Definition:Maligne Erkrankung des hämatopoetischen Systems, ausgehend von Lymphoblasten, mit einem Anteil von über 25 % im Knochenmark.
Häufigkeit:Bei Kindern macht die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) 85 % aller Leukämien aus und etwa 1/3 aller Malignomfälle. Die höchste Inzidenz tritt zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr auf. Danach nimmt die Häufigkeit ab, steigt aber nach dem 50. Lebensjahr wieder an.
Symptome:Erstes Auftreten in der Regel subakut mit Anämie, Granulozytopenie und Thrombozytopenie, Abgeschlagenheit und Müdigkeit, Infektions- und Blutungsneigung.
Diagnostik:Das Differenzialblutbild zeigt gleichartige Lymphoblasten im peripheren Blut sowie Zytopenie der anderen Zelllinien. Die Diagnosesicherung erfolgt in der Knochenmarksbiopsie.
Therapie:85 % der Kinder und 50 % der Erwachsenen können mithilfe einer adäquaten Chemotherapie geheilt werden; auch eine Strahlenbehandlung kann indiziert sein. Im Rezidivfall ist zur kurativen Behandlung in der Regel eine Hochdosisbehandlung mit allogener Stammzelltransplantation notwendig.
Allgemeine Informationen
Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-3
Definition
Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL), auch akute lymphatische Leukämie, ist eine maligne Erkrankung des hämatopoetischen Systems, die von schnell wachsenden unreifen lymphatischen Zellen (Lymphoblasten) ausgeht.
Abgrenzung vom lymphoblastischen Lymphom
akute lymphoblastische Leukämie (ALL): > 25 % Lymphoblasten im Knochenmark
lymphoblastisches Lymphom, auch Prolymphozyten-Leukämie: < 25 % Lymphoblasten im Knochenmark und fehlende leukämische Ausschwemmung
Die reifzellige B-ALL wird der Gruppe der Burkitt-Leukämien/-Lymphome zugeordnet. Diese sind oft schnell progredient und brauchen eine besondere Behandlung.
Bei Kindern unter 5 Jahren: 5,3/100.000, Häufigkeitsgipfel zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr
Bei Kindern unter 15 Jahren: 3,3/100.000
Im Erwachsenenalter
Mit zunehmendem Alter weiterer Rückgang, ab 50 wieder Zunahme der Häufigkeit
Bei über 80-Jährigen: 2,3/100.000
Geschlechterverteilung
Männliches Geschlecht etwas häufiger betroffen (1,4:1,0)
Ätiologie und Pathogenese
Pathogenese
Genetische Veränderungen tragen zur leukämischen Transformation von hämatopoetischen Stammzellen bei, mit der Folge einer Zellfunktionsänderung.
Die malignen Zellen verlieren die Fähigkeit zur Reifung und Differenzierung.
Die unkontrollierte Proliferation führt dazu, dass die normalen Zellen im Knochenmark verdrängt werden und sich eine Zytopenie in einer oder mehreren Zelllinien entwickelt.
Prädisponierende Faktoren
Chromosomenschäden, entweder kongenital (z. B. Trisomie 21) oder erworben (z. B. myelotoxische Chemikalien, Radioaktivität), erhöhen das Risiko für Leukämien.
Einige wenige Betroffene haben früher Zytostatika oder Strahlenbehandlung bekommen.
Bei Verdacht auf ALL unverzügliche diagnostische Abklärung und Therapie an einem hämatoonkologischen Zentrum
Ein schneller Behandlungsstart innerhalb von 1–2 Tagen kann von entscheidender Bedeutung für die Prognose sein, insbesondere bei hoher Malignomlast.
Therapie
Therapieziele
Ggf. vor Therapiebeginn
Erhalt der Reproduktionsfähigkeit durch Kryokonservierung von Keimzellen
Induktionstherapie
komplette Remission durch Eradikation der Leukämiezellen mit Normalisierung von Blutbild und Knochenmark
Rückgang der klinischen Symptome
Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie
Remission erhalten.
ZNS-Befall verhindern.
Palliation
Symptome lindern.
Lebensqualität verbessern.
Allgemeines zur Therapie
Individuelle Behandlung nach:
Phänotyp
Genotyp
Progressionsrisiko
Lebensalter
Induktionsphase mit Hochdosis-Zytostatika
Anschließend zytostatische Konsolidierungsbehandlung zum Erhalt der Remission (Postremissionstherapie)
Evtl. Strahlentherapie
Evtl. allogene Stammzelltransplantation
Bei Rezidiv ggf. neuere immuntherapeutische Ansätze
Risikobewertung
Die Bewertung des individuellen Risikos der erkrankten Person ist von entscheidender Bedeutung für die Wahl der Therapie.
Zum Diagnosezeitpunkt werden Erwachsene in zwei Risikogruppen (Rückfallrisiko) eingeteilt:
Standardrisikogruppe
Hochrisikogruppe.
Kinder werden meistens in die Gruppen Standardrisiko, hohes Risiko und sehr hohes Risiko eingeteilt.
Grundlagen der Risikobewertung sind u. a.:
Alter
klinische Behandlung
Befunde, z. B. Knochenmarkuntersuchungen.
Hochspezialisierte Behandlung
Die intensive zytostatische Behandlung einer akuten Leukämie ist sehr belastend, hat erhebliche Nebenwirkungen und kann schwere Komplikationen mit sich bringen. Die Behandlung ist von erfahrenen Hämatolog*innen in einer Spezialabteilung einzusetzen und zu leiten.
Wenn bei einem jüngeren Erwachsenen das Rezidiv einer akuten Leukämie eintritt, ist eine Hochdosis-Chemotherapie in Kombination mit einer allogenen hämatopoetischen Stammzelltransplantation in der Regel die einzige Behandlung mit kurativer Perspektive.
Bei bestimmten Untergruppen der ALL und eindeutig erhöhtem Rezidivrisiko kann die Stammzelltransplantation auch in der ersten Remission indiziert sein.
vor der Induktionstherapie: Vorphase-Therapie mit Dexamethason/Cyclophosphamid
ggf. Allopurinol oder Rasburicase
Medikamentöse Therapie
85 % der Kinder und 50 % der Erwachsenen können mithilfe einer adäquaten Chemotherapie geheilt werden.
Die zytostatische Induktionsbehandlung ist weniger myelosuppressiv als bei myeloischer Leukämie und führt nicht immer zu Knochenmarkaplasie.
Während der Induktionsbehandlung: ZNS-Prophylaxe durchführen.
Methotrexat intrathekal
ggf. Kombination mit Cytarabin und einem Kortikosteroid
ggf. Schädelbestrahlung
Rezidivierende und Refraktäre Erkrankung
Ggf. weitere Induktionstherapie
Immuntherapie
Mit dem Anti-CD20-Antikörper Rituximab konnten die Behandlungsergebnisse beim Burkitt-Lymphom/-Leukämie und der B-Zell-Vorläufer ALL deutlich verbessert werden.7
Der Anti-CD19-Antikörper Blinatumomab und das CD22-Antikörper-Wirkstoff-Konjugat Inotuzumab konnten bei Frührezidiven und refraktären Rezidiven der B-Vorläufer-ALL bessere Ergebnisse erzielt werden als mit der Standardchemotherapie.8-9
Chimeric-Antigen-Receptor-T-Zellen (CAR-T): Herstellung ex vivo aus T-Zellen der an ALL erkrankten Person. Die Zellen werden mit einem einem Antigen-Rezeptor gegen Oberflächenmarker von Leukämiezellen sowie verschiedenen Signaltransduktions-Elementen versehen. Mit Tisagenlecleucel wurde 2018 das erste CAR-T-Therapeutikum zugelassen.10
Oft stürmischer, zuweilen aber auch schleppender Verlauf
Die meisten Betroffenen erreichen eine primäre Remission.
Bei Rezidiven ist eine Heilung nur durch eine Knochenmarktransplantation zu erreichen.
Komplikationen
Lebensbedrohliche Infektionen oder Blutungen
Psychosoziale Nachwirkungen
Der Erkrankungs- und Behandlungsprozess kann Schmerzen und Unwohlsein mit sich bringen, außerdem psychische Belastungen, die wiederum Angst, Depressivität, Trauer und Wut erzeugen können.
Körperliche Veränderungen wie Gewichtsverlust oder -zunahme, Mondgesicht und Haarausfall führen zuweilen zu einem herabgesetzten Selbstwertgefühl und zu sozialer Isolation.
Besondere Risikofaktoren mit negativen Spätfolgen (z. B. Lernschwierigkeiten in der Schule) sind eine Strahlenbehandlung und eine Behandlungszeit länger als 3 Jahre.
Eine intrathekale Chemotherapie kann u. U. leichte kognitive Defizite nach sich ziehen.
Prognose
Primäre Remission
bei 90 % aller Erwachsenen und 95 % aller Kinder
Postremissionstherapie
Ist kurativ bei 30–50 % aller Erwachsenen und bei 60–80 % aller Kinder.
Sekundäre Malignome
Die Personen, die in ihrer Kindheit eine akute lymphatische Leukämie überlebten, haben – verglichen mit der Gesamtbevölkerung – ein etwa 14-mal so hohes Risiko für die Entwicklung einer sekundären Malignomerkrankung.
Prognostische Faktoren
Sensitivität gegenüber Chemotherapie
Variiert mit den genetischen Subtypen der ALL.
Alter
prognostisch hoch relevant
Die Philadelphia-Chromosom-positive-ALL zeigt z. B. eine günstige Prognose bei Kindern von 1–9 Jahren, eine schlechtere Prognose bei Jugendlichen und eine sehr schlechte Prognose bei Erwachsenen.
Über 60-Jährige haben meist eine schlechte Prognose; bei ihnen treten mehr behandlungsbedingte Komplikationen und Todesfälle auf.
Verlaufskontrolle
Zu Beginn der ersten 3 Erhaltungszyklen (im 1. Jahr ungefähr alle 3 Monate) wird eine konventionelle Remissionsbewertung anhand des Blutausstrichs und Knochenmarkaspirats durchgeführt.
Monatliche Kontrollen im 1. Jahr mit routinemäßigen hämatologischen Blutproben
In den 2 nachfolgenden Jahren eine Kontrolle alle 3 Monate
Remissionskriterien
Komplette Remission bei:
Hb > 10 g/dl (> 6,2 mmol/l), Granulozyten > 1,5 x 109/l und Thrombozyten > 100 x 109/l
keine Blasten im peripheren Blut, im Liquor oder in früher betroffenen extramedullären Lokalisationen
im Knochenmark: normale trilineare Hämatopoese und Blasten < 5 %.
Rezidivkriterien
> 5 % Blasten im Knochenmark
Evtl. Blasten im Liquor oder in anderen extramedullären Lokalisationen
Nach Abschluss der Krankenhausbehandlung
Nach allogener Stammzelltransplantation
Rezidiverkennung
Erkennung einer chronischen Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion (Graft-versus-Host-Disease)
Diagnostik von Spätschäden
Impfungen sind indiziert nach individueller Absprache mit der behandelnden Abteilung.
Nach einer allogenen Stammzelltransplantation und hochdosierter Behandlung mit autologem Stammzellsupport (HMAS) kann eine vollständige Revakzination indiziert sein.
Pneumokokken-Impfung nach 1 Jahr, danach alle 5 Jahre Antikörpertiter-Kontrolle und ggf. Auffrischung
Vermeiden Sie Lebendvakzine und perorale Vakzine in den ersten 2 Jahren nach HMAS.
Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH). Akute lymphoblastische Leukämie – ALL – im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr. 025-014. S1, Stand 2021. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen. Akute Lymphatische Leukämie (ALL). Stand 2020. www.onkopedia.com
Literatur
Cortelazzo S, Ponzoni M, Ferreri AJM, Hoelzer D. Lymphoblastic lymphoma. Crit Rev Oncol Hematol 2011; 79: 330-43. PubMed
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen – Leitlinie Akute Lymphatische Leukämie (ALL), Stand 2020. www.onkopedia.com
Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH). Akute lymphoblastische Leukämie – ALL - im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr. 025-014. S1, Stand 2021. www.awmf.org
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Kaatsch P, Spix C, German Childhood Cancer Registry - Annual Report 2015 (1980-2014). Institute of Medical Biostatistics, Epidemiology and Informatics (IMBEI) at the University Medical Center of the Johannes Gutenberg University Mainz, 2015. www.kinderkrebsregister.de
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 09.12.2021. www.dimdi.de
Maury S, Chevret 1, Thomas X et al. Rituximab in B-Lineage Adult Acute Lymphoblastic Leukemia. N Engl J Med 2016 Sep 15; 375(11): 1044-53. pmid:27626518 PubMed
Kantarjian HM, DeAngelo DJ, Stelljes M, et al. Inotuzumab Ozogamicin versus Standard Therapy for Acute Lymphoblastic Leukemia. N Engl J Med 2016; 375: 740-53. PMID: 27292104 PubMed
Kantarjian HM, Stein AS, Bargou RC, et al. Blinatumomab treatment of older adults with relapsed/refractory B-precursor acute lymphoblastic leukemia: Results from 2 phase 2 studies. Cancer 2016; 122:2178-85. PMID: 27143254 PubMed
European Medicines Agency. Kymriah. Human medicine European public assessment report (EPAR). last updated 29.10.2021 www.ema.europa.eu
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Maligne Erkrankung des hämatopoetischen Systems, ausgehend von Lymphoblasten, mit einem Anteil von über 25 % im Knochenmark. Häufigkeit:Bei Kindern macht die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) 85 % aller Leukämien aus und etwa 1/3 aller Malignomfälle. Die höchste Inzidenz tritt zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr auf. Danach nimmt die Häufigkeit ab, steigt aber nach dem 50. Lebensjahr wieder an.