Definition:Eine Schädigung des N. tibialis kann iatrogen, durch verschiedene Traumata oder Kompressionen im Bereich des Ober- oder Unterschenkels, am Kniegelenk und im Fuß auftreten.
Häufigkeit:Insgesamt relativ selten, Kompression im Tarsaltunnel häufiger.
Symptome:Die Symptomatik ist von der Lokalisation und Schwere der Läsion abhängig und sehr variabel, es treten ggf. Paresen der Knie- und/oder Fußflexoren, sowie Sensibilitätsstörungen der Fußsohle, Ferse und eventuell der medialen Fußseite auf.
Befunde:Die klinischen Befunde sind abhängig von der Lokalisation und Schwere der Läsion. Bei proximaler Läsion ist der Zehenspitzengang nicht möglich. Bei distaler Läsion imponiert ein Krallenfuß, die Zehenspreizung kann nicht erfolgen. Außerdem fallen Hypästhesien der Fußsohle sowie Atrophien der kleinen Fußmuskeln und möglicherweise eine An- oder Hyphidrose auf.
Therapie:Abhängig vom Schweregrad und von der Ursache der Läsion. Meist konservativ, evtl. operativ. Physio- und Ergotherapie können sinnvoll sein.
Allgemeine Informationen
Definition
Schädigung des N. tibialis entlang des Nervenverlaufs
Schädigung durch Traumata wie Schuss-, Stich- oder Zugverletzungen, Frakturen, Luxationen, Distorsionen, iatrogen oder durch dauerhafte Kompression
Das klinische Bild ist sehr variabel, abhängig von Schwere und Lokalisation der Schädigung; es kann zu Paresen, Sensibilitätsstörungen und Muskelatrophie kommen.
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4
Anatomie
Der Nervus tibialis hat seinen Usprung in den Rückenmarkssegmenten L4 bis S3 und ist einer der beiden Hauptäste des Nervus ischiadicus.
Abgang mehrerer motorischer Äste aus dem Tibialisanteil des N. ischiadicus
Versorgung des proximalen und distalen Teils des M. semitendinosus, des Caput longum M. bicipitis, des M. semimembranosus sowie des medialen Teils vom M. adductor magnus
In der Kniekehle gehen folgende Äste ab:
Rr. articulares genu zum Kniegelenk
N. cutaneus surae medialis, verbindet sich mit dem R. communicans peroneus zum N. suralis.
N. suralis zieht lateral der Achillessehne hinter dem lateralen Knöchel zum lateralen Fußrand.
N. suralis innerviert sensibel die laterale Fläche der Fersen, den lateralen Fußrand und die Außenfläche der kleinen Zehen.
Rr. musculares: Versorgung der oberflächlichen Flexoren M. soleus, M. plantares, M. popliteus und des medialen und lateralen Kopfes des M. gastrocnemius
Der Nervus tibialis verläuft unter dem M. soleus und gibt hier Rr. musculares zu den tiefen Flexoren M. tibialis posterior, M. flexor digitorum longus, M. flexor hallucis longus und M. soleus ab.
Er verläuft dann weiter zwischen dem M. flexor hallucis longus und M. flexor digitorum longus bis zur Rückseite des medialen Knöchels.
Gibt hier Rr. calcanei mediales zum medialen Hautbezirk der Ferse ab.
An der Innenseite des Sprunggelenks zieht der Nervus tibialis mit der Arteria und Vena tibialis posterior durch den Tarsaltunnel.
Innerhalb des Tarsaltunnels teilt er sich in den Nervus plantaris lateralis und medialis, die zur Fußsohle ziehen.
Der Nervus plantaris medialis gibt folgende Äste ab:
Einen medialen Zweig, der zur medialen Seite der Großzehe zieht.
Rr. musculares, die den M. abductor hallucis, den medialen Kopf des M. flexor hallucis brevis und den M. flexor digitorum brevis innervieren.
Einen lateralen Ast, der sich in Höhe der Mittelfußbasen in 3 Nn. digitales plantares communes verzweigt, die die Mm. lumbricales I und II innervieren.
Weitere Aufteilung in Nn. digitales proprii, die die laterale Seite der Großzehe bis zur medialen Seite der IV. Zehe einschließlich Nagelbett innervieren.
Rr. articularis innervieren Tarsal- und Metatarsalgelenke.
Der Nervus plantaris lateralis gibt folgende Äste ab:
Rr. muscularis für die Innervation von M. quadratus plantae, M. abductor digiti minimi
R. superficialis innerviert sensibel die Kleinzehe und den lateralen Bereich der IV. Zehe, motorisch die Mm. flexor digiti minimi brevis und opponens digiti minimi, beide Mm. interossei des 4. Intermetatarsalraums
R. profundus innerviert die übrigen Mm. interossei, den M. adductor hallucis und die Mm. lumbricales II, III und IV.
Motorische Funktion
Innervation aller Fuß- und Zehenflexoren am Unterschenkel und aller Fußmuskeln bis auf die Zehenextensoren (Mm. extensores breves) am Fußrücken, die durch den N. peroneus innerviert werden.
Beugung des oberen und unteren Sprunggelenks, Supination und Adduktion
Beugen, Spreizen und Adduktion der Zehen
Sensible Funktion
dorsale Fläche des Unterschenkels, Ferse, Fußsohle, lateraler Rand des Fußrückens und einen Teil der Streckseite der kleinen Zehen
Ätiologie und Pathogenese
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
Mononeuropathien werden vorwiegend verursacht:
durch Traumata wie Schuss-, Stich-, Zugverletzungen sowie Frakturen.
durch kontinuierlichen Druck durch Kompression von außen oder in anatomischen Engpässen z. B. durch Tumoren und/oder Hämatome
iatrogen.
Abhängig von der Lokalisation der Läsion unterscheidet sich die Ätiologie der Tibialisläsion.
Ergänzend kann eine Bildgebung wie Röntgen oder MRT notwendig sein, um Frakturen, Distorsionen, Luxationen oder Tumoren zu detektieren oder auszuschließen.
Um leichte Nervenschädigungen zu diagnostizieren, kann die Messung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) sinnvoll sein.
Um den Grad der Läsion festzustellen, sollten weiterführende elektrophysiologische Untersuchungen durchgeführt werden.
Differenzialdiagnosen
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Ninhydrin-Test zum Nachweis einer fehlenden oder verminderten Schweißsekretion2
Bei Verdacht auf eine perineurale Narbenbildung oder unklarer Ursache ist eine operative Exploration gerechtfertigt.2
Indikationen zur Überweisung
Eine Überweisung an die Neurologie wird bei unklarem klinischem Bild und/oder unklarer Ätiologie zur weiterführenden Diagnostik empfohlen.
Bei unzureichender Wirkung konservativer Maßnahmen und/oder Indikation zur sofortigen Operation sollte eine Überweisung an die Neurochirurgie erfolgen.
Therapie
Allgemeines zur Therapie
Die Therapie ist abhängig von der Lokalisation und Schwere der Läsion.
Therapeutische Entscheidungen sind häufig erst nach einer Verlaufsbeobachtung sinnvoll.
Funktionsstörung ohne Kontinuitätsunterbrechung des Nervs
z. B. bei Druck
ohne Therapie reversibel
Axonotmesis
Unterbrechung der Axone, äußere Nervenstrukturen (Hüllstrukturen) intakt
unter guten Bedingungen vollständige Heilung ohne bleibende Schäden
Neurotmesis
Schädigung von Axonen und Hüllstrukturen
komplette Durchtrennung des Nervs
operatives Vorgehen indiziert.
Bei Abriss des Nervs ist eine umgehende Operation erforderlich.5
Sollte keine Regeneration stattfinden und/oder keine Besserung des elektrophysiologischen Befunds eintreten, soll die Indikation zum invasiven Verfahren erneut geprüft werden.
Therapieziel
Im Vordergrund steht die Behandlung der Ursache der Läsion.
Es sollte möglichst immer zuerst der Versuch einer konservativen Therapie erfolgen.
Das Therapieziel ist die vollständige Regeneration des Nervs ohne bleibende Sensibilitäts- und/oder Funktionsstörungen.
Konservative Verfahren
Abhängig von Lokalisation und Ätiologie der Schädigung
Bei geschlossener/stumpfer Dehnungsverletzung genaue Dokumentation des neurologischen Befunds und Nervenexploration ggf. als Sekundäreingriff abhängig von Elektrophysiologie, Klinik und Bildgebung
Ruhigstellen der Extremität
Infiltration von Kortikoiden und Lokalanästhetika1
breites Schuhwerk, Einlagen mit retrokapitaler Abstützung
Zur Überprüfung konservativer Verfahren sollte der Verlauf innerhalb des ersten halben Jahres klinisch und evtl. elektrophysiologisch kontrolliert werden.5
Operative Verfahren
Indikation zur Operation
Wunde im Bereich des Nervenverlaufs und schwere Funktionsstörung des Nervs, Kontinuitätsverlust wahrscheinlich
Wundexploration sollte in Blutleere erfolgen.
im Fall einer Nervdurchtrennung: primäre Nervennaht möglichst am Unfalltag bzw. innerhalb von 8–24 h nach Unfall
Im Rahmen einer Kompressionsneuropathie kann eine operative Dekompression (externe Neurolyse) sinnvoll sein, z. B. beim Tarsaltunnelsyndrom.
Operationsverfahren inkludieren abhängig von der Schwere der Läsion und dem zeitlichen Abstand zum Läsionsbeginn primäre und sekundäre Nervennähte.
Wenn eine spannungsfreie End-zu-End-Nervennaht nicht möglich ist, sollten autologe Transplantate genutzt werden.
Bei einer partiellen Nervendurchtrennung sollte eine Teilnervenrekonstruktion erfolgen.
Zur Überprüfung des operativen Erfolgs, vor allem bei Nervenrekonstruktion, sind Follow-up-Untersuchungen entsprechend der zu erwartenden Nervenregenerationszeit mit Funktionsprüfung und ggf. elektrophysiologischen Untersuchungen wichtig.5
Bei Nervenverletzungen und/oder Nervenrekonstruktionen sollten rehabilitative Maßnahmen wie Ergo- und Physiotherapie so früh wie möglich nach Trauma bzw. Operation erfolgen.5
Medikamentöse Therapie
Zur Behandlung von im Verlauf auftretenden neuropathischen Schmerzen werden verschiedene systemisch verabreichte Substanzgruppen mit unterschiedlichen pharmakologischen Wirkprinzipien eingesetzt, wie Antidepressiva, Antikonvulsiva und Opioide.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Der Verlauf ist abhängig von der Ätiologie, Schwere und Lokalisation der Läsion, sowie dem Zeitpunkt der Behandlung.
Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.5
Eine spontane Restitution ist bei leichter Schädigung des Nervs möglich, bei erhaltener elektrischer Leitfähigkeit des Nervs wahrscheinlicher.
Die wichtigsten prognostischen Faktoren sind das Alter der Patient*innen, die Ursache, Art und Lokalisation der Verletzung sowie Begleitverletzungen und der Zeitraum zwischen Verletzung und Behandlung.
Bei Kindern gilt eine bessere Prognose als bei Älteren.
Die Prognose bei der Rekonstruktion des N. tibialis ist besser als beim N. peroneus.
Die Verletzung des N. tibialis durch Schüsse ist prognostisch ungünstig bei Defekten von mehr als 8 cm, hoher Läsion und mehr als 8 Monate zurückliegender Zerreißung.
Bei Versäumen einer operativen Intervention kann die Prognose durch gezielte physikalische und physiotherapeutische Therapiemaßnahmen verbessert werden.
Müller-Vahl H, Tegenthoff M, Mumenthaler M, Schliack H, Stöhr M. Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. Stuttgart: Thieme; 2020.
Mumenthaler M, Mattle H. Neurologie. Stuttgart, New York, Delhi, Rio: Thieme; 2008. www.thieme-connect.de
Kahle W, Frotscher M. Taschenatlas Anatomie: Nervensystem und Sinnesorgane. Stuttgart, New York: Thieme; 2009. S. 94-95.
Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie (DGH), Deutsche Gesellschaft für Neurochirugie (DGNC), Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) u. a. Nervenverletzungen, Versorgung peripherer.... AWMF-Leitlinie LeitlinieNr. 005-010. S3., Stand 2013. www.awmf.org
Mattle H, Fischer U. Kurzlehrbuch Neurologie. Stuttgart: Thieme; 2021.
Autor*innen
Katja Luther, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Berlin
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
G57; G574; S84; S840
N81
Nervus tibialis; Tarsaltunnelsyndrom; Tibialisnervläsion; Kniegelenksverletzungen; Tibiafrakturen; Taubheitsgefühl in der Fußsohle; Brennen in der Fußsohle; Perkussionsschmerz; Perkussionsparästhesien; Hoffman-Tinel-Zeichen; Morton-Metatarsalgie; Taubheitsgefühl Ferse; Zehenspitzengang; Krallenfuß
Läsion des N. tibialis
BBB MK 31.03.2022 gründlich revidiert und aktualisiert, großteils umgeschrieben.
chck go 14.6.
CB 14.6.16/14.11.17 uptodate aufgelöst
Definition:Eine Schädigung des N. tibialis kann iatrogen, durch verschiedene Traumata oder Kompressionen im Bereich des Ober- oder Unterschenkels, am Kniegelenk und im Fuß auftreten.