year overview. J Thromb Haemost 2007; 3: 604-6. pmid:17096704 PubMed
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).