Allgemeine Informationen
Definition
- Leukämien sind maligne Erkrankungen des blutbildenden Systems
- unkontrollierte Vermehrung von funktionsuntüchtigen Leukozyten oder deren Vorstufen im Knochenmark
- Verdrängung der normalen Blutbildung im Knochenmark und Ausschwemmung von Leukämiezellen in die Blutbahn
- Infiltration von Organen und Geweben möglich
- Im Kindesalter treten fast ausschließlich akute Verlaufsformen auf. Der Anteil an allen malignen Erkrankungen < 18 Jahre beträgt:1
- 22 % für akute lymphatische Leukämien (ALL)
- 4 % für akute myeloische Leukämien (AML)
- 2,5 % für myelodysplastische Syndrome (MDS)
- 0,6 % für chronisch myeloproliferative Erkrankungen.
Häufigkeit
- Leukämien machen etwa 30 % der Krebserkrankungen im Kindesalter aus.1
- Jährliche Inzidenz bei Kindern < 18 Jahren im Zeitraum 2009–2018 in Deutschland1
- ALL: 3,9/100.000
- AML: 0,7/100.000
- Am häufigsten tritt die ALL bei Kindern zwischen 1–4 Jahren auf. Jungen sind im Vergleich zu Mädchen im Verhältnis 1,3:1 häufiger betroffen.1
Ätiologie und Pathogenese
Disponierende Faktoren
- Genetische Faktoren
- spontane somatische Mutationen oder vorbestehende Keimbahnmutationen
- Down-Syndrom: 14- bis 20-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer akuten Leukämie2
- genetische Syndrome (z. B. Fanconie-Anämie, Neurofibromatose Typ I, Bloom-Syndrom, Immundefekte)
- Umweltfaktoren
- frühere Radio- oder Chemotherapie
- chemische Noxen
ICPC-2
ICD-10
- C91 Lymphatische Leukämie
- C91.0 Akute lymphatische Leukämie [ALL]
- C92 Myeloische Leukämie
- C92.0 Akute myeloblastische Leukämie [AML]
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinisches Bild, Blut- und Knochenmarkausstrich sind diagnoseweisend. Zur Stadieneinteilung und Therapiefestlegung sind weiterführende diagnostische Maßnahmen notwendig.
Differenzialdiagnosen
Anamnese
- Häufig kurze Anamnese mit unspezifischen Allgemeinsymptomen, selten auch längerer Verlauf
- Typische Symptome
- Müdigkeit
- Abgeschlagenheit, Krankheitsgefühl
- Knochen- und Gelenkschmerzen, bei Kleinkindern Gehverweigerung
- Symptome aufgrund der Verdrängung der normalen Blutbildung im Knochenmark
- Blässe
- Infektneigung
- Blutungsneigung
- Symptome bei Organinfiltration
- Bauchschmerzen und aufgeblähter Bauch bei Infiltration von Leber und Milz
- Schmerzen und Schwellungen in Knochen und Gelenken3
- Dyspnoe bei Infiltration von Lunge, Perikard oder Pleura
- Kopfschmerzen, Nackensteife, Erbrechen und neurologische Ausfallerscheinungen bei ZNS-Befall
Klinische Untersuchung
- Blässe bei Anämie
- Petechien oder Hämatome bei Thrombozytopenie
- Fieber und lokale Infektionsbefunde, primär in Rachen und Atemwegen aufgrund funktionsuntüchtiger Leukozyten und Leukopenie
- Lymphadenopathie bei etwa der Hälfte aller Patient*innen, häufig asymmetrisch
- Hepatosplenomegalie
- Geschwollene Gelenke
- Schmerzlose, harte Hodenschwellung (meist einseitig)
- Hautinfiltrate
- Gingivahyperplasie und Hautinfiltrate bei bestimmten AML-Subtypen
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Laboruntersuchungen
- Sonografie
- häufig Hepatosplenomegalie, vergrößerte Lymphknoten, seltener Mediastinaltumor, Pleura- oder Perikarderguss
Diagnostik bei Spezialist*innen – im Krankenhaus
Spezielle Leukämiediagnostik5-6
- Zytologie
- Blut- und Knochenmarkausstrich mit Nachweis von Blasten
- Anteil der Blasten im Knochenmark ≥ 25 %
- Histologie
- Zytochemie
- bei schnell verfügbarer Immunphänotypisierung nur noch von geringer Bedeutung
- sichere Unterscheidung zwischen AML und ALL
- Immunphänotypisierung
- Unterscheidung von AML und ALL, Identifizierung des Subtyps durch Antigennachweis auf oder in den Leukämiezellen
- Zytogenetik und spezifische Molekulargenetik
- Identifizierung pathologischer Veränderungen/Mutationen auf chromosomaler und molekularer Ebene
- notwendig und zunehmend wichtiger für Risikostratifizierung und Therapieplanung2
- Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit
- Beurteilung einer möglichen Streuung der Leukämiezellen ins ZNS
- Zellzahl, Bestimmung des Eiweißgehalts
- morphologische Untersuchung evtl. vorhandener leukämischer Blasten
- zytogenetische Untersuchung
Labordiagnostik5-6
- Blutbild
- Klinische Chemie
- Ferritin (meist erhöht)
- CRP, Blutsenkung
- Na, K, Ca, P, Mg, AP, Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, GOT, GPT, Gamma-GT, LDH, CHE, Bilirubin, Blutzucker, Gesamteiweiß, Immunglobuline
- Gerinnung
- Serologie
- Sonstiges
- Blutgruppe: AK-Suchtest
- Tuberkulin-Hauttest anlegen.
Apparative Diagnostik5-6
- Röntgenthorax in zwei Ebenen
- Ultraschall Abdomen, Mediastinum, Lymphknotenstationen, Hoden
- Ggf. kranielles MRT (oder CCT, wenn MRT nicht verfügbar), MRT Thorax, Abdomen, bzw. des knöchernen Skelettes
- EKG/Herzecho
- EEG
- Ggf. Tonaudiogramm
Indikationen zur Überweisung
- Sofortige Einweisung bei Verdacht auf Leukämie
- Achtung: lebensbedrohliche Notfälle!4
Therapie
Therapieziele
- Erreichung einer schnellen und anhaltenden Remission
- Risikoadaptierte Therapie mit dem Ziel einer Vermeidung bzw. Minimierung von therapiebedingten Langzeitschäden
Allgemeines zur Therapie
- Therapie in spezialisierten Zentren im Rahmen aktueller national/international anerkannter Therapieprotokolle
- Leukämie bei Kindern ist eine maligne Erkrankung mit guter Prognose. Die Behandlung ist intensiv und langwierig; vielfach ist aber eine dauerhafte Heilung möglich.
- Zur optimalen Behandlung ist eine genaue Klassifizierung/Risikostratifizierung der Leukämie notwendig.
Empfehlungen für Patient*innen
- Unbedingte Vermeidung von Infektionsrisiken während der Intensivtherapie
- keine Krippe, Kita, Schule, größere Familienfeiern, Menschenansammlungen, öffentliche Verkehrsmittel
- kein Besuch von/bei Infektiösen
- Vermeidung von Baustellen (Achtung auch bei Renovierung im eigenen Haus) und feuchten Wohnungen, keine Topfpflanzen im Schlafzimmer, keine Gartenarbeit, kein enger Tierkontakt, kein Zoobesuch, keine Feldspaziergänge
- Lebensmittelhygiene
- Vermeidung von Aktivitäten mit Verletzungs-/Blutungsrisiko
- Pflege des zentralvenösen Zugangs (Port oder ZVK) gemäß Anweisung
- Sofortige Kontaktaufnahme mit Klinik bei Fieber
- Sofortige Kontaktaufnahme mit Klinik nach Kontakt mit Varizellen, Herpes oder anderen Infektionskrankheiten
Medikamentöse Therapie
- Polychemotherapie anhand etablierter Therapieprotokolle
- Induktion
- Konsolidierung
- Reintensivierung.
- In den meisten Fällen schließt sich eine Erhaltungstherapie an, wobei Dauer und Notwendigkeit nicht abschließend geklärt sind.5
- Schädelbestrahlung nur bei initialem ZNS-Befall5
- Prophylaktische intrathekale Therapie bei Kindern ohne ZNS-Befall
- Allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation nur bei ungünstiger Zytogenetik oder schlechtem Therapieansprechen7
- Weitere Informationen zu Therapieprotokollen (AML und ALL):
- Polychemotherapie anhand etablierter Therapieprotokolle
- Induktionstherapie und Induktionskonsolidierung
- Extrakompartmenttherapie
- Reinduktionstherapie
- Erhaltungstherapie.
- Allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation nur in sehr seltenen Fällen (sehr ungünstige Zytogenetik, Nichtansprechen auf Induktionstherapie)
- ZNS-Bestrahlung bei manifestem initialem Befall nach jeweiligem Studienprotokoll
- Intrathekale Therapie bei allen Patient*innen zur Vorbeugung eines ZNS-Rezidivs
- Immuntherapie mit Antikörpern in Studien8
- Therapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren bei bestimmten Unterformen (BCR-ABL1 positiv)9-10
Supportive Therapie
- Erythroyzten- und Thrombozytensubstitution
- Infektionsprophylaxe
- Adäquate und schnelle Infektions-/Sepsistherapie
- Antiemese
- Schmerztherapie
- Aufrechterhaltung eines guten Ernährungszustands
Fertilitätserhaltende Maßnahmen
- Individuell abgestimmte, ausführliche Aufklärung von Patient*innen und Eltern
- vor Therapiebeginn
- während der Nachsorge
- Siehe auch AWMF-S1-Leitlinie zur Beeinträchtigung der Gonadenfunktion nach Chemo- und Strahlentherapie im Kindes- und Jugendalter.11
Psychosoziale Unterstützung
- Professionelle Unterstützung der gesamten Familie12
- Extremsituation für betroffene Kinder, Eltern und Geschwister
- ausgeprägte seelische, körperliche und soziale Belastungen durch Erkrankung, Therapie und therapiebedingte Isolation
- Hilfe bei der Krankheitsbewältigung und Förderung der Therapie-Compliance12
- Vorbeugung und Behandlung von krankheits-/therapiebedingten Verhaltensauffälligkeiten12
- Sozialrechtliche Unterstützung12
Therapie im Rezidiv
- Empfehlung einer allogenen Stammzelltransplantation
- Zunehmender Einsatz zielgerichteter Substanzen z.B. Antikörper wie Gemtuzumab-Ozogamicin13-14 oder Tyrosinkinaseinhibitoren
ALL
- Erneute Risikostratifizierung15
- Hochrisiko: Empfehlung einer allogenen Stammzelltransplantation
- Niedrigrisiko: erneute medikamentöse Therapie
- Antikörpertherapie im Rahmen von Studien16
Palliativtherapie
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die Krankheit tritt akut nach einer kurzen Anamnese auf. Besonders im Frühstadium können die Symptome unspezifisch und vielfältig sein.
- An die intensive mehrmonatige Akuttherapie schließen sich eine zweijährige Erhaltungstherapie und eine langfristige Nachsorge an.
Komplikationen
Akute Komplikationen
- Disseminierte intravasale Gerinnung
- Tumorlyse-Syndrom mit Hyperkaliämie und Hyperurikämie infolge des Zellzerfalls
- Insbesondere zu Beginn der Chemotherapie bei hoher Anzahl von Leukämiezellen; kann Nierenschäden und Herzrhythmusstörungen verursachen.
- Hyperleukozytose, Leukostase mit Thromben
- Atemwegsverlegung bei Mediastinalverbreiterung durch Lymphom/T-ALL
- Steroiddiabetes
- Folgen der Panzytopenie
Langzeitkomplikationen
- Auftreten sekundärer Malignome, insbesondere nach ZNS-Bestrahlung
- Langzeitschäden durch die Erkrankung oder ihre Therapie in allen Organsysteme möglich
- Einschränkung der Herzfunktion nach Anthrazyklintherapie
- Hörstörungen nach Therapie mit Platinderivaten
- Akute oder chronische Nierenfunktionsstörungen
- Osteopenie, Osteoporose und Knochennekrosen nach Kortison-Therapie
- Schädigung von Lunge und Gastrointestinaltrakt
- Neuropsychologische Störungen und Entwicklungsverzögerung insbesondere nach ZNS-Bestrahlung
- Funktionsstörungen des endokrinen Systems
- Wachstumsstörungen, Fertilitätsstörungen, Entwicklungsstörungen
- Psychosoziale Beeinträchtigungen
Prognose
- 5-Jahres-Überlebensrate für Kinder < 18 Jahre zum Zeitpunkt der Diagnose für den Zeitraum 2007–2016:1
- Innerhalb von 30 Jahren nach Diagnosestellung (Zeitraum 1981–2016) kommt es zu einem Zweitmalignom in:1
- 6,7 % nach ALL
- 5,8 % nach AML.
Verlaufskontrolle
- Eine an die Erkrankung und Therapie angepasste Nachsorge ist notwendig, um ein Rezidiv oder Spätfolgen zu erkennen und zu therapieren.
- Die onkologische Nachsorge wird von der behandelnden Klinik in einer Spezialsprechstunde koordiniert und findet in enger Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Haus-/Kinderärzt*innen statt.
- Neben den medizinischen Kontrolluntersuchungen erfolgt im Rahmen der Nachsorge eine Beratung zu Impfungen, Risikofaktoren und Familienplanung
- Ein besonderes Augenmerk während der Nachsorge sollte auf:
- dem frühzeitigen Erkennen eines möglichen Rezidivs liegen.
- Knochenmarksrezidiv (Anämie, Infektionsneigung, Blutungen)
- ZNS-Rezidiv
- Hodenrezidiv (schmerzlose, harte Hodenschwellung)
- dem frühzeitigen Erkennen organspezifischer Spätfolgen liegen (siehe auch Abschnitt Langzeitkomplikationen).
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Weitere Informationen
Patientenorganisationen
Illustrationen
Knochenmarkausstrich mit vielen lymphatischen Blasten (1), Erythrozyten (2) und einigen Zelltrümmern (3)
Peripherer Blutausstrich mit myeloischen Blasten (1 und 2), typisch mit großem unreifen Kern mit aufgelockerter Chromatinstruktur und sichtbaren Nukleoli
Lymphatische Blasten im Knochenmark (1), dazwischen einige morphologisch unauffällige Lymphozyten (2)
Quellen
Leitlinien
- Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Akute myeloische Leukämie – AML – im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr.025-031. S1, Stand 2019. www.awmf.org
- Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Akute lymphoblastische Leukämie – ALL – im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr.025-014. S1, Stand 2021. www.awmf.org
- Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Psychosoziale Versorgung in der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie. AWMF-Leitlinie Nr. 025-002. S3, Stand 2019. www.awmf.org
- Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Beeinträchtigung der Gonadenfunktion nach Chemo- und Strahlentherapie im Kindes- und Jugendalter: Risiken, Diagnostik, Prophylaxe- und Behandlungsmöglichkeiten. AWMF-Leitlinie Nr. 025-034. S1, Stand 2020. www.awmf.org
Literatur
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- Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, et al. . Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer Medizin Verlag Heidelberg, 2006.
- Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Akute myeloische Leukämie – AML – im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr.025-031, S1, Stand 2019. www.awmf.org
- Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Akute lymphoblastische Leukämie – ALL - im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr.025-014, S1, Stand 2021. www.awmf.org
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Autor*innen
- Kristin Haavisto, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Hämato-/Onkologie, Münster
- Anne Strauß, Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
barneleukemi; Akutt lymfatisk leukemi; Leukemi hos barn; blodkreft hos barn; Barnleukemi
Leukämien im Kindesalter; Leukozyten; Knochenmark; Blasten; akute lymphatische Leukämien; ALL; akute myeloische Leukämien; AML; chronisch myeloische Leukämien; CML; Krebserkrankung im Kindesalter
Definition:Leukämien sind maligne Erkrankungen des blutbildenden Systems mit unkontrollierter Vermehrung von reifen oder unreifen Leukozyten im Knochenmark. Die Ursachen sind unbekannt, es besteht eine Assoziation mit genetischen Veränderungen.