Definition:Entwicklungsanomalie, bei der die Hoden nicht in das Skrotum hinabwandern (Maldescensus testis, Hodenhochstand). Wenn die Hoden sich nicht im Skrotum befinden, kann dies einer Ektopie, einem Kryptorchismus oder einem Senkhoden geschuldet sein.
Häufigkeit:Eine Hodenretention tritt bei 0,7–3 % der reif geborenen Jungen auf und bei bis zu 30 % der frühgeborenen Jungen.
Symptome:Ein oder beide Hoden befinden sich nicht im Skrotum, ansonsten meist keine Symptome.
Befunde:Die meisten retinierten Hoden – mit Ausnahme des Kryptorchismus – sind palpabel und befinden sich im inguinalen und präskrotalen Bereich. Ektopische Hoden sind oft im Perineum oder proximal an der Innenseite des Oberschenkels zu finden.
Diagnostik:Klinische Untersuchung, Sonografie des Leistenkanals, MRT des Abdomens und Laparoskopie können zur Diagnostik eingesetzt werden. Laparoskopie primäre Untersuchungsmethode bei über 1-jährigen Jungen mit nicht palpablen Hoden.
Therapie:Chirurgische Therapie vor Ablauf des 1. Lebensjahres. Eine Hormontherapie ist nur selten erfolgreich.
Werden durch hyperaktiven Musculus cremaster verursacht und sind von der echten Hodenretention zu unterscheiden, da sie oft keiner Behandlung bedürfen.
Häufigkeit
Studien deuten auf eine steigende Häufigkeit hin.1,5-6,8-9
Prävalenz bei Geburt
Bei 2–4 % der Betroffenen ist (sind) der (die) Hoden im Skrotum nach der Geburt nicht palpabel.
Prävalenz bei Einjährigen
Bei 0,5–1,5 % besteht die Hodenretention noch nach dem 1. Geburtstag.
Ein nicht palpabler Hoden kann sich im Abdomen, im Leistenkanal oder in ektopischer Lage befinden oder nicht vorhanden sein.
Eine physiologische Spermatogenese findet nicht statt.
Kryptorchismus
Der Hoden kann sich auf der ganzen Strecke vom Anfangspunkt in Nähe des unteren Nierenpols bis direkt vor der äußeren Leistenöffnung befinden.
Ein spontaner Hodenabstieg nach dem 1. Lebensjahr ist ungewöhnlich. Normalerweise behindern Blutgefäße den Abstieg.
Bei manchen Kindern tritt der Aufstieg der Hoden aus dem Hodensack zu einem späteren Zeitpunkt ein („sekundärer Kryptorchismus“). Die Ursache hierfür ist nicht bekannt.
Ektopie
Ektopische Hoden steigen physiologisch durch den Leistenring hinab, geraten dann aber in die falsche Bahn.
Sie sind meistens in der oberflächlichen Inguinaltasche (häufigster Fall), im suprapubischen Bereich, im Femoralkanal, Perineum oder im entgegengesetzten Hemiskrotum (seltenster Fall) zu finden.
Ist für weniger als 1 % der Fälle von Hodenretention verantwortlich.
Anorchie
fehlende Hoden
Kann einer Agenesie oder mangelnder Blutversorgung in der Gebärmutter (z. B. infolge Torsion) geschuldet sein.
Retraktile Hoden
Retraktile Hoden sind eine Pseudoretention, die durch einen hyperaktiven Musculus cremaster verursacht wird.
Die Hoden sind abgestiegen, werden jedoch wieder in eine supraskrotale Position hinaufgezogen.
Die Kontraktionsstärke des M. cremaster variiert beträchtlich zwischen Individuen, mit dem Alter und mit den Bedingungen bei der klinischen Untersuchung.
Der Hoden kann durch „Melken“ aus der Leistenlage in das Skrotum heruntergeführt werden.
Wenn der Hoden losgelassen wird, verbleibt er entweder kurzzeitig im Skrotum, oder er bewegt sich zur Leiste zurück. Bei Ermüdung des Reflexes des Musculus cremaster kommen die Hoden zur Ruhe.
Der Zustand erfordert Nachsorge, aber keine sofortige Behandlung.
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,5-6,9,13-14
Diagnostische Kriterien
Kryptorchismus kann durch die klinische Untersuchung diagnostiziert werden.
Die diagnostische Herausforderung besteht darin, rektraktile Hoden, die nicht behandelt werden müssen, zu identifizieren.
Anamnese
Eltern können Hoden nicht sehen/ertasten.
Klären, ob die Eltern die Hoden je im Skrotum gesehen haben.
Hoden können bei der Kontrolle bei Pädiater*in nicht nachgewiesen werden.
Klinische Untersuchung
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,5,13
Skrotale Asymmetrie kann ein Zeichen für Kryptorchismus sein.
Ein palpabler retinierter Hoden ist meistens kleiner als der gegenüberliegende, gesunde Hoden.
Krypotorchismus kann Teil eines angeborenen Syndroms sein und sollte Anlass zu weiterer Diagnostik geben.
Die Untersuchung
Der Patient sollte ruhig und entspannt sein, und sich mit entkleidetem Unterleib vorzugsweise im Schneidersitz befinden. Kleinkinder können in Rückenlage oder auf den Schoß eines Elternteils sitzend untersucht werden.
Die Hand der untersuchenden Person sollte vorzugsweise warm sein, bei Kleinkindern ist eine Wärmelampe empfehlenswert, damit sich die Hoden nicht vor Kälte nach kranial ziehen. Mit Seife kann die Reibung der Hand reduziert werden, und die Chance, die Hoden nachzuweisen, steigt.
Zunächst wird versucht, die äußere Öffnung des Leistenkanals zu identifizieren und eine sorgfältige Palpation entlang des Verlaufs des Leistenkanals durchgeführt.
Wenn kein Hoden gefunden werden kann, sollte mittels Palpation nach einer Hodenektopie vor dem Schambein, im Perineum und im oberen Bereich des Oberschenkels gesucht werden.
Die Durchleuchtung des Hodensacks mittels Lampe zur Abgrenzung einer Hydrozele (= durchschimmernde Flüssigkeit) kann hilfreich sein.
Jünger als 32 Jahre mit einseitiger Hodenretention
Orchiektomie empfohlen
Älter als 32 Jahre mit einseitiger Hodenretention
sorgfältige Überwachung und Kontrollen empfohlen
Jeder Mann mit beidseitiger Hodenretention
Indikation für Hodenbiopsie und Orchidopexie
Medikamentöse Therapie
Hormonbehandlung
Die Hormontherapie mit dem Ziel, einen Deszensus zu erreichen, kann mit der isolierten Gabe von GnRH (3 x 400 µg/d als Nasenspray über 4 Wochen), von hCG (1 x 500 IE wöchentlich als Injektion über 3 Wochen) oder als kombinierte Therapie mit GnRH mit der nachfolgenden Gabe von hCG erfolgen.1
Eine Hormontherapie ist wenig wirksam. Die Eltern sollten über die Erfolgsrate aufgeklärt werden.1
Die Erfolgsrate für einen Deszensus liegt bei ca. 20 %.
Die Erfolgsrate ist umso höher, je näher der Hoden am Skrotum liegt.
Für GnRH beträgt sie 21 %, (werden Pendelhoden, für die keine Therapiebedürftigkeit besteht, ausgeschlossen – nur 12 %; werden abdominell gelegene Hoden ausgeschlossen – 45 %), für hCG 19 % (13–25 %) und Placebo ca. 4 %.
Eine erneute Aszension des Hodens tritt in ca. 25 % auf.
Nach Ende des 1. Lebensjahres sollte keine Hormontherapie mehr durchgeführt werden.1
Eine allgemeine Empfehlung zur postoperativen Hormontherapie kann aufgrund der Datenlage derzeit nicht gegeben bzw. sollte nur im Rahmen von Studien durchgeführt werden.1
Weitere Behandlungsformen
Operative Therapie
Wenn eine Hodenretention in einem Alter von > 6 Monate nachgewiesen wird, besteht die Indikation zur chirurgischen Überweisung.
Der geeignete Zeitpunkt für eine chirurgische Behandlung ist umstritten1-2,5-6,14,19, international werden Operationen bei Hodenretention im Alter von 6–12 Monaten empfohlen.
Ein chirurgischer Eingriff in einem Alter von < 6 Monate wird aufgrund des häufigen spontanen Hodenabstieges während der ersten 6 Lebensmonate nicht empfohlen.
Ein chirurgischer Eingriff bei nicht palpablen Hoden kann laparoskopisch oder offen in 1 oder 2 Sitzungen durchgeführt werden.
Eine Laparoskopie wird bei Jungen ohne palpable Hoden empfohlen, die älter als 1 Jahr alt sind, bevor die defnitive Versorgung festgelegt wird.
Eine adjuvante Hormontherapie mit GnRH, um die Fertilität nach einer Orchidopexie zu erhöhen, ist umstritten und wird nicht routinemäßig durchgeführt.20
Ob eine Operation erfolgreich verlaufen ist, kann frühestens 1 Jahr nach der Operation beurteilt werden.
Die anatomische Erfolgsrate (Hoden ohne Atrophie im Skrotum) liegt bei Spezialist*innen > 95 % bei Patienten, deren Hoden sich im Leistenkanal befinden.
Bei Patienten mit intraabdominalen Hoden variiert die anatomische Erfolgsrate von 74–90 %, sowohl bei der offenen als auch bei der laparoskopischen Technik.
Der anatomische Erfolg durch die Operation erreicht dennoch nicht dieselben Werte wie ein physiologischer Deszensus (normale Hormonproduktion und Spermiogenese).
Die Sertoli- und Leydigzellfunktion ist bei Männern besser, die mittels Orchidopexie innerhalb der ersten 2 Lebensjahre behandelt worden sind, als bei Männern, die später operiert werden.
Komplikationen kommen bei solchen chirurgischen Eingriffen selten vor (< 1 %), umfassen aber Hodenatrophie, Beschädigung des Vas deferens und weitere seltene Verletzungen.
Die Wirkung einer frühen Orchidopexie an der endokrinen Hodenfunktion im Erwachsenenalter ist unbekannt.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Etwa 75 % der Jungen mit Hodenretention bei Geburt erleben innerhalb des 1. Lebensjahres einen spontanen Hodenabstieg.
Nach dem 1. Geburtstag ist ein spontaner Hodenabstieg selten.
In der Gruppe derjenigen, die mit beidseitigem Kryptorchismus als Kinder operiert wurden, zeigen sich bei etwa 28 % über 20 Mio. Spermien/ml Ejakulat.
In der Gruppe derjenigen, die mit einseitigem Kryptorchismus als Kinder operiert wurden, zeigen sich bei etwa 70 % über 20 Mio. Spermien/ml Ejakulat.
Das Risiko für die Entwicklung von Hodenkrebs ist bei intraabdominaler Hodenretention um das 5- bis 40-Fache erhöht.
Das relative Risiko für Hodenkrebs bei Kryptorchismus liegt für alle Patienten bei ca. 3–8, wobei Patienten, die vor der Pubertät mittels Orchidopexie behandelt wurden, ein geringeres Risiko (relatives Risiko 2–3) aufweisen.
Es besteht ein höheres Risiko bei beidseitigem Kryptorchismus, assoziierten urogenitalen Anomalien und Patienten mit unbehandeltem Kryptorchismus.
Bei Patienten mit einseitigem Kryptorchismus ist die Gefahr von Hodenkrebs des physiologisch im Skrotum befindlichen Hodens minimal.
Eine Orchidopexie scheint das Risiko für die Entwicklung eines Seminoms zu reduzieren.
Bei unbehandeltem Kryptorchismus finden sich in 74 % der Hodenkrebsfälle Seminome.
Hodenkrebsfälle, die sich nach einer Orchidopexie entwickeln, sind zu 37 % Seminome.
Jungen, die vor dem 12. Lebensjahr operiert werden, weisen ein signifikant reduziertes Risiko für Hodenkrebs auf verglichen mit Patienten, die nach dem 12. Lebensjahr operiert werden oder unbehandelt bleiben.
Eine Orchiektomie sollte bei Patienten mit persistierendem Kryptorchismus etwa ab dem 30. Lebensjahr in Betracht gezogen werden.
Eine Hodenbiopsie kann bei Jungen mit beidseitigem Kryptorchismus ab dem 10. Lebensjahr nützlich sein um zu beurteilen, ob die Indikation für eine Orchidopexie oder Orchiektomie besteht.
Prognose
Eine unbehandelte Retention führt zum Verlust der Spermienproduktion (Azoospermie).
Ektopische Hoden führen zu einem erhöhten Hodenkrebsrisiko.
Das Risiko für Hodenkrebs verdoppelt sich, wenn der Patient erst nach dem 12. Lebensjahr eine chirurgische Korrektur vornehmen lässt.8,13,22
Verlaufskontrolle
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.6,13
Wenn die Diagnose Hodenretention gestellt wird, empfiehlt es sich, Patienten spätestens im Alter von 6 Monaten an die Kinderchirurgie/Urologie zu überweisen.
Wenn der/die Hoden bis zum 6. Lebensmonat spontan in das Skrotum hinabgewandert ist/sind oder sich als retraktil erweist/erweisen, sollten den Eltern jährliche Überprüfungen während der gesamten Kindheit empfohlen werden, da eine erhebliche Gefahr für einen Wiederaufstieg besteht.
Wenn der/die Hoden im Alter von 6 Monaten nicht hinabgewandert ist/sind, besteht vor Ende des 1. Lebensjahres die Indikation zur Orchidopexie.1,5-6,9,13-14
Bei Diagnosestellung nach dem 6. Lebensmonat wird eine umgehende Überweisung zur Klärung der OP-Indikation empfohlen.1,5-6,14
Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie. Hodenhochstand - Maldeszensus testis. AWMF-Leitlinie Nr. 006-022. S2k, Stand 2016. www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie. Hodenhochstand, Maledeszensus testis. AWMF-Leitlinie Nr. 006-022, Stand 2016. www.awmf.org
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Autor*innen
Moritz Paar, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Entwicklungsanomalie, bei der die Hoden nicht in das Skrotum hinabwandern (Maldescensus testis, Hodenhochstand). Wenn die Hoden sich nicht im Skrotum befinden, kann dies einer Ektopie, einem Kryptorchismus oder einem Senkhoden geschuldet sein.