Nichtsprachliche, kognitive Symptome nach einem Schlaganfall
Allgemeine Informationen
Definition
Häufiges Auftreten kognitiver Symptome nach einem Schlaganfall1-3
Sowohl akute Verschlechterung nach Schlaganfall als auch anhaltende kognitive Defizite nach mehreren Jahren4
Eine Erfassung der kognitiven Defizite im Rahmen des ersten Assessments nach Schlaganfall ist wichtig, da der Fokus häufig einseitig auf den motorischen Symptomen liegt.5
Zu den häufigsten Symptomen zählen:
Neglect: halbseitig herabgesetzte Aufmerksamkeit
Schwierigkeiten mit der räumlichen Wahrnehmung; Schwierigkeiten mit räumlich-konstruktiven Tätigkeiten
Apraxie: Schwierigkeiten bei der Ausführung von willkürlich zielgerichteten Tätigkeiten aufgrund einer gestörten Koordination der Einzelelemente von Bewegungsabläufen.
Die Symptomatik tritt auf:
bei mehr als der Hälfte der Patient*innen während der akuten Phase
bei etwa 1/4 der Betroffenen auch im weiteren Verlauf.
Häufigkeit
Unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von kognitiven Defiziten nach Schlaganfall6
unterschiedliche Definitionen
unterschiedliche Populationen
Verwendung von Untersuchungsmethoden mit unterschiedlicher Sensitivität
Einige Störungen treten gehäuft auf, z. B.:
Apraxie
Neglect
z. B. bei Schädigung der rechten Hemisphäre 2 Tage nach Schlaganfall Neglect bei 82 % der Patient*innen7
Probleme mit Raumwahrnehmung und Richtung.
Wichtig: Kognitive Defizite erkennen!
Problemorientierte Ausrichtung der Rehabilitationsmaßnahmen
Nicht nur sensomotorische, sondern auch kognitive Funktionen sind wichtig für die Wiedererlangung der Autonomie.8-9
Eine ärztliche Aufklärung von Patient*innen, Angehörigen und Pflegepersonal ist notwendig.
Das Funktionsniveau ist möglicherweise stärker herabgesetzt als die sensomotorischen Symptome nahelegen.
Apraxie
Eingeschränkte Fähigkeit zur Ausführung willkürlicher zielgerichteter Tätigkeiten
Paresen, sensorische Defizite oder Probleme des Bewegungsapparates nicht ursächlich
Schwierigkeiten mit:
Teilbewegungen einer motorischen Sequenz oder
Ausführung der richtigen Reihenfolge von Einzelelementen in einem Bewegungsablauf.
Klinische Symptome
Tendenz zur Perseveration (stereotype Wiederholung einer einzelnen Bewegung)
Schwierigkeiten, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Schwierigkeiten bei der Verwendung von Werkzeugen
Probleme beim Gebrauch von Gegenständen
eingeschränkte Abstimmung der Griffstärke auf eine bestimmte Tätigkeit
ungeschickte Bewegungen
Apraxie häufig mit Schädigungen der linken Hemisphäre assoziiert
Nicht selten gleichzeitig Aphasie
Im Einzelfall schwierige Abgrenzung: Patient*innen erscheinen u. U. apraktisch, da aufgrund des eingeschränkten Sprachverständnisses Aufforderungen nicht umgesetzt werden können.
Untersuchung auf Apraxie
Fordern Sie die Patient*innen zu alltäglichen Tätigkeit wie Haare bürsten oder Zähne putzen auf.
Zeigen Sie die richtigen Bewegungsabläufe und lassen Sie die Patient*innen diese nachahmen.
Probleme mit Raumwahrnehmung und Richtung
Störungen der visuellen Lokalisation durch ungenaue10
Markierung von gleichmäßig auf einem Blatt Papier verteilten Kreisen und Kreuzen
Zeichnen von Objekten, Gesichtern etc.: Unvollständigkeit auf der Neglectseite?
Verteilung von Objekten auf einer Fläche: gleichmäßige Verteilung?
Anosognosie
Nichterkennen einer krankhaften Veränderung, z. B. einer Parese
Häufig Überspielung des Defizits durch Konfabulationen
Kognitives Verlustphänomen, abzugrenzen von einer eher psychologisch bedingten Verleugnung der Erkrankung.
Störungen von Gedächtnis und Orientierung
Demenz im Rahmen einer zerebrovaskulären Erkrankung möglich
Mögliche Symptome bei Schlaganfall-Patient*innen auch ohne Erfüllung der Kriterien für Demenz:14
herabgesetztes Erinnerungsvermögen
verminderte Aufmerksamkeit
Konzentrationsstörungen
leichte Ablenkbarkeit.
Beeinträchtigungen für Betroffene häufig ebenso belastend wie motorische Behinderungen15
Patient*innen mit leichten bis mittelschweren Gedächtnisstörungen sollen ein spezifisches kognitives Training erhalten (z. B. bildhafte Vorstellungen).16
Wirksamkeit abhängig von der Trainingshäufigkeit (mindestens 10 Sitzungen empfehlenswert)
Heutzutage sollten auch elektronische Erinnerungshilfen (z. B. Smartphone-Kalender) als Kompensationsstrategie therapeutisch einbezogen werden (sofern Bereitschaft und Interesse der Patient*innen vorhanden).16
Schwierigkeiten mit der Verhaltenskontrolle
Besonders ausgeprägte Störungen der Verhaltenskontrolle bei Schädigungen des Frontalhirns
Symptomatik abhängig von Lokalisation, Akuität und Ausmaß13
Analytisches Denken gestört.
Vorstellungskraft vermindert.
Bewusstsein eingeengt.
Flexibilität reduziert.
Gedächtnis und Konzentration gestört.
Antrieb gemindert.
Wesen verändert.
Sozialverhalten gestört.
Symptomatik häufig auch belastend für Angehörige
Eine Aufklärung über die Ursachen dieser Symptome ist wichtig.
Emotionale Inkontinenz
Variante der mangelhaften Verhaltenskontrolle
Beispielsweise heftige Weinanfälle bei wenig oder gar nicht emotional geladenen Ereignissen
Seltener Manifestation der emotionalen Inkontinenz durch der Situation unangemessenes, lautes Lachen
Symptome können als außerordentlich belastend empfunden werden und zu Verunsicherung führen.
Ausführliche Informationen zu Merkmalen und Ursachen wichtig
In ausgeprägten Fällen evtl. Therapieversuch mit Antidepressiva vom Typ der SSRI
Effekt auch bei Patient*innen ohne klinische Depression17
Lokalisation der Schädigung und Symptome
Komplexer Zusammenhang zwischen Lokalisation der Hirnschädigung und der Ausprägung kognitiver Symptome
Eine normale Aktivität anatomisch getrennter Hirnbereiche ist die Voraussetzung für eine ungestörte kognitive Funktion.
Ähnliche Symptombilder durch Schädigungen unterschiedlicher Hirnbereiche möglich
Andererseits treten bestimmte Komplexe kognitiver Störungen gehäuft auf bei bestimmten Lokalisationen des Schlaganfalls, z. B.:
Probleme mit der Raum- und Richtungswahrnehmung bei Schädigungen im hinteren Teil des Parietallappens
Verhaltensauffälligkeiten und ein gestörtes Urteilsvermögen bei Schädigungen im Frontallappen.
Bestimmte kognitive Defizite vorwiegend bei Schädigungen der rechten oder der linken Hemisphäre
ausgeprägte dysexekutive Syndrome nach bilateralen Infarkten (selten) bzw. nach großen Anterior- oder Mediainfarkten18
Charakteristische Symptome bei Schädigung der linken Hemisphäre
Die linke Hemisphäre ist besonders wichtig für Sprache und Handlungsabfolgen.
Daher Aphasie und Apraxie typische kognitive Symptome bei einer Schädigung der linken Hemisphäre
Häufig verlangsamtes, impulsgemindertes, selbstkritisches und deprimiertes Verhalten
Aufgrund der Sprachschwierigkeiten verbale Instruktionen häufig wenig hilfreich
Günstiger ist Demonstrieren von Bewegungen und Handlungen.
Charakteristische Symptome bei Schädigung der rechten Hemisphäre
Die rechte Hemisphäre ist besonders wichtig für Koordination und gleichzeitige Wahrnehmung unterschiedlicher Reize.
Bei einer Schädigung häufig:
Probleme mit Raumwahrnehmung und Richtung
Neglect
verminderte Aufmerksamkeit
eingeschränktes Urteilsvermögen
mangelnde Krankheitseinsicht
impulsive und fahrige Verhaltensweisen.
Häufig sind sprachliche Fähigkeiten erhalten, verbale Instruktionen werden als hilfreich empfunden.
Nach rechtshemisphärischen (v. a. parietalen) Schädigungen ist eine Untersuchung der räumlichen Aufmerksamkeitsausrichtung empfohlen.19
Systematisierung der Verhaltensbeobachtung bei Aufmerksamkeitsstörungen mit Schätzskalen und Fragebögen19
Untersuchung der kognitiven Funktionen
Es wird empfohlen, im Rahmen eines Basisassessments auch mögliche kognitive Beeinträchtigungen zu erfassen.5
Orientierende Beurteilung der kognitiven Funktionen durch Hausärzt*innen
bei Bedarf Überweisung an Spezialist*innen
Bei Verdacht auf Bestehen kognitiver Probleme sollten die Patient*innen einer differenzierten Diagnostik und ggf. Therapie zugeführt werden (z. B. Ergotherapie, Neuropsychologie).5
Im Praxisalltag wichtige Erkenntnisse durch Beobachtung der Patient*innen bei Alltagsaktivitäten kombiniert mit einfachen, zielgerichteten Untersuchungen
Orientierende Untersuchung nach Schlaganfall, z. B. mit Mini Mental Status (MMS) möglich5
allerdings zur Erfassung der kognitiven Störungen nach Schlaganfall weniger gut geeignet als zur Erfassung einer Demenz
Ggf. Zusammenarbeit mit Ergotherapeut*innen hilfreich
Kompetenzen in Bezug auf die Beurteilung der kognitiven Funktionen
allgemeine Sinnesanregungen zur globalen Leistungssteigerung
spezifische Stimulation, z. B.:
computergestützte Verfahren zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Gedächtnis
Einsatz von Hilfsmitteln, z. B. Tagebuch bei Gedächtnisstörungen
Einüben gezielter mentaler Strategien
Belastungsproben, z. B. vor Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess
psychotherapeutische Gespräche.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Krankheitsverlauf und Prognose
in der Regel in der ersten Phase nach Schlaganfall raschere Besserung, im Verlauf langsamere Fortschritte
Bei einem substanziellen Anteil der Schlaganfall-Patient*innen (etwa 15–20 %) bleiben nichtsprachliche kognitive Funktionsstörungen bestehen.
Quellen
Leitlinien
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Schlaganfall. AWMF-Leitlinie Nr. 053-011. S3, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Rehabilitation bei Störungen der Raumkognition. AWMF-Leitlinie Nr. 030-126. S1, Stand 2017. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Aufmerksamkeitsstörungen, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 030-135. S2e, Stand 2011. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-124. S2e, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-125. S2e, Stand 2019. www.awmf.org
Literatur
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Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Häufiges Auftreten kognitiver Symptome nach einem Schlaganfall1-3 Sowohl akute Verschlechterung nach Schlaganfall als auch anhaltende kognitive Defizite nach mehreren Jahren4