Definition:Zu den Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen zählen u. a. Trennungsangst, Störung mit sozialer Ängstlichkeit, phobische Störung des Kindesalters und generalisierte Angststörung.
Häufigkeit:Die Prävalenz von Angststörungen liegt insgesamt bei 5–10 % der Bevölkerung.
Symptome:Angststörungen treten bei Kindern und Jugendlichen je nach Alter in unterschiedlicher Form in Erscheinung. Häufig sind depressive Symptome vorhanden.
Befunde:Als klinische Befunde können soziale Unsicherheit, Vermeidungsverhalten, unrealistische Sorgen, Muskelverspannungen und vegetative Symptome vorliegen.
Diagnostik:Die Anwendung standardisierter Fragebögen kann sinnvoll sein.
Therapie: Beratung und Psychoedukation. Multimodale störungsspezifische Psychotherapie. Im Einzelfall können bei Kindern ab dem Schulalter und bei Jugendlichen ergänzend Psychopharmaka indiziert sein, meist SSRI.
Die für das Kindesalter spezifischen Angststörungen werden nach ICD-10 als emotionale Störungen (F93.-) klassifiziert.3
Diese stellen in erster Linie Verstärkungen normaler Entwicklungstrends dar und weniger eigenständige, qualitativ anomale Phänomene.
Die Entwicklungsbezogenheit ist das diagnostische Schlüsselmerkmal für die Unterscheidung der emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit (F93.-) von den neurotischen Störungen (F40–F48).
Zu den Angststörungen des Kindesalters zählen:
F.93.0 Emotionale Störung mit Trennungsangst
F.93.1 Phobische Störung des Kindesalters
F.93.2 Störung mit sozialer Ängstlichkeit.
Angststörungen, alle Altersgruppen
Näheres zu diesen Störungen in den Artikeln zu den entsprechenden Störungen sowie zum Symptom Angst
Angststörungen, die mit wenigen Ausnahmen (s. Anmerkungen in Klammern) während der gesamten Lebensspanne auftreten können:1
F.40.- Phobische Störungen
F40.0 Agoraphobie mit oder ohne Panikstörung (Manifestation erst im späteren Jugend- oder im Erwachsenalter)
Die Genese ist multifaktoriell und durch Wechselwirkungen zwischen konstitutionellen Faktoren und den Lebenserfahrungen des Kindes geprägt, einschließlich dem Umfeld, in dem es aufwächst.
Vermutlich spielen dabei die folgenden Faktoren eine Rolle:
genetische Faktoren
Persönlichkeitsfaktoren
Verhalten und psychische Störungen der Eltern
spezifische Lebenserfahrungen
kognitive Bewältigungsstrategien
soziale Anpassung und Bewältigungsstrategien der Familie.
Prädisponierende Faktoren
Depression oder Angststörung bei den Eltern, und zwar sowohl als erblicher als auch als Umweltfaktor
Angststörungen treten bei Kindern und Jugendlichen je nach Alter in unterschiedlicher Form in Erscheinung und gehen häufig mit depressiven Symptomen einher. Es werden die folgenden Hauptgruppen unterschieden:
Trennungsangst
Exzessive Angst vor einer Trennung von Bezugspersonen oder der gewohnten Umgebung
Angst besteht auch noch in einem Alter, in dem solche Reaktionen nicht mehr als normal einzustufen sind.
Eine Störung mit Trennungsangst soll nur dann diagnostiziert werden, wenn die Furcht vor Trennung den Kern der Angst darstellt und wenn eine solche Angst erstmals während der frühen Kindheit auftrat.3
Das Kind fürchtet sich auf unrealistische Weise vor der Trennung, z. B. von einer wichtigen Bezugsperson, und versucht, eine solche Trennung zu vermeiden und den Kontakt sofort wiederherzustellen.
Weigerung, die gewohnte Umgebung zu verlassen (z. B. in den Kindergarten zu gehen).
Weigerung, alleine zu bleiben.
Anwesenheit von Bezugspersonen beim Einschlafen wird eingefordert.
Albträume
somatische Beschwerden
Vermeidung von Aktivität
Phobische Störungen
Dazu zählen im Kindes- und Jugendalter spezifische Phobien sowie bei älteren Kindern und Jugendlichen die Agoraphobie (z. B. Angst vor Menschenmassen und großen Plätzen).
Eine Gruppe von Angststörungen, bei denen Angst nur oder hauptsächlich in bestimmten Situationen oder durch bestimmte Objekte hervorgerufen wird, die in der Regel ungefährlich oder harmlos sind.
In der Folge werden diese Situationen vermieden oder sind mit großer Angst verbunden.
Für die Patienten können die einzelnen Symptome wie Herzklopfen oder das Gefühl, ohnmächtig zu werden, im Vordergrund stehen. Häufig bestehen auch sekundäre Ängste vor Kontrollverlust oder davor, wahnsinnig zu werden.
Allein der Gedanke, sich in eine Situation, die die Phobie auslöst, zu begeben, löst in der Regel Angst (sog. Erwartungsangst) aus.
Die Vermeidung der Situation lindert die Angst.
Phobische Störungen treten häufig zusammen mit einer Depression auf. Die zeitliche Abfolge bestimmt, ob nur eine Diagnose, „phobische Störung“, oder zwei Diagnosen, „phobische Störung und depressive Episode“, gestellt werden.3
Exzessive, nicht kontrollierbare Sorgen und Ängste, die die Aktivität der Betroffenen hemmen und ihre Funktionsfähigkeit in verschiedenen Situationen einschränken.
Sie wird häufig von somatischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen begleitet, und der betroffenen Person fällt es schwer, sich zu entspannen und einzuschlafen.
Typisch sind zudem:
Sorgen in Bezug auf anstehende Aufgaben/Ereignisse
Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten
leichte Ermüdbarkeit
Anspannung, Gereiztheit, Wutanfälle.
Bevor die Diagnose gestellt wird, sollten die Symptome über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten an mindestens der Hälfte der Tage vorgelegen haben.1
Das wesentliche Kennzeichen sind wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik), die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersehbar sind.
Wie bei anderen Angststörungen zählen zu den Kernsymptomen:
Häufig besteht sekundär auch die Furcht zu sterben, die Kontrolle zu verlieren oder wahnsinnig zu werden.
Bei einer depressiven Störung zum Zeitpunkt der Panikattacken soll die Panikstörung nicht als Hauptdiagnose verwendet werden, da diese wahrscheinlich eine sekundäre Folge der Depression ist.
Panikstörungen sind vor der Pubertät selten und treten nie vor dem 6. Lebensjahr auf.
Organische Angststörung (aufgrund einer Hirnfunktionsstörung, z. B. Hirntumor, neurologische Systemerkrankung, toxische Einwirkung, infolge einer endokrinen Störung)
Substanzbedingte Störung, z. B. durch Drogen, Medikamente
Depression: häufige Begleiterkrankung von Angststörungen
Zwangsstörung: häufige Begleiterkrankung von Angststörungen
Depersonalisationssyndrom (Patient erlebt seine geistige Aktivität, sein Körper oder die Umgebung als unwirklich, wie in weiter Ferne oder automatisiert)3
Tief greifende Entwicklungsstörungen, z. B.:
Autismus: Abgrenzung von der Störung mit sozialer Ängstlichkeit (s. o.) mitunter schwierig
Evtl. starke Abneigung gegen bestimmte Objekte oder Situationen
Insbesondere bei Jugendlichen
Besorgnis in Bezug auf das Aussehen des eigenen Körpers
Generalisierte Angst sowie Unsicherheit in Bezug auf die eigene Identität und die eigenen Fähigkeiten
Befürchtung, gewöhnliche soziale Situationen nicht bewältigen zu können.
Scham in Bezug auf die eigenen Symptome
Somatische Untersuchung
Ggf. ergänzende Untersuchungen zur Abklärung primärer somatischer Erkrankungen (s. o.)
Indikationen zur Überweisung
Bei Vorliegen starker Beschwerden, die das Kind (und die Familie) in der Schule oder in der Freizeit funktionell einschränken und bei denen eine Beratung nicht zu Veränderungen führt.
Bei Notwendigkeit einer störungsspezifischen Therapie
Bei großen familiären Problemen, infolge derer negative Wechselwirkungen entstehen.
Therapie
Leitlinie: Therapie von Angststörungen im Kleinkind- und Vorschulalter1
Eine Beratung und Psychoedukation soll bei Angststörungen durchgeführt werden.
Eltern-Kind-Therapien sollen als Mittel der ersten Wahl bei Kindern unter 3;0 Jahren mit Angststörungen durchgeführt werden.
Bei Kindern im Alter von 3;0–5;11 Jahren sollen auch verhaltenstherapeutische und psychodynamische Therapien angeboten werden.
Eine Psychopharmakotherapie der Angststörung soll nicht erfolgen.
Falls bei Eltern der Verdacht einer eigenen Angststörung besteht, sollen eine eigene Diagnostik und ggf. Therapie empfohlen werden.
Therapieziel
Die aktuellen Symptome lindern oder beseitigen.
Die Entwicklung einer dauerhaften Angststörung verhindern.
Eine normale kindliche Entwicklung in anderen Bereichen fördern, sodass das Kind positive Erfahrungen bei der Bewältigung von Problemen sammelt und die Ängste nicht chronifizieren.
Gewisse vorübergehende Formen der Angst/Furcht sind bei Kindern normal und erfordern in der Regel keine Behandlung.
Eltern und Erzieher sollten nicht versuchen, das Kind vor allen potenziell angstauslösenden Situationen zu bewahren, sondern es darin unterstützen, sich seinen Ängsten zu stellen, diese auszuhalten und schließlich zu überwinden.
„Nestwärme“ als Voraussetzung für emotionale Selbstregulation in angstbesetzten Situtationen7
Das Kind und seine Familie benötigen Hilfe, wenn die Symptome
zu starken und anhaltenden Beeinträchtigungen führen.7
die normale Entwicklung des Kindes behindern.
soziale Funktionen blockieren, z. B. in der Familie.
Zur Behandlung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter sind störungsspezifische multimodale psychotherapeutische Interventionen angezeigt.
Indizierte Therapien
Umfassende Aufklärung
Beratungsgespräche mit den Kindern/Jugendlichen und ihren Eltern
Bei Schulverweigerung: schnelle Wiederaufnahme des Schulbesuchs
Beratung für Personal im Kindergarten/in der Schule
Ggf. kognitions- oder verhaltensmodifizierende Maßnahmen
Bei Phobien: Training mit geplanter Exposition gegenüber dem Auslöser
Psychotherapie
Liegen eine familiäre Dysfunktion und Interaktionsprobleme vor, kann eine Familientherapie indiziert sein.
Bei psychischen Erkrankungen kann eine Einzeltherapie mit unterschiedlichem Umfang notwendig sein.
Bei Jugendlichen ist evtl. eine Gruppentherapie sinnvoll.
Einer Metaanalyse (Ia) zufolge kann körperliches Training bei Kindern und Jugendlichen Angst und Depressionen bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken; es liegen jedoch noch keine ausreichenden Forschungsergebnisse vor, um eindeutige Schlüsse ziehen zu können.8
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
Die KVT ist bei Kindern mit Angststörung die am besten untersuchte wirksame Therapieform.9
Die kognitive Verhaltenstherapie führt bei etwa 2/3 der Kinder und Jugendlichen mit Angstsymptomen zu einer Besserung.10
Die Wirkung scheint sich durch die gleichzeitige Anwendung von Antidepressiva noch zu verstärken.10
Verglichen mit der Option „keine Behandlung“ hat sich die KVT in mehreren Therapiestudien sowohl kurzfristig als auch langfristig als wirksamer erwiesen.
Metaanalysen deuten darauf hin, dass sich durch verschiedene Formen der Einbeziehung der Eltern in die KVT eine bessere Wirkung erzielen lässt.11
Es liegen nur wenige Studien vor, in denen die Ergebnisse des KVT-Ansatzes mit z. B. der Familientherapie oder der Individualtherapie verglichen wurden. Beide dieser Therapieformen können auch Elemente der KVT beinhalten.
Ansatz der KVT
Dem Kind Strategien zur Bewältigung seiner Angst aufzeigen.
Psychoedukation
Angst und andere Gefühle erkennen.
Gedankliche Muster, die in Verbindung zur Angst stehen, erkennen und verändern.
Entspannungstechniken zur aktiven Angstlinderung
Training dieser Fähigkeiten in Angst auslösenden Situationen (Exposition)
Medikamentöse Therapie
Medikamente spielen bei der Therapie von Kindern mit Angststörungen eine Rolle, sollten grundsätzlich jedoch nicht erste Wahl sein.
Angststörungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter sollten nicht medikamentös behandelt werden.1
Mögliche Indikationen
Schwere Formen der Angst, die zu einem so hohen Grad der funktionellen Einschränkung führen, dass die Teilnahme an einer Psychotherapie nicht möglich ist, oder wenn die Psychotherapie nicht zum Erfolg geführt hat.
Sie sollte von einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie durchgeführt werden.
Sie sollte stets in Kombination mit anderen Maßnahmen durchgeführt werden.
Die Wirksamkeit ist bei Kindern und Jugendlichen nur unzureichend belegt. Die Anwendung kann in der Regel nur als Off-Label-Use oder im Rahmen von Studien erfolgen.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter. AWMF-Leitlinie Nr. 028-041, Leitlinien-Klasse S2k, Stand 2015. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Angststörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 028-022, Leitlinien-Klasse S1, Stand 2006 (abgelaufen). www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter. AWMF-Leitlinie Nr. 028-041, Leitlinien-Klasse S2k, Stand 2015. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Angststörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 028-022, Leitlinien-Klasse S1, Stand 2006 (abgelaufen). www.awmf.org
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2018. Stand 22.09.2017; letzter Zugriff 19.04.2018. www.dimdi.de
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Autoren
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Marit S. Indredavik, spesialist i barnepsykiatri, overlege, Barne- og ungdomspsykiatrisk klinikk, St.Olavs hospital, Universitetssykehuset i Trondheim, Helse Midt-Norge
Tord Ivarsson, docent och överläkare, OCD-/Ångestmottagningen, Drottning Silvias barn- och ungdomssjukhus, Göteborg (Medibas)
P01; P74; P82
Trennungsangst; Phobische Störung des Kindesalters; Störung mit sozialer Ängstlichkeit
Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen
chck go 13.6.
BBB MK 26.04.2018 komplett überarbeitet (LL abgelaufen)
Definition:Zu den Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen zählen u. a. Trennungsangst, Störung mit sozialer Ängstlichkeit, phobische Störung des Kindesalters und generalisierte Angststörung.