Allergie als systemische Erkrankung

Zusammenfassung

  • Definition:Spezifische, immunologisch vermittelte, krank machende Überempfindlichkeit gegen eigentlich ungefährliche Substanz (Allergen).
  • Häufigkeit:Mindestens 20–30 % der deutschen Bevölkerung sind von Allergie betroffen.
  • Symptome:Stark unterschiedlich; fast immer Juckreiz.
  • Befunde:Bei systemischer Reaktion generalisierte Hautrötung, Urtikaria, Stridor, Hypotension, Tachkardie.
  • Diagnostik:Klinische Verdachtsdiagnose Allergie. Identifizierung des Allergens über Allergietests.
  • Therapie:Kausal für einige Allergene allergenspezifische Immuntherapie (Hyposensibilisierung) möglich. Symptomatisch Medikamente zur Unterdrückung der überschießenden Immunreaktion.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Begriff „Allergie“ (griechisch allos = anders, ergon = Tätigkeit, Werk) 1906 erstmals vom Wiener Kinderarzt Clemens von Pirquet verwendet zur Beschreibung einer „andersartigen“ Reaktivität des Immunsystems.1
  • Heutige Definition: spezifische, immunologisch vermittelte, krank machende Überempfindlichkeit gegen eine eigentlich ungefährliche Substanz (Allergen)2-3
  • Allergien gehören zu den „Non-communicable Diseases (NCD)“ (nichtübertragbare Erkrankungen).3 
    • NCD werden von der WHO als Erkrankungsgruppe angesehen, die größte medizinische Herausforderung aktuell und in nächsten Jahren darstellt.
    • NCD umfassen kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Asthma und Allergien.
    • allen gemeinsam: Beeinflussbarkeit durch Umweltfaktoren und chronische Entzündung

Einteilung

  • Typ I: IgE-vermittelte Soforttyp-Reaktion
  • Typ II: Zytotoxischer Typ
  • Typ III: Immunkomplex Typ
  • Typ IV: T‑Zell-vermittelte Spättyp-Reaktion (Kontaktallergie)
  • Höchste sozioökonomische Relevanz haben Typ I und IV3

Häufigkeit

  • Deutschland
    • Mindestens 20–30 % der Bevölkerung sind von Allergie betroffen.1
    • bei Kindern und Jugendlichen > 30 % betroffen3
  • EU
    • 44–76 Mio. der 217 Mio. Erwerbstätigen leiden an Allergie.3
      • 90 % dieser Patient*innen werden unzureichend oder gar nicht behandelt.
      • Der sozioökonomische Schaden durch verminderte Leistungsfähigkeit wird auf 55–151 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt.

Ätiologie und Pathogenese

Allgemeines1

  • Die allergische Reaktion besteht immer aus einer Sensibilisierungs- und einer Entzündungsphase.
  • Das Immunsystem identifiziert einen an sich harmlosen Umweltfaktor bei Kontakt als schädliche Substanz, entwickelt eine spezifische Reaktion und löst bei jedem weiteren Kontakt mit dem entsprechenden Umweltfaktor eine Entzündungskaskade aus.
    • Durch die natürliche Rekombinationsfähigkeit von B‑ und T‑Zell-Rezeptoren ist grundsätzlich auf jedes erdenkliche Umweltallergen eine spezifische Reaktion möglich.
    • Die Frage, was Allergen zum Allergen macht, nicht abschließend geklärt.
  • Es gibt 2 Hypothesen für die Zunahme von Allergien in der Bevölkerung:
    • fehlende oder mangelhafte Stimulation des Immunsystems in der frühen Kindheit („Hygiene"- oder „Urwald"-Hypothese)
    • Einfluss anthropogener Schadstoffe, insbesondere feiner partikulärer Luftschadstoffe („Schadstoff-Hypothese").

Spezifische Allergietypen4

  • Typ I: IgE-vermittelte Soforttyp-Reaktion
    • Auf Mastzellen gebundene IgE-AK werden über Antigen vernetzt.
    • Die Vernetzung initiiert Degranulation der Mastzellen und damit Ausschüttung zahlreicher Mediatoren, insbesondere Histamin.
      • Wirkung von Histamin: u. a. Erhöhung der Gefäßpermeabilität und somit verbesserte Durchlässigkeit für Lymphozyten, Dilatation der Kapillargefäße und dadurch Durchblutungsförderung, Verengung der Bronchien (soll physiologisch Abwehr inhalativer Erreger unterstützen)5
    • Frühphase innerhalb von Minuten kann von leichten klinischen Erscheinungen wie Juckreiz oder Hautrötung bis zu Kreislaufreaktion und Anaphylaxie reichen.
    • Spätphase, deren pathophysiologische Grundlagen noch nicht eindeutig geklärt sind, kann sich innerhalb von 3–8 Stunden (max. bis 24 Stunden) post expositionem entwickeln.
    • Beispielhafte Krankheitsbilder: Atopie (Asthma, Heuschnupfen), diverse Formen der Medikamenten- und Insektengiftallergie
  • Typ II: Zytotoxischer Typ
    • durch spezifische Antikörper vom Typ IgM und IgG vermittelt
    • Bindung von IgM und IgG an Antigen aktiviert das Komplementsystem mit konsekutiver Lyse der Zellen.
    • Auslösende Antigene nicht nur Fremdantigene, sondern auch körpereigene Antigene (Autoimmunerkrankungen)
    • Die Reaktion läuft in Zeitraum von 3–8 Stunden ab.
    • Beispielhafte Krankheitsbilder: Autoimmunerkrankungen wie autoimmunhämolytische Anämie, Goodpasture-Syndrom oder Myasthenia gravis, aber auch Rhesusunverträglichkeit bei Zweittransfusion blutgruppenfremder Konserven
  • Typ III: Immunkomplex-Typ
  • Typ IV: T‑Zell-vermittelte Spättyp-Reaktion (Kontaktallergie)
    • Sensibilisierung von T-Zellen über Antigene, die von antigenpräsentierenden Zellen (z. B. Langerhans-Zellen der Haut) an der Zelloberfläche präsentiert werden.
    • Bei erneutem Antigenkontakt Freisetzung von Zytokinen durch sensibilisierte T-Zellen, die eine Entzündungsreaktion induzieren.
    • Beispielhafte Krankheitsbilder: Kontaktdermatitis, chronische Transplantatabstoßungsreaktion oder verschiedene Infektionserkrankungen wie Schistosomiasis oder Tuberkulose

 Anaphylaxie5

  • Aus jeder harmlosen Allergie kann sich manifeste Anaphylaxie entwickeln.
  • Anaphylaxie beschreibt schwere lebensbedrohliche, generalisierte oder systemische Überempfindlichkeitsreaktion auf Allergen. 
  • Im Gegensatz zu lokaler allergischer Reaktion wird Histamin von Makrophagen ungehemmt ausgeschüttet und gelangt über Blutgefäßsystem in ganzen Körper.  
  • Verstärkt wird allergische Reaktion durch Freisetzung von weiteren pro-inflammatorischen Zytokinen.
  • Siehe auch Artikel Anaphylaxie.

Diagnostik

Diagnostische Überlegungen

  • Die Verdachtsdiagnose Allergie ist durch die typische Symptomatik meist einfach zu stellen. Schwieriger ist die Identifizierung des verursachenden Allergens.5
  • Häufige Fehlerquelle: Unterscheidung zwischen „Sensibilisierung" und „Allergie"1
    • Etwa 40–50 % der Bevölkerung haben IgE-Antikörper gegen Allergene, die sich im Hauttest oder Blut nachweisen lassen, jedoch leidet nur die Hälfte tatsächlich an einer allergischen Erkrankung.
    • Sensibilisierung allein, also Laborbefund mit Nachweis von spezifischem IgE, darf nicht als Allergie diagnostiziert werden.
    • Die Sensibilisierung stellt nur in Kombination mit den entsprechenden Symptomen eine allergische Erkrankung dar.

Klinik

  • Allergische Reaktionen sind je nach Allergietyp und Individuum unterschiedlich.
  • Auswahl typischer allergischer Reaktionen nach Kuhnke et al.5
  • Inhalative Allergien, z. B. Pollen-, Tierhaar- oder Hausstaubmilbenallergie
    • Rhinitis und verstärkter Niesreiz
    • Schwellung der Augenlider und Rötung der Bindehaut
    • vermehrter Tränenfluss und Juckreiz der Augen
  • Nahrungsmittelallergien, z. B. Hühnerei-, Fisch- oder Milchallergie
    • Unwohlsein und Übelkeit
    • leichte Schwellungen im Mund- und Rachenraum
    • Diarrhö
  • Allergisches Asthma
    • Bronchospasmus
    • Dyspnoe
    • exspiratorischer Stridor
  • Kontaktallergie, z. B. Nickelallergie
    • lokal begrenzte Ekzeme mit Rötung, Schwellung und Schuppung 
    • verzögerte Reaktion (Typ IV)
  • Anaphylaktische Reaktion
    • systemische Reaktion verschiedener Schweregrade
    • von Flush und Urtikaria über Tachykardie mit Hypotonie bis hin zu manifestem Schock und Herzkreislaufstillstand

Ergänzende Untersuchungen

  • Allergietests nach Kuhnke et al.5
  • In-vitro-Testverfahren: Untersuchung des Bluts auf Antikörper, Entzündungsmarker oder antigen-spezifische T-Lymphozyten
  • Hauttests 
    • Pricktest: Allergenextrakt wird auf Haut aufgebracht, danach Anritzen der Haut mit Lanzette.
    • Intrakutantest: Injektion des Allergens in Haut (Gefahr massiver allergischer Reaktion)
    • Reibetest: Zunächst Anritzen der Haut, anschließend auftropfen und einreiben eines Allergenextrakts.
  • Provokationstests: Körper wird unterschiedlichen Allergenen ausgesetzt, dann wird die Reaktion des Immunsystems bewertet.

Therapie

  • Beste Therapie: Allergenkarenz 
  • Kausale Therapie 
    • allergenspezifische Immuntherapie (Hyposensibilisierung)
      • z. B. bei Insektengiftanaphylaxie in > 90 % erfolgreich1
  • Symptomatische Therapie
    • Medikamente zur Unterdrückung der überschießenden Immunreaktion mit verschiedenen Angriffspunkten, z. B. Antihistaminika, Kortikosteroide, anti-IgE-Antikörper oder bei anaphylaktischem Schock Adrenalin

Quellen

Literatur

  1. Ring J. Allergie als Volkskrankheit. Allergo Journal 2019; 28: 50-53. link.springer.com
  2. Bergmann KC, Ring J. History of Allergy. Basel: Karger, 2014.
  3. Traidl-Hoffmann C. Allergie – eine Umwelterkrankung!. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2017; 60: 584-91. link.springer.com
  4. Renz H, Gierten B. Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik. Berlin, Heidelberg: Springer, 2019. link.springer.com
  5. Kuhnke R, Braun S. Wenn der Körper überreagiert - Pathophysiologie der Allergie. retten! 2014; 3(2): 96-103. www.thieme-connect.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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