Definition:Meist 1–3 Tage dauernde, lokalisierte Ödeme im Bereich von Haut, Magen-Darm-Trakt, Zunge/Larynx/Pharynx. Verschiedene Erkrankungen können bradykininvermittelt oder mastzellvermittelt Angioödeme auslösen.
Häufigkeit:Am häufigsten im Rahmen von Anaphylaxie, Urtikaria oder medikamenten-induziert (ACE-Hemmer), seltener hereditär.
Symptome:Juckreiz bei mastzellvermittelten Angioödemen. Bauchschmerzen bei gastrointestinaler Beteiligung. Heiserkeit, Stridor, Dyspnoe beim Larynxödem bis hin zur respiratorischen Insuffizienz.
Befunde:Ödeme, bei anaphylaktischer Reaktion Hypotonie/Tachykardie, Quaddeln bei Urtikaria.
Diagnostik:In der Akutsituation beruht die Diagnose auf Anamnese und klinischem Befund. Im weiteren Verlauf ggf. Diagnostik im Rahmen der Abklärung von Allergien oder Urtikaria. Bei hereditärem Angioödem laborchemischer Nachweis von C1-Inhibitor-Mangel/-defizienz.
Therapie:Sicherung der Atemwege hat höchste Priorität. Bei mastzellvermittelten Angioödemen Adrenalin i. m., Antihistaminika, Glukokortikoide. Bei bradykininvermitteltem Angioödem C1-INH-Konzentrat oder Itacibant.
Allgemeine Informationen
Definition
Definition der Angioödeme (früher auch Quincke-Ödeme genannt)1
1–3 Tage (max. 7 Tage) dauernde lokalisierte Ödeme
Manifestionsorgane sind Haut, Magen-Darm-Trakt, seltener Zunge/Larynx/Pharynx.
Rezidive in unregelmäßigen Abständen
Das klinische Symptom „Angioödem“ gehört zu mehreren Krankheitsentitäten unterschiedlicher Pathogenese.
Klassifikation
Angioödeme werden grundsätzlich in bradykininvermittelte und mastzellvermittelte unterteilt, jeweils mit Untergruppen.2
Die Unterscheidung hat auch therapeutische Bedeutung.
Bradykininvermittelte Angioödeme
C1-INH-Defizienz/Defekt (C1-INH = C1-Inhibitor)
angeboren (HAE = hereditäres Angioödem)
HAE 1 (C1-INH-Defizienz)
HAE 2 (C1-INH-Defekt)
erworben (AAE = erworbenes Angioödem)
AAE-C1-INH (erworbenes Angioödem mit C1-INH-Defizienz)
C1-INH normal
angeboren
HAE-nC1-INH (hereditäres Angioödem mit normalem C1-INH) durch Genmutation von Faktor XII, Angiopoietin-1 oder Plasminogen
erworben
medikamenteninduziertes Angioödem (z. B. durch ACE-Hemmer)
Angioödeme als Nebenwirkung von ACE-Hemmern treten bei 0,2–0,7 % der Patient*innen auf.4
Das hereditäre Angioödem ist im Vergleich relativ selten.1
Inzidenz ca. 1,5:100.000
Erstmanifestation meist in den ersten beiden Lebensdekaden
Männer und Frauen gleich häufig betroffen
Ätiologie und Pathogenese
Angioödeme sind Schwellungen tiefer dermaler/subkutaner bzw. mukosaler/submukosaler Gewebe.2
Die Schwellungen entstehen durch eine passager erhöhte Permeabilität von Blutgefäßen.2
Ätiologisch können die hereditären von den erworbenen Angioödemen unterschieden werden, pathophysiologisch die bradykininvermittelten von den mastzellvermittelten.
Pathogenese bradykininvermittelter Angioödeme
Dysregulation des Kininsystems mit Erhöhung des Bradykininspiegels durch:2
verminderte Hemmung der Bradykininproduktion durch Mangel/Defizienz des C1-Inhibitors (oder Mutationen anderer regulierender Faktoren)
verminderten Abau von Bradykinin durch Angiotensin-Converting-Enzym, z. B. unter ACE-Hemmer-Therapie
Hereditäres Angioödem (HAE)
Bradykinin ist ein vasoaktives Peptid und führt zu Vasodilatation, erhöhter Gefäßpermeabilität und Ödembildung.
Bradykininvermittelte betreffen im Gegensatz zu mastzellvermittelten Angioödemen auch den Gastrointestinaltrakt und häufiger die oberen Atemwege.5-6
Patient*innen sind bei Erkrankungsbeginn im Allgemeinen älter als bei HAE (> 40 Jahre).2
Häufig assoziiert mit Grunderkrankungen (Lymphom, benigne monoklonale Gammopathie), daher sollte eine erweiterte Diagnostik durchgeführt werden.2
Medikamenteninduziertes Angioödem
Am häufigsten durch ACE-Hemmer verursacht
ACE baut Bradykinin in inaktive Metabolite ab, durch ACE-Hemmer akkumuliert Bradykinin
Angioödem der Lippen
Auftreten vor allem in den ersten 3 Monaten nach Beginn einer ACE-Hemmer-Therapie, vereinzelt aber auch erst nach jahrelanger Einnahme5
Am häufigsten Angioödeme im Bereich des oberen Atemtraktes (Zunge > Lippe > Pharynx/ Larynx)2
Höheres Risiko bei afrikanischer Abstammung und weiblichem Geschlecht5
Weitere Medikamente, die bradykininvermittelte Angioödeme auslösen können (deutlich seltener als ACE-Hemmer) sind u. a.:5,8-9
AT-Antagonisten (Sartane)
NSAR
DPP-4-Hemmer (Gliptine)
Neprilysin-Inhibitoren
Gewebe-Plasminogen-Aktivator (tPA)
Ronalazin
Racecadotril
mTOR-Hemmer (Sirolimus, Everolimus).
Pathogenese mastzellvermittelter Angioödeme
Die Angioödeme entstehen durch Degranulation von Mastzellen mit Freisetzung von Histamin und anderen vasoaktiven und proentzündlichen Mediatoren.5
Mastzellvermittelte Angioödeme treten als Symptome allergischer Reaktionen, einer Urtikaria oder pseudoallergischer Episoden auf.4
Im Gegensatz zu bradykininvermittelten Angioödemen oft mit Juckreiz und/oder Urtikaria assoziiert4
Angioödeme bei allergischen Reaktionen
Angioödeme unmittelbar (Minuten bis wenige Stunden) nach Allergenexposition entsprechen einer Manifestation im Rahmen einer anaphylaktischen Reaktion.5
Akute Angioödeme sind mit ca. 45 % ein häufiges Merkmal einer Anaphylaxie.2
Auftreten oft nach Exposition gegenüber Insektengiften (Biene, Wespe), Medikamenten oder Nahrungsmitteln5
Rezidivierende allergische Angioödeme sind eher selten.
Angioödeme bei Urtikaria
Urtikaria (Nesselsucht) ist durch das Auftreten von Quaddeln und/oder Angioödemen definiert5
30 % der Patient*innen mit akuter Urtikaria berichten neben Quadeln auch über Angioödeme.5
Bei chronischer Urtikaria können Quaddeln und/oder Angioödeme sowohl spontan als auch getriggert auftreten.5
Angioödeme an verschiedenen Lokalisationen wie Zunge, Lippen oder Extremitäten, jedoch in Abgrenzung zum hereditären Angioödem nicht im Gastrointestinaltrakt2
Prädisponierende Faktoren
Genetik
Allergene
Medikamente
ICPC-2
A92 Allergie/allergische Reaktion NNB
ICD-10
T78.- Unerwünschte Nebenwirkungen, anderenorts nicht klassifiziert
T78.3 Angioneurotisches Ödem
D84.1 Defekte im Komplementsystem
Inkl.:C1-Esterase-Inhibitor[C1-INH]-Mangel
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
In der Akutsituation Stellung der Verdachtsdiagnose basierend auf:
Dynamik und Lokalisation eines akuten Angioödems bestimmen die therapeutische Dringlichkeit, eine Schnellanamnese kann folgende Fragen umfassen:5
Nehmen oder nahmen Sie bis vor kurzem ACE-Hemmer oder Sartane ein?
Akute Angioödeme, v. a. am Kopf und Hals sind bei Einnahme von ACE-Hemmern (oder AT-Antagonisten) als medikamenteninduziert anzusehen.
Traten die Schwellungen (fast) immer an der Zunge auf?
Angioödeme durch ACE-Hemmer (ACEI-AE) treten bevorzugt im Kopf-Hals-Bereich auf, am häufigsten an der Zunge. Andere Angioödeme können auch die Zunge betreffen, jedoch üblicherweise nicht als bevorzugte Lokalisation.
Traten bei Ihnen wiederholt Quaddeln auf?
Wiederkehrende Quaddeln sprechen für eine Urtikaria, in deren Rahmen auch Angioödeme auftreten können.
Sprachen die Schwellungen immer gut auf Kortison und Antiallergika an?
Dies ist nur bei mastzellinduzierten Angioödemen der Fall.
Traten bei Ihnen wiederholt tagelang andauernde, stärkste krampfartige Bauchschmerzen auf?
Dies spricht für das Vorliegen eines bradykininvermittelten Angioödems, vor allem bei HAE oder AAE mit C1-INH-Mangel.
In welchem Alter traten bei Ihnen die Schwellungsbeschwerden (rezidivierende Bauchschmerzen) erstmals auf?
Kindheit und Jugendalter sprechen für ein HAE durch C1-INH-Mangel.
Jugend- und junges Erwachsenenalter sind typisch für das HAE-nC1-INH.
junges und mittleres Erwachsenenalter oft bei Urtikaria
Auftreten nach dem 40. Lebensjahr typisch für AAE-C1-INH oder ACEI-AE
Traten und treten die Schwellungen aus heiterem Himmel auf oder können Sie das Auftreten von Attacken zumindest manchmal vorhersagen?
Beim HAE durch C1-INH Mangel treten oft Prodromi auf.
Mastzellvermittelte Angioödeme treten schlagartig auf.
Waren oder sind andere Familienmitglieder von immer wiederkehrenden Schwellungsbeschwerden (rezidivierende Bauchschmerzen) betroffen?
beim HAE mit und ohne C1-INH-Mangel häufig positive Familienanamnese
Klinische Untersuchung
Belegte Stimme, Heiserkeit, Stridor? (Larynxödem)
wenn möglich, Bestimmung der O2-Sättigung
Schluckbeschwerden, kloßiges Gefühl im Hals (Pharynxödem)
Blutdruck/Puls (Hypotonie/Tachykardie bei anaphylaktischer Reaktion Grad II–IV)10
Hautschwellungen
Beim hereditären Angioödem (HAE) sind typischerweise Gesicht, Extremitäten und Genitalbereich betroffen.11
Schwellungen beim HAE fast immer ohne Juckreiz, meist mit Spannungsgefühl1
In der Akutsituation Sicherung der Vitalfunktionen
Rezidive vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
Bei initial unklarer ätiologischer Zuordnung von Angioödemen werden diese aufgrund der größeren Häufigkeit meist zunächst wie mastzellvermittelte Angioödeme behandelt.4
Bei Unwirksamkeit dieser Behandlung ggf. Therapie wie bei bradykininvermitteltem Angioödem
Sicherung der Atemwege
Bei Angioödemen im Kopf-Hals-Bereich ist das Freihalten der Atemwege oberste Priorität.4
Bei inspiratorischem Stridor und Abfall der Sauerstoffsättigung frühe Indikationsstellung zu Intubation und Beatmung4
Intubation möglichst in Koniotomie bzw. Tracheotomiebereitschaft, da unter Intubationsversuch das Ödem rasch zunehmen kann.
Mastzellvermittelte Angioödeme
Angioödem bei Anaphylaxie
Die wichtigsten Elemente der Behandlung einer anaphylaktischen Reaktion sind:10
Bei bradykininvermittelten Angioödemen sind Adrenalin, Antihistaminika und Glukokortikoide wirkungslos.11
Zwei therapeutische Strategien kommen in Betracht:1
Behandlung von Attacken, sobald sie für die Patient*innen erkennbar sind (On-demand-Therapie, Bedarfstherapie).
Dauertherapie mit dem Ziel der Attackenvermeidung (Langzeitprophylaxe).
Patient*innen sollten mit Medikamenten zur Bedarfsbehandlung ausgestattet sein und sie im Idealfall auch selbst anwenden können (Schulung erforderlich).1
Östrogene (orale Antikonzeptiva, hormonale Ersatztherapie) und ACE-Hemmer können Häufigkeit und Schwere der Attacken bei HAE-C1-INH steigern und müssen abgesetzt werden (vorsichtshalber auch AT-Antagonisten).
Nach gesicherter Diagnose „HAE-C1-INH“ soll eine eingehende Information von Patient*in und Familie über Krankheit und Verhalten im Notfall erfolgen.
Jede Patient*in mit einem HAE-C1-INH sollte mit einem Notfallausweis ausgestattet sein (Bezug über unten aufgeführten Behandlungszentren und deutsche Selbsthilfegruppe).
Jede Patient*in soll zuhause die Therapie für mindestens zwei Attacken vorrätig haben und auf Reisen mit sich führen.
Im nächstgelegenen Krankenhaus sollten Patient*in und Krankheit bekannt sein.
Comprehensive-Care-Zentrum für hereditäres Angioödem der Universitäts-Kinderklinik Frankfurt, Tel.: (0 69) 6 301 64 32, -63 12
Angioödem-Sprechstunde, Allergie-Centrum-Charité, Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Tel.: (0 30) 4 50 51 80 43
Angioödem-Sprechstunde der HNO-Klinik der Technischen Universität München, Tel.: (0 89) 41 40 53 80
Angioödem-Sprechstunde der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie des Universitätsklinikums Ulm, Tel.: (0731) 50 05 95 01
Angioödemsprechstunde der Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie, Comprehensive Allergy Center, Medizinische Hochschule Hannover, Tel.: (05 11) 5 32 76 50
Medikamenteninduziertes Angioödem
Für das medikamenteninduzierte Angioödem (am häufigsten unter ACE-Hemmer-Therapie auftretend) besteht bislang keine zugelassene kausale Therapie.4
Die Studienlage zur Behandlung dieser als bradykininvermittelt eingeordneten Ödeme ist uneinheitlich.8,15
Im Sinne eines Therapieversuchs kann – zumal bei nicht immer eindeutiger Ätiologie – zunächst mit Glukokortikoiden und Antihistaminika behandelt werden.4
Bei fehlender Wirksamkeit kann dann (off label) die Gabe von C1-INH i. v. oder Icatibant s. c. erfolgen.16
Periokuläres Angioödem: schmerzloser, nicht-juckender, kaum eindrückbarer und klar abgegrenzter Ödembereich
Angioödem der Lippen
Hereditäres Angioödem
Quellen
Leitlinien
Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie. Hereditäres Angioödem durch C1-Inhibitor-Mangel. AWMF-Leitlinie Nr. 061-029. S1, Stand 2018. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie. Akuttherapie und Management der Anaphylaxie. AWMF-Leitlinie Nr. 061-025. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie. Hereditäres Angioödem durch C1-Inhibitor-Mangel. AWMF-Leitlinie Nr. 061-029. Stand 2018 www.awmf.org
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Autor*innen
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Meist 1–3 Tage dauernde, lokalisierte Ödeme im Bereich von Haut, Magen-Darm-Trakt, Zunge/Larynx/Pharynx. Verschiedene Erkrankungen können bradykininvermittelt oder mastzellvermittelt Angioödeme auslösen.