Sehstörung oder Sehverlust

Red Flags und abwendbar gefährliche Verläufe1-2

Red Flags

Abwendbar gefährlicher Verlauf

Neurologisches Defizit

  • akuter Schwindel mit nicht harmonischem/vertikalem Nystagmus)
  • motorische, sensorische und Hirnnervenausfälle
  • akuter Verwirrtheitszustand

Schlaganfall, TIA, Hirntumor

Totaler Visusverlust (ein- oder beidseitig)

Schlaganfall, Hirntumor, retinaler Arterienverschluss, Optikusneuritis (MS)

Gesichtsfeldausfall

Netzhautablösung, Sehrindeninfarkt, Sehbahnprozess, Zentralvenenthrombose, retinaler Arterienverschluss, Optikusneuritis (MS)

Lichtblitze und/oder dunkle, rote Flecken

Glaskörperabhebung, Glaskörperblutung, Netzhautablösung, frisches Netzhautforamen

„Rußregen“: Glaskörperblutung

„Mouches volantes“: Glaskörperabhebung

Farbringe

akutes Glaukom

Verschwommenes, verzerrtes Sehen ohne Gesichtsfeldausfall

Makulaödem, Makulatraktion, Makulablutung

Einseitige Augenschmerzen

Hornhautverletzung, Uveitis, Iridozyklitis, akutes Glaukom, Optikusneuritis (MS)

Beidseitige Augenschmerzen

Fremdkörpereinsprengung, Trichiasis

Schmerz bei Augenbewegung

Retrobulbärneuritis, Optikusneuritis (MS)

Nausea/Erbrechen

akutes Glaukom

Anisokorie

Uveitis, akutes Glaukom, okuläres Trauma, Iridozyklitis

Kürzliches Schädel-Hirn- oder Augentrauma

Endophthalmitis, Hirnverletzung, Sehbahnverletzung, Orbitafraktur, Sehnervverletzung.

Polymyalgia rheumatica, Arteriitis temporalis

Riesenzellarteriitis

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.3-6

Definition

Sehstörung (ICD-10 H53.-3)

  • Meist akut, seltener auch schleichend einsetzende visuelle Eindrücke, die von der gewohnten Wahrnehmung abweichen. Meistens geht damit eine vorübergehende oder bleibende Verminderung des Sehvermögens einher.
  • Siehe auch die Artikel Sehstörungen, Flecken und Flimmern und Schielen und Doppelbilder.
  • Der ICD-10 zählt zu den Sehstörungen u. a.:
    • Amblyopie (Amblyopia ex anopsia): Sehstärkenminderung infolge einer gestörten Sehentwicklung im Säuglings- und Kleinkinderalter
    • subjektive Sehstörungen
      • Dazu zählen z. B. das Flimmerskotom und die Photophobie während einer Migräneattacke.
    • Diplopie
    • Gesichtsfelddefekte
      • z. B. Heminanopsie, etwa infolge eines Defekts im Bereich der Sehnervenkreuzung, z. B. Hypophysentumor
    • Farbsinnstörungen
    • Nachtblindheit
    • Weitere siehe Abschnitt ICD-10.

Blindheit und Sehbeeinträchtigung (ICD-10 H54.-3)

  • Sammelbegriff für alle erworbenen oder angeborenen, hochgradigen Minderungen des Sehvermögens
  • Synonym: Sehverlust (Vision Loss)
  • Der Grad der Sehbeeinträchtigung orientiert sich an der Sehschärfe (Visus).

Abgrenzung zu anderen Augensymptomen und -erkrankungen

Häufigkeit

  • Die meisten behandlungsbedürftigen Sehverluste sind durch eine Katarakt verursacht.
  • Die häufigsten Ursachen von Blindheit4
    • Sehbeeinträchtigungen, bei denen die Sehschärfe ≤ 0,33, aber im weniger stark betroffenen Auge ≥ 0,05 eingestuft ist, sind am häufigsten durch unbehandelte Fehlsichtigkeit und Katarakt verursacht, gefolgt von Makuladegeneration und diabetischer Retinopathie.
  • Das Symptom tritt mit zunehmendem Alter und dem steigenden Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft gehäuft auf.5
    • In Europa ist die altersadjustierte Prävalenz von Sehverlust einschließlich Blindheit im Zeitraum 1990–2010 allerdings von 0,2 % auf 0,1 % gesunken.4
    • Die weltweite Prävalenz von vermeidbarer Blindheit und Sehbeeinträchtigung in der Altersgruppe ≥ 50 blieb nach 2010 stabil bei 0,96 ‰.7
  • Blindheit (kompletter Sehverlust)
    • Weltweit sind die meisten Erblindungen durch eine Katarakt verursacht, die auch die häufigste Augenerkrankung bei älteren Menschen ist.
    • In den USA ist über die Hälfte aller Erblindungen auf eine altersbedingte Makuladegeneration zurückzuführen.

Diagnostische Überlegungen

Bei Kindern

  • Ein vermindertes Sehvermögen ist meist durch eine Amblyopie verursacht.

Bei Erwachsenen

Screening

Bei Kindern

  • Zwischen dem 34. und 36. Lebensmonat Früherkennungsuntersuchung U7a mit Schwerpunkt Augenuntersuchung8

Bei Erwachsenen

  • In Deutschland gibt es bislang keine bundesweiten Screeningprogramme (Stand 2023).
    • Zu keiner Augenerkrankung, die mit Sehstörungen einhergeht, gibt es bislang verlässliche klinische Nachweise präventiver Wirksamkeit eines bevölkerungsbasierten Screenings.
    • Screeninguntersuchungen des Augeninnendrucks (Glaukomscreening) oder der Makula z. B. sind keine Regelleistung der GKV.
  • Eine Ausnahme ist die diabetische Retinopathie.
    • Den einschlägigen Nationalen Versorgungsleitlinien zufolge soll ein augenärztliches Screening durchgeführt werden bei (IV/A):9
      • Typ-2-Diabetes bei Diagnosestellung (Erstuntersuchung)
      • Typ-1-Diabetes ab dem 11. Lebensjahr oder nach einer Diabetes-Erkrankungsdauer von 5 Jahren
    • Standard im Rahmen der Disease-Management-Programme für Typ-1- und Typ-2-Diabetes

Konsultationsgrund

  • Ein akuter Sehverlust wird von den Patient*innen meist als einschneidend empfunden.
  • Ein vorübergehender Sehverlust gerät rasch in Vergessenheit.
  • Ein schleichender Sehverlust ist ggf. schwer feststellbar.

ICPC-2

  • F05 Sehstörung, andere

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20233
  • H53.- Sehstörungen
    • H53.0 Amblyopia ex anopsia
    • H53.1 Subjektive Sehstörungen
    • H53.2 Diplopie
    • H53.3 Sonstige Störungen des binokularen Sehens
    • H53.4 Gesichtsfelddefekte
    • H53.5 Farbsinnstörungen
    • H53.6 Nachtblindheit
    • H53.8 Sonstige Sehstörungen
    • H53.9 Sehstörung, nicht näher bezeichnet
  • H54.- Blindheit und Sehbeeinträchtigung

Differenzialdiagnosen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.3-6

Alterungsbedingte Sehbeeinträchtigungen

  • Presbyopie
    • Verlust der Nahanpassungsfähigkeit des Auges, Altersweitsichtigkeit
    • Beginnt ab einem Alter von 40 Jahren.
  • Verlust der Kontrastempfindlichkeit
    • Beruht auf Veränderungen in der Netzhaut.
  • Verschlechterung der Hell-Dunkel-Adaptation
    • Beruht auf altersbedingten Veränderungen in der Netzhaut.
  • Diese Veränderungen können einen Sehverlust anderer Ursache zusätzlich verstärken.

Fehlsichtigkeit

  • Siehe Artikel Brechungsfehler (Refraktionsfehler).
  • Nachlassende Sehschärfe kann bei Kurzsichtigkeit Blinzeln, bei Kindern Schielen und allgemein Kopfschmerzen verursachen.
  • Brechungsfehler treten meist beidseitig auf und entwickeln sich mit der Zeit.

Funktionelle Sehstörung

  • Relativ selten, kann aber bei Kindern und Erwachsenen auftreten.
  • Sehverlust, der auf eine Wahrnehmungsstörung, kognitive oder psychische Störungen, z. B. dissoziative Störungen, zurückzuführen ist.
  • Meist vorübergehende Beeinträchtigung des Sehvermögens
  • Ist häufig durch ein schweres psychisches Trauma verursacht.

Glaucoma simplex

  • Siehe Artikel Primäres Offenwinkelglaukom (Glaucoma simplex).
  • Liegt bei rund 1–2 % der Personen über 40 Jahre vor. Die Pathophysiologie ist weitgehend ungeklärt.
  • Erhöhter Augeninnendruck
  • Führt zu Gesichtsfeldausfällen und einem schleichenden und dauerhaften Sehverlust.

Katarakt

  • Siehe Artikel Katarakt.
  • Unter älteren Menschen sehr verbreitet
  • Meist alterungsbedingte Trübung der Linse
  • Liegt ein- oder beidseitig vor, schreitet langsam fort und führt im späteren Verlauf zu Sehstörungen und häufig zu einer hohen Blendempfindlichkeit bei hellem Licht oder Gegenlicht.
  • Eine Operation kommt infrage, wenn das Sehvermögen beeinträchtigt ist.

Erkrankungen der Retina

Altersbedingte Makuladegeneration

  • Dauerhafter Sehverlust, der sich schleichend über mehrere Wochen oder Monate entwickelt, verzerrte Wahrnehmung (Metamorphopsie), Schwierigkeiten beim Lesen, nachlassende Sehschärfe, Entwicklung eines Zentralskotoms.

Diabetische Retinopathie

  • Nach 20 Jahren liegt bei 80 % der Patient*innen mit Typ-1- und bei der Hälfte der Betroffenen mit Typ-2-Diabetes eine diabetische Retinopathie vor.
  • Zum Zeitpunkt der Diagnose eines Typ-2-Diabetes kann die Erkrankung bereits vorliegen.
  • Geht auf eine fortschreitende Mikroangiopathie zurück.
  • Neben dem Sehverlust treten keine weiteren Symptome auf.
  • Die Untersuchung des Augenhintergrunds ergibt Mikroaneurysmen, kleine Blutungen und weißliche Exsudate.
  • Patient*innen mit Diabetes sollten sich einmal jährlich einer augenärztlichen Untersuchung unterziehen.

Verschluss eines Retinagefäßes

  • Notfalleinweisung in eine ophthalmologische Klinik!
  • Meist sind ältere Menschen betroffen.
  • Arterieller Verschluss
    • Vorhofflimmern und Arteriosklerose sind prädisponierende Faktoren für Arterienverschlüsse und Infarkte.
    • Kurzzeitige (Amaurosis fugax) oder dauerhafte Verminderung des Sehvermögens, deren Ausmaß sich danach richtet, ob der Verschluss die Zentralarterie oder einen Arterienast betrifft.
  • Venöser Verschluss
    • Als mögliche Risikofaktoren gelten Arteriosklerose, Bluthochdruck, Diabetes und Glaukom.
    • Typisch ist die Feststellung eines einseitigen Sehverlustes beim morgendlichen Aufwachen, der vorübergehend oder dauerhaft sein kann.
    • Sofortige Überweisung zur augenärztlichen Untersuchung!

Netzhautablösung

  • Kann primär ohne feststellbare Ursache oder als Folge einer Entzündung, Blutung, Gewalteinwirkung oder hochgradigen Kurzsichtigkeit auftreten.
  • Vor der eigentlichen Netzhautablösung können „Lichtblitze“, „Nebelschwaden“ und „Rußflocken“ wahrgenommen werden. Scharf abgegrenzter Gesichtsfeldausfall, häufig in Form eines Vorhangs oder Schleiers.
  • Notfalleinweisung in eine ophthalmologische Klinik ist zur Erhaltung der Sehkraft erforderlich!

Entzündliche Erkrankungen

Optikusneuritis

  • 3/4 der Patient*innen sind Frauen, das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei etwa 30 Jahren.
  • Meist einseitig auftretende Entzündung infolge eines Autoimmunprozesses
  • Innerhalb von Stunden bis Tagen auftretende Verschlechterung des Sehvermögens, Schmerzen oder unangenehmes Gefühl bei Augenbewegung, gestörte Farbwahrnehmung (Seitendifferenz)
  • Fast immer normalisiert sich das Sehvermögen innerhalb von Tagen, Wochen oder Monaten.
  • Bei etwa der Hälfte der Patient*innen liegt eine Multiple Sklerose  (MS) vor. Eine Einweisung in eine neurologische Klinik ist indiziert.

Riesenzellarteriitis: Polymyalgia rheumatica (PMR) und Arteriitis temporalis (AT)

  • Im hohen Lebensalter auftretende Gefäßerkrankung im Bereich der Schädelarterien, bei der es zur Bildung von Riesenzellengranulationen kommt.
  • Das klinische Bild variiert:
    • plötzlicher Sehverlust bei Befall der Arteria ophthalmica und ihrer extraparenchymalen Äste sowie kleiner Ziliararterien
    • progrediente Verschlechterung des Sehvermögens über mehrere Stunden
    • Schmerzen und Druckempfindlichkeit im Bereich der Schläfen und Kopfhaut
    • evtl. Verdickung der Schläfenarterien tastbar (Druckschmerzhaftigkeit)
    • Evtl. Symptome, die auf eine Polymyalgie hinweisen:
      • bilaterale Schulterschmerzen
      • Morgensteifigkeit
      • allgemeines Krankheitsgefühl
  • BSG und CRP sind häufig erhöht.
  • Rasche Therapie erforderlich: vor dem Transport ins Krankenhaus ggf. Gabe von Steroiden, ggf. Diagnosesicherung durch Biopsie der Schläfenarterie

Endophthalmitis

  • Einseitig starke Schmerzen, Sehschärfenminderung, gerötetes Auge
  • Liegt eine Perforationsverletzung vor?
  • Wurde kürzlich eine Augenoperation durchgeführt?

Keratitis

  • Kann durch Infektion, Verletzung, Reizstoffe, UV-Einstrahlung, Fremdkörper, Kontaktlinsen oder Bindegewebserkrankung verursacht sein.
  • Allmählich zunehmende und häufig als tief empfundene Schmerzen, deren Intensität schwanken kann.
  • Bei Verdacht auf Herpes simplex (siehe Artikel Herpes-simplex-Keratitis), Zoster oder bakterielle Keratitis rasche Überweisung an eine ophthalmologische Praxis.

Iridozyklitis

  • Akute und häufig rezidivierende Entzündung der Iris und des Strahlenkörpers (Corpus ciliare), bei der Uveitis auch der Aderhaut
  • Die Ursache ist ungeklärt.
  • Evtl. sind die Symptome nur leicht ausgeprägt: Hierzu gehören meist einseitige Schmerzen, die anfangs fehlen können, Augenrötung, gesteigerte Lichtempfindlichkeit, Tränenfluss und ggf. verschwommenes Sehen.
  • Typische Zeichen: verschwommenes Sehen, ziliare Injektion, Miosis, unregelmäßige Pupille, Schmerzen im betroffenen Auge bei Auslösung eines Lichtreflexes am gesunden Auge
  • Erfordert eine rasche augenärztliche Therapie.

Schlaganfall

  • Siehe Artikel Schlaganfall und TIA.
  • Andere klinische Zeichen eines zerebrovaskulären Ereignisses
  • Bei einseitiger Schädigung von Sehnervenfaserbündeln im Chiasma opticum können homonyme Gesichtsfeldausfälle auftreten.

Glaskörperblutung (Netzhautblutung)

  • Siehe Artikel Glaskörperblutung.
  • Tritt meist bei Patient*innen mit diabetischer Retinopathie auf.
  • Gehäuft auch unter Antikoagulation, nach Augenprellung oder sehr selten bei Subarachnoidalblutung (Terson-Syndrom)
  • Plötzlich getrübte Sicht, häufig mit rötlich verfärbten Bereichen
  • Kann als direkte Folge von Netzhautrissen oder einer Gefäßneubildung in der Netzhaut auftreten oder eine Blutung aus bereits bestehenden Blutgefäßen darstellen.

Toxische Effekte

Methanolvergiftung

  • Methanol wirkt akut toxisch auf die retinalen Ganglienzellen und ihre Axone.
  • Verschlechterung des Sehvermögens, Schmerzen oder unangenehmes Gefühl bei Augenbewegungen, gestörte Farbwahrnehmung (Seitendifferenz)
  • Häufig Zentralskotom

Arzneimittelnebenwirkungen

  • Amiodaron
    • Kann Blepharokonjunktivitis, Haloerscheinungen, Farbsinnstörungen und verschwommenes Sehen auslösen.
    • Auch Hornhautläsionen, Verlust von Zilien, nichtarteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie und idiopathische intrakranielle Hypertension (früher „Pseudotumor cerebri“) sind möglich.
  • Bisphosphonate
    • Können schmerzhafte Augenentzündungen wie Episkleritis, nichtinfektiöse Konjunktivitis oder Skleritis auslösen.
    • Können Diplopie, Augenlidödeme und Glaukom auslösen.
  • Ethambutol, Isoniazid
    • Können eine veränderte Farbwahrnehmung, Optikusneuropathie und Gesichtsfeldausfälle auslösen.
  • Hydroxychloroquin
    • Kann bei langfristiger Anwendung zu Ablagerungen auf der Horn- und Netzhaut, einer veränderten Farbwahrnehmung und degenerativen Veränderungen der Makula führen.
    • Kann Augentrockenheit und eine schlechtere Verträglichkeit von Kontaktlinsen auslösen.
  • Phosphodiesterase-5-Hemmer (z. B. Sildenafil)
    • Können verschwommenes Sehen, eine veränderte Farbwahrnehmung, gesteigerte Lichtempfindlichkeit und Augenschmerzen auslösen.
    • Können subkonjunktivale Blutungen (Hyposphagma) und nichtarteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie auslösen.
  • Tamoxifen
    • Kann Trübungen/Ablagerungen auf der Horn- oder Netzhaut, Sehschärfenminderung, degenerative Veränderungen der Netzhaut oder Blutungen auslösen.
  • Vitamin A
    • Kann in hohen Dosen das Sehvermögen beeinträchtigen.

Nachtblindheit (Hemeralopie)

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.10
  • Angeborene oder erworbene Dunkeladaptationsschwäche
    • Unfähigkeit des Auges, sich an reduzierte Beleuchtung zu adaptieren und nachts oder im Dämmerlicht zu sehen.
  • Es existiert keine Übereinkunft über Diagnosekriterien und keine Schweregradeinteilung.
    • Daher ist ungeklärt, wie häufig das Syndrom vorkommt.
  • Die klinisch in Erscheinung tretenden Fälle beruhen meist auf einer hereditären retinalen oder choroidalen (Aderhaut-)Dystrophie.
  • Selten paraneoplastisch aufgrund eine Tumorerkrankung außerhalb der Augen
    • karzinomassoziierte Retinopathie
    • melanomassoziierte Retinopathie
  • Vitamin-A-Mangel (Sehvermögen remittiert schnell unter Substitution)
  • Differenzialdiagnostisch sind Erkrankungen zu berücksichtigen, die ebenfalls mit einem eingeschränkten Sehvermögen bei reduzierter Beleuchtung einhergehen können.
    • z. B. Katarakt, Glaukom, Myopie (Kurzsichtigkeit)
    • Solche Erkrankungen führen bei unzureichender Beleuchtung zu einem Verschwommensehen, eine echte Nachtblindheit dagegen zu einem ausgeprägten oder kompletten Sehverlust.

Anamnese

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.5-6

Schleichend auftretender Sehverlust

  • Sehverlust ein- oder beidseitig?
  • Begleitsymptome? z. B.:
    • Schmerzen
    • Fieber
    • Hautläsionen
    • neurologische Symptome
    • kognitive oder psychische Störungen

Akut oder subakut auftretender, dauerhafter Sehverlust

  • Bei einer Netzhautablösung schildern manche Patient*innen, eine Art Vorhang oder Schleier wahrzunehmen.
  • Häufig sind Warnzeichen in Form von Flimmern und Lichtblitzen aufgetreten, ggf. in Verbindung mit beweglichen Flecken („Rußflocken“) vor dem Auge.
  • Kam es zu Gewalteinwirkung oder einer Verletzung?
  • Wurden Medikamente eingenommen, z. B. Steroide?
  • Ist das Sehvermögen auch bei Familienmitgliedern beeinträchtigt?

Vorübergehend auftretende Sehstörung

  • Wird meist rasch vergessen oder in seiner Bedeutung unterschätzt.
    • Bei prädisponierenden Faktoren in der Anamnese, z. B. Atherosklerose, Diabetes mellitus, chronisch entzündliche Erkrankungen oder Migräne (Aura? Flimmerskotom?) aktiv nachfragen.
  • Andere Augensymptome?
  • Weitere Begleitsymptome (s. o.)?

Klinische Untersuchung

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.5-6

Orientierende Augenuntersuchung

Orientierende Sehschärfenbestimmung

  • Durchführung
    • mit Sehtafel oder am LED-Bildschirm mit einer geeigneten Software
    • Abstand genau einhalten: Die zu untersuchende Person positioniert sich genau in einem definierten Abstand zur Sehtafel.
      • Sehprobentafeln sind auf eine Normentfernung geeicht.
      • Für die Fernsehschärfeprüfung sollte der Abstand in der Regel mindestens 4 m betragen. Bei Personen mit einem Visus unter 0,2 kann der Abstand auch deutlich niedriger ausfallen.
    • Bei Verwendung einer Sehtafel für helle Beleuchtung sorgen.
      • Die Prüfleuchtdichte soll 80–320 cd/m2 betragen.
    • Die zu prüfende Person soll die abgebildeten Buchstaben von oben nach unten, d. h. von großer zu kleiner Schrift vorlesen oder bei Verwendung von Landoldt-Ringen sagen, wo der Ring unterbrochen ist.
  • Maßeinheiten
    • Die Sehschärfe (Visus) kann als Bruch, Prozent- oder Dezimalzahl ausgedrückt werden.
      • In Deutschland ist der dezimale Visus gebräuchlich.
    • Als Referenz gilt der Abstand, in dem eine Person mit einem Visus von 1,0 die Schrift einer bestimmten Größe oder den entsprechenden Landoldt-Ring gerade noch erkennt.
    • Beispiel 1: Wenn der Abstand, in dem eine bestimmte Schrift bei Visus 1,0 noch erkannt wird, 5 m beträgt, die untersuchte Person die Schrift aber erst in ≤ 1 m Abstand erkennt, errechnet sich daraus ein Visus von 1/5, d. h. von 0,2.
    • Beispiel 2: Auf den auch in Deutschland gebräuchlichen, von dem Holländer Herman Snellen entwickelten „Snellen-Tafeln“ ist der Visus als Bruch und in der britischen Maßeinheit Fuß dargestellt. Ein Visus von 1,0 wird dabei als 20/20 (Fuß) dargestellt, ein Visus von 0,2 (s. o.) als 20/100 (Fuß).
  • Definitionen
    • Sehbeeinträchtigung: Sehschärfe ≤ 0,3 nach bestmöglicher Korrektur
    • Blindheit
      • Sehschärfe ≤ 0,02 (grober Anhalt: Fingerzählen aus 1 m Abstand)

Orientierende Gesichtsfeldbestimmung (Fingerperimetrie)

  • Normaler binokularer Gesichtsfeldumfang
    • ca. 180 Grad horizontal
    • ca. 60 Grad nach oben
    • ca. 70 Grad nach unten
  • Ein horizontales Gesichtsfeld ≤ 140 Grad resultiert in einer Sehschwäche, ein horizontales Gesichtsfeld ≤ 20 Grad in Blindheit.

Weitere Untersuchungen

  • Inspektion von Hornhaut und Bindehäuten
  • Inspektion der Pupille bei gedämpftem Licht
  • Orientierende Palpation der Augen
  • Pupillenreflex
    • Lichtreaktion seitengleich und kontralateral
    • Konvergenzreaktion (einseitig fehlende Konvergenzreaktion weist auf eine akute afferente Störung auf der beleuchteten Seite hin, z. B. bei Zentralarterienverschluss)
  • Augenfolgebewegungen, Nystagmus, Doppelbilder?

Ergänzende Untersuchungen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.5-6

In der Hausarztpraxis

  • Blutdruck
  • Blutzucker
  • BSG, CRP und ggf. umfassendes immunologisches Labor bei Verdacht auf Riesenzellarteriitis oder anderen Autoimmunprozess
  • Ggf. orientierende neurologische Untersuchung (andere Hirnnerven, Paresen, Sensibilitätsausfälle?)

Maßnahmen und Empfehlungen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.5-6

Indikationen zur Überweisung

  • Jede neu aufgetretene Sehstörung möglichst umgehend ophthalmologisch abklären!
  • Bei Kindern11
    • Sofort: Bei sichtbaren Auffälligkeiten der Augen, wie Augenzittern, Hornhauttrübungen, grau-weißlichen Pupillen, Exophthalmus, lichtempfindlichen Augen oder bei Lidveränderungen, hier besonders Hängelidern, die die Pupille verdecken. Oder bei diagnostischer Unsicherheit.
    • Mit 6–12 Monaten: Bei erhöhtem Risiko für Schielen, für Fehlsichtigkeit (optische Brechungsfehler) und/oder für erbliche Augenerkrankungen. Das liegt z. B. vor bei Frühgeburten, Kindern mit Entwicklungsverzögerungen, Geschwistern oder Kindern von Menschen mit Strabismus oder starker Fehlsichtigkeit (besonders bei Weitsichtigkeit) sowie bei Kindern aus Familien mit bekannten erblichen Augenerkrankungen.

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Je nach Diagnose (s. o.)

Verlauf, Komplikationen und Prognose

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.5-6

Verlauf

  • Ein krankheitsbedingter Sehverlust kann in etwa der Hälfte der Fälle behoben und in etwa 1/4 der Fälle vermieden werden.

Komplikationen

  • Erblindung
  • Stürze
  • Medikationsfehler
  • Soziale Isolation und Depression

Prognose

  • Mit einer adäquaten Rehabilitation können viele Patient*innen mit Sehverlust ihren Haushalt wieder selbst besorgen und einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Weitere Informationen

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Beginnende Makuladegeneration: 1+2 Netzhautgefäße; 3 Makula; 4 Papille
Beginnende Makuladegeneration: 1+2 Netzhautgefäße; 3 Makula; 4 Papille
Makuladegeneration: 1 Papille; 2 starke Vernarbung in der Makula
Makuladegeneration: 1 Papille ; 2 starke Vernarbung in der Makula

Quellen

Leitlinien

  • Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale Versorgungsleitlinie Prävention und Therapie von Netzhautkomplikationen bei Diabetes. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-001b. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.leitlinien.de

Literatur

  1. Schaufelberger M, Meer A, Furger P, Derkx H et al.. Red Flags - Expertenkonsens - Alarmsymptome der Medizin. Neuhausen am Rheinfall, Schweiz: Editions D&F, 2018.
  2. Fleischmann T. Fälle Klinische Notfallmedizin - Die 100 wichtigsten Diagnosen. München, Deutschland: Elsevier, 2018.
  3. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2023, Stand 16.09.2022. www.dimdi.de
  4. Bourne RR, Jonas JB, Flaxman, et al. Prevalence and causes of vision loss in high-income countries and in Eastern and Central Europe: 1990-2010. Br J Ophtalmol 2014. pmid:24665132 PubMed
  5. Pelletier AL, Rojas-Roldan L, Coffin J. Vision loss in older adults. Am Fam Physician 2016 Aug 1; 94(3): 219-26. pmid:27479624 PubMed
  6. SooHoo JR. Assessment of vision loss. BMJ Best Practice. Last reviewed: 26 Jan 2023, last updated: 22 Nov 2022 bestpractice.bmj.com
  7. GBD 2019 Blindness and Vision Impairment Collaborators; Vision Loss Expert Group of the Global Burden of Disease Study. Causes of blindness and vision impairment in 2020 and trends over 30 years, and prevalence of avoidable blindness in relation to VISION 2020: the Right to Sight: an analysis for the Global Burden of Disease Study. Lancet Glob Health 2021; 9(2):e144-e160. PMID: 33275949 PubMed
  8. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. U7a-Untersuchung - 34. bis 36. Lebensmonat. BZgA Köln 2016. www.kindergesundheit-info.de
  9. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale Versorgungsleitlinie Prävention und Therapie von Netzhautkomplikationen bei Diabetes. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-001b. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.leitlinien.de
  10. Smith J, Adams W. Night blindness. BMJ Best Practice. Last reviewed: 26 Jan 2023, last updated: 01 Nov 2019. bestpractice.bmj.com
  11. Berufsverband der Augenärzte. Vorsorge bei Kindern. BVA, 6/2022. www.augeninfo.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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