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Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)

Zusammenfassung

  • Definition: Entzündliche, demyelinisierende Erkrankung des ZNS, der meistens eine Virusinfektion oder eine Impfung vorausgeht.
  • Epidemiologie: Seltene Erkrankung, die vorwiegend bei Kindern unter 10 Jahren auftritt. Die jährliche Inzidenz wird auf 0.4/100.000 geschätzt. 
  • Symptome: Fieber, Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Lethargie, Krämpfe. 
  • Befund: Multifokales, polysymptomatisches klinisches Bild mit u. a. Halbseitensymptomen, Kleinhirnzeichen, Optikusneuritis. Typisch ist ein monophasischer klinischer Verlauf (in Abgrenzung zur MS).
  • Diagnostik: Neben dem klinischem Befund beruht die Diagnose auf Liquoruntersuchung und MRT. 
  • Therapie: In erster Linie Kortikosteroide. Bei Therapieversagen auch Immunglobuline, Cyclophosphamid oder Plasmapherese.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Entzündliche Schädigung der Myelinscheiden in Gehirn und Rückenmark1
  • Es handelt sich vermutlich um eine Autoimmunerkrankung.2
  • Auftreten vor allem parainfektiös und postvakzinal3
  • In der Regel monophasischer Verlauf4

Häufigkeit

  • Inzidenz
    • Es liegen nur wenige epidemiologische Daten vor. 
    • Die jährliche Inzidenz wird auf 0,4/100.000 Einwohner geschätzt.5
  • Alter
    • insbesondere Kinder unter 10 Jahren betroffen (etwa 80 % der Fälle)
    • nur wenige Fälle bei Erwachsenen2
  • Jahreszeit
    • Auftreten überwiegend in den Wintermonaten1

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie

  • Parainfektös: Auftreten wenige Tage nach einer Infektion z. B. mit Masern-, Varizellen-, Mumps-, Röteln-, Adeno- oder Influenzaviren3
  • Postvakzinal: ADEM wird mit diversen Impfungen in Verbindung gebracht: HPV, Rabies, Diphterie, Tetanus, Polio, Pocken, Masern, Mumps, Röteln, Keuchhusten, Influenza, Hepatitis B.6
  • Allerdings sind auch Fälle ohne vorherige Infektion oder Impfung bekannt.1

Pathogenese

  • Theorien zur Pathogenese umfassen.2
    • Molekulare Mimikry
    • direkte Neurotoxizität von Viren
    • Postinfektiöser Verlust der immunologischen Toleranz gegenüber ZNS-Antigenen
      • Austritt durch die geschädigte Blut-Hirn-Schranke und Induktion einer T-Zellreaktion
  • Perivenuläre, lympozytäre Entzündung mit stellenweiser Demyelinisierung
  • Pathologisch (und klinisch) Ähnlichkeit mit multipler Sklerose (MS)7-8
    • Muster der Demyelinisierung allerdings unterschiedlich zur MS1
      • Im Gegensatz zur ADEM sind Läsionen bei MS heterogen in Bezug auf Alter und Zusammensetzung.2

ICPC-2

  • N71 Meningitis/Enzephalitis
  • N99 Neurologische Erkrankung, andere

ICD-10

  • G04 Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis
    • G04.0 Akute disseminierte Enzephalitis
    • G04.8 Sonstige Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis
    • G04.9 Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Bislang keine einheitlichen bzw. validierten diagnostischen Kriterien3
  • Eine ADEM sollte erwogen werden bei Vorliegen folgender Kriterien:1
    • multifokales, polysymptomatisches klinisches Bild
    • Alter unter 10 Jahren
    • Zeichen und Symptome von:
    • Pleozytose im Liquor ohne oligoklonale Banden
    • Im MRT Läsionen von Strukturen, die typischerweise bei MS nicht betroffen sind.

Differenzialdiagnosen

  • Multiple Sklerose
    • MS in der Regel chronische, schubartige Erkrankung bei jungen Erwachsenen, ADEM monophasisch bei präpubertären Kindern
    • Bei der pädiatrischen MS kann erster Schub nicht als solcher gewertet werden, wenn komplexe multifokale Symptomatik vorliegt, da sichere Unterscheidung von ADEM nicht möglich.9
  • Guillain-Barré-Syndrom
  • Virale Meningitis
  • Virale Enzephalitis

Anamnese

  • Patienten sind in der Regel Kinder.
  • Vorherige Infektionskrankheit (in der Regel 1–20 Tage nach einer Infektion) oder Impfung
  • In etwa 10 % der Fälle keine eindeutigen Prodromi

Symptome und klinischer Befund

  • Akutes Auftreten mit Fieber und Zeichen der Enzephalopathie3
    • Kopfschmerzen
    • Erbrechen
    • Verwirrtheit
    • Vigilanzstörungen (Apathie bis Koma)
  • Im weiteren Verlauf polysymptomatische neurologische Klinik, z. B.:
    • Ataxie
    • Hemiplegie
    • sensorische Störungen
    • Hirnstammsyndrome
    • Sehstörungen.
  • Spektrum der klinischen Manifestationen variabel, von subklinischen Episoden bis hin zu fulminanten und tödlichen Verläufen4

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Mit allgemeinmedizinischer Diagnostik keine Erhärtung der Verdachtsdiagnose möglich 

Diagnostik beim Spezialisten

  • Liquoruntersuchung
    • häufig Nachweis einer lymphozytären Pleozytose (bei MS selten)1
    • selten oligoklonale Banden (im Gegensatz zur MS)2
      • z. T. nur transient (im Gegensatz zur MS)4 
    • Der Eiweißgehalt kann leicht erhöht sein. 
    • wichtig zum Ausschluss einer Infektion
  • Akute disseminierte Enzephalitis
    Akute disseminierte Enzephalitis
    Zerebrale/spinale MRT
    • wichtigstes Bildgebungsverfahren10
    • in 80–90 % der Fälle Veränderungen in der Frühphase der Erkrankung
    • T2-gewichtete Aufnahmen zeigen multifokale Bereiche mit hoher Signalintensität.11
    • MRT-Befunde nicht spezifisch für ADEM, zeigen aber häufig anderes Muster als bei MS.
    • MRT-Befunde vor allem hilfreich in Kombination mit klinischen Kriterien1
    • Folluw-up-MRT empfehlenswert zur Bestätigung der Diagnose2
      • bei ADEM Rückbildung der Läsionen oder Läsionen unverändert
      • Neue Läsionen sprechen für MS.
  • Hirnbiopsie
    • seit Einführung der MRT nur noch selten indiziert

Indikation zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung

Therapie

Therapieziel

  • Verhinderung bleibender Schäden 

Allgemeines zur Therapie

  • Therapie angesichts der Seltenheit der Erkrankung empirisch4
  • Basistherapie hochdosierte Kortikosteroide4
  • Bei mangelhaftem Ansprechen als Eskalationstherapie Immunglobuline, Cyclophospamid, Plasmapherese4

Medikamentöse Therapie

  • Kortikosteroide
    • Methylprednisolon 30 mg/kg/Tag bei Kindern bzw. bis zu 1000 mg/Tag bei Erwachsenen für 3–5 Tage1
    • Kortikoide werden am häufigsten eingesetzt und führen meistens zu klinischer Besserung und Regression der MRT-Läsionen.
  • Hochdosiertes, intravenöses Immunglobulin
    • Alternative zu Steroiden12
    • Gabe in Dosen von 2 g/kg intravenös über 2–5 Tage

Weitere Therapien

  • Plasmapherese sollte bei mangelndem Ansprechen auf Kortikosteroide erwogen werden.13

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Monophasischer Verlauf
  • In der Regel selbstlimitierend
  • Bei optimaler Therapie in den meisten Fällen Abklingen der Erkrankung im Laufe eines Monats 
    • Bei 3–5 % der Patienten Rezidiv im Verlauf, meistens nach Absetzen der Steroide
    • Bei einigen Patienten Spätrezidive, hier Abgrenzung zu anderen demyelinisierenden Erkrankungen schwierig 

Komplikationen

  • Persistierende neurologische Ausfälle
    • in den meisten Fällen Rückbildung innerhalb eines Jahres nach Beginn der Erkrankung
  • Akute hämorrhagische Enzephalomyelitis
    • seltene und schwere Form der akuten disseminierten Enzephalomyelitis

Prognose

  • Insgesamt günstige Langzeitprognose4
    • in den meisten Fällen Ausheilung
      • vollständige Ausheilung auch bei initial sehr schwerem Verlauf (Koma, Plegie) möglich
      • niedrigste Heilungsrate bei Kindern unter 2 Jahren, aber auch hier in der Mehrzahl der Fälle Genesung
    • bei einigen Patienten Persistenz von neurologischen Funktionseinschränkungen
    • Rezidive treten bei etwa 5 % der Patienten auf (Differenzialdiagnose MS erwägen).
    • Bei weniger als 2 % der Patienten verläuft die Krankheit tödlich.

Verlaufskontrolle

  • Neben klinischen Verlaufskontrollen ist ein Follow-up-MRT empfehlenswert.2

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Akute disseminierte Enzephalitis
Akute disseminierte Enzephalitis

 

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Multiple Sklerose, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie 030-050, Stand 2012. www.awmf.org
  • Gesellschaft für Neuropädiatrie. Pädiatrische Multiple Sklerose. AWMF-Leitlinie 022-014, Stand 2016. www.awmf.org
  • Infectious Diseases Society of America. The Management of Encephalitis: Clinical Practice Guidelines 2008. www.idsociety.org

Literatur

  1. Young N, Weinshenker B, Lucchinetti C. Acute Disseminated Encephalomyelitis: Current Understanding and Controversies. Semin Neurol 2008; 28: 84-94. doi:10.1055/s-2007-1019130 DOI
  2. Menge T, Kieseier BC, Nessler S et. al. Acute disseminated encephalomyelitis: an acute hit against the brain. Curr Opin Neurol 2007; 20: 247-54. PubMed
  3. Rauer S, Kaiser R. Demyelinisierende Erkrankungen. In: Hufschmidt A, Lücking C, Rauer S (Hrsg.): Neurologie compact; S. 242. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2013.
  4. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Multiple Sklerose, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie 030-050, Stand 2012. www.awmf.org
  5. Leake JA, Albani S, Kao AS, et al. Acute disseminated encephalomyelitis in childhood: epidemiologic, clinical and laboratory features. Pediatr Infect Dis J 2004; 23: 756-764. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Yuan J, Wang S, Guo X et al. Acute disseminated encephalomyelitis following vaccination against Hepatitis B in a child: a case report and literature review. Case Rep Neurol Med 2016; 2016: 2401809. doi:10.1155/20162401809 DOI
  7. Dale RC, Branson JA. Acute disseminated encephalomyelitis or multiple sclerosis: can the initial presentation help in establishing a correct diagnosis? Arch Dis Child 2005; 90: 636-9. PubMed
  8. Rust RS. Multiple sclerosis, acute disseminated encephalomyelitis, and related conditions. Semin Pediatr Neurol 2000; 7: 66-90. PubMed
  9. Gesellschaft für Neuropädiatrie. Pädiatrische Multiple Sklerose. AWMF-Leitlinie 022-014, Stand 2016. www.awmf.org
  10. Alper G. Acute disseminated encephalomyelitis. J Child Neurol 2012; 27:1408. PubMed
  11. Oksuzler YF, Cakmakci H, Kurul S. Diagnostic value of diffusion-weighted magnetic resonance imaging in pediatric cerebral diseases. Pediatr Neurol 2005; 32: 325-33. PubMed
  12. Hahn JS, Siegler DJ, Enzmann D. Intravenous gammaglobulin therapy in recurrent acute disseminated encephalomyelitis. Neurology 1996; 46: 1173-4. Neurology
  13. Tunkel A, Glaser C, Bloch K et al. The Management of Encephalitis: Clinical Practice Guidelines by the Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis 2008; 47: 303-327. doi:10.1086/589747 DOI

Autoren

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Håkan Widner, adj professor och överläkare, Neurologiska kliniken, Skånes universitetssjukhus
  • Kurt Østhuus Krogh, specialist inom barnsjukdomar, Barne- og ungdomsklinikken, St. Olavs Hospital, Trondheim
G04; G040; G048; G049
N71; N99
DemyelinisierendeAkute ZNS-Erkrankungdisseminierte Enzephalomyelitis; Entzündliche Schädigung der Myelinscheiden; Parainfektiöse ADEM; PostvakzinaleMOG-IgG; ADEMMOG-Enzephalomyelitis; Multiple Sklerose; Enzephalopathie; Vigilanzstörungen;Multifokale Neurologischeneurologische Ausfälle; Akute hämorrhagische EnezephalomyelitisDefizite
Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)
BBB MK 21.03.2023 komplett umgeschrieben. MK 08.11.16
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Definition: Entzündliche, demyelinisierende Erkrankung des ZNS, der meistens eine Virusinfektion oder eine Impfung vorausgeht. Epidemiologie: Seltene Erkrankung, die vorwiegend bei Kindern unter 10 Jahren auftritt. Die jährliche Inzidenz wird auf 0.4/100.000 geschätzt. 
Neurologie
Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)
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