Morbus Hirschsprung

Zusammenfassung

  • Definition:Funktionelle Darmobstruktion, bedingt durch das gänzliche oder teilweise Fehlen von Ganglienzellen im Plexus myentericus und Plexus submucosus des Kolons. Die erbliche Komponente ist signifikant.
  • Häufigkeit:Inzidenz 1/5.000 Lebendgeburten. Männliche Neugeborene sind häufiger betroffen (4:1).
  • Symptome:Anfangs typischerweise Symptome und Beschwerdebilder einer Darmobstruktion (galliges Erbrechen, distendiertes Abdomen) und fehlender Mekoniumabgang.
  • Befunde:Aufgeblähter Bauch, hoher Sphinktertonus und leere Rektumampulle bei rektaler Exploration, Entleerung großer Stuhlmengen ist nach einer rektalen Exploration nicht ungewöhnlich.
  • Diagnostik:Kolonkontrasteinlauf mit ggf. typischem Befund. Bioptischer Nachweis fehlender Ganglienzellen.
  • Therapie:Operative Entfernung des betroffenen Darmsegments. End-zu-End-Anastomose oder temporäres Stoma.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Morbus Hirschsprung ist eine angeborene Erkrankung, die sich durch das Fehlen von intestinalen Ganglienzellen auszeichnet und zu einer funktionellen Obstruktion des Kolons führt.
  • Das Fehlen von Ganglienzellen führt zu Spasmen der glatten Muskulatur im betroffenen Darmsegment.
  • Alle Abschnitte des Darms können betroffen sein. In 80–85 % bleibt die Aganglionose auf das Rektosigmoid begrenzt.
  • Unbehandelt führt die Erkrankung, je nach Schweregrad zu Obstipation, Ileus, Enterokolitis und ggf. einem toxischen Megakolon.

Häufigkeit

  • Inzidenz
    • 1 je 5.000 Lebendgeburten
  • Geschlecht
    • Morbus Hirschsprung kommt bei Jungen 4-mal häufiger vor als bei Mädchen. Dies gilt jedoch nicht bei pankolischem Befall; hier ist das Verhältnis nahezu 1:1.1
  • Ausdehnung
    • In 80–85 % ist nur das Rektosigmoid betroffen.2
    • In 2–13 % ist das gesamte Kolon betroffen (Zülzer-Wilson-Syndrom).3
    • In seltenen Fällen können zusätzlich große Abschnitte des Dünndarms oder der gesamte Gastrointestinaltrakt betroffen sein.3
    • Ultrakurze Hirschsprung-Segmente sind selten, jedoch häufiger eine Differenzialdiagnose in Fällen von Obstipation bei älteren Kindern.
  • Erbliche Faktoren
    • Die Erkrankung wird multigenetisch vererbt. Das Wiederholungsrisiko liegt zwischen 2–33 %, je nach Ausprägung der Aganglionose.
    • Die meisten Fälle treten sporadisch auf.
  • Diagnosezeitpunkt
    • In 90 % der Fälle wird die Krankheit im Neugeborenenalter aufgrund von Symptomen einer Darmobstruktion diagnostiziert (Mekoniumabgang meist > 24 h nach Geburt).4
    • Bei gestillten Kindern kann die Erkrankung auch mit Einführen der Beikost symptomatisch werden.
    • Morbus Hirschsprung ist die häufigste Ursache eines Ileus im Neugeborenenalter.
    • Bei älteren Kindern ist Obstipation das Hauptsymptom.5
  • Assoziierte Syndrome6
    • In 70 % der Fälle tritt die Erkrankung isoliert auf.4
    • In 12 % der Fälle treten zusätzlich andere Fehlbildungen auf, ohne dass die Zuordnung zu einem Syndrom möglich ist.4
    • 10 % der Patient*innen haben das Down-Syndrom.7
    • In seltenen Fällen mit anderen Syndromen assoziiert1
      • Haddad-Syndrom: Kombination aus Morbus Hirschsprung und dem Ondine-Syndrom (zentrale Hypopnoe/Apnoe)
      • Mowat-Wilson-Syndrom
      • Waardenburg-Shah-Syndrom
      • MEN Typ 2B

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Morbus Hirschsprung wird durch eine vorzeitig beendete Migration von Ganglienzellen aus der Neuralleiste in den Plexus myentericus und Plexus submucosus des Kolons verursacht.
  • Polygene Erkrankung mit unvollständiger Penetranz und variabler Expressivität, daher vorgeburtliche Diagnostik kaum möglich. Veränderungen konnten bislang an über 16 Genorten festgestellt werden, darunter das RET-Protoonkogen.1
  • Pathologie
    • Das aganglionäre Segment ist tonisch kontrahiert, was zur Obstipation und proximalen Dilatation des Kolons führt.
    • Die Obstruktion kann eine lebensbedrohliche Enterokolitis zur Folge haben.

Prädisponierende Faktoren

ICPC-2

  • D81 Angeb. Anomalie d. Verdauungssyst.

ICD-10

  • Q43.1 Hirschsprung-Krankheit (Megacolon congenitum)

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Typische Symptome und Beschwerdebilder
  • Biopsie aus dem Rektum mit Nachweis der Aganglionose bestätigt die Diagnose.
  • Röntgenbilder können typische Befunde aufzeigen.

Differenzialdiagnosen

  • Obstipation aus anderer Ursache
  • Zöliakie
  • Anorektale Fehlbildung (anale Stenose und Analatresie mit Fistel am Perineum)
  • Mekoniumileus
  • Beckentumoren

Anamnese

  • Die Symptome beginnen in mehr als 90 % der Fälle innerhalb weniger Tage nach Geburt. In Einzelfällen können sich die Symptome erst später, bis ins Erwachsenenalter hinein, entwickeln.
  • Typisch sind anfangs Symptome einer Darmobstruktion (galliges Erbrechen, distendiertes Abdomen) und ein fehlender Mekoniumabgang.
  • Fehlender Mekoniumabgang in den ersten 24 Stunden bei 60 % der Neugeborenen mit M. Hirschsprung2
  • Anzeichen einer Enterokolitis
    • Fieber, Diarrhö, Erbrechen, zunehmende Distension des Abdomens, explosive Stühle, Abgeschlagenheit, schlechte Nahrungsaufnahme und Blut im Stuhl
  • Nach der Neugeborenenperiode (meist mit Beginn der Beikost)
    • schwere chronische Obstipation
    • explosionsartige Stuhlentleerung nach rektaler Untersuchung
    • Gedeihstörung
    • Ileus/Subileus
    • Überlaufenkopresis4

Klinische Untersuchung

  • Klinische Zeichen einer Darmobstruktion: Erbrechen, abdominale Distension, Gedeihstörung, Obstipation
  • Rektal-digitale Untersuchung: hoher Sphinktertonus bei leerer Ampulle, explosionsartige Entleerung nach der rektalen Untersuchung
  • Sonografie

Andere Untersuchungen

  • Anorektale Manometrie4
    • Beurteilung des Ruhedrucks
    • Beurteilung der Relaxation des M. sphincter ani internus
    • Kann in den ersten 3 Lebensmonaten falsch-positiv sein.
  • Röntgen-Kontrasteinlauf
    • Proximal des betroffenen Segmentes zeigt sich eine trichterförmige Übergangszone, die in den, oft stark dilatierten, „gesunden" Darm übergeht.
    • Bei Neugeborenen ist die Sensitivität der Untersuchung geringer, bei oftmals nur diskret darstellbaren Befunden.6
    • Bei einer pankolischen Ausdehnung ist oft ein „normales“ Kolon zu sehen.
    • Erfolgt präoperativ, um festzustellen, wie weit proximal die Aganglionose reicht.
  • Histologische Untersuchung
    • diagnostischer Goldstandard und möglich ab der 6.–8. Lebenswoche4
    • Stufenbiopsien (z. B. mittels Rektumsaugbiopsie) zeigen fehlende Ganglienkomplexe des Plexus myentericus und Plexus submucosus sowie immunhistochemisch eine Erhöhung der Acetylcholinesterase.4
  • Genetische Untersuchung
    • Screening auf Mutation des RET-Protoonkogens wird empfohlen, da ggf. eine prophylaktische Therapie bezüglich des MEN2-Syndroms möglich ist.4

Indikation zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung

Therapie

Therapieziele

  • Entfernung des betroffenen Darmabschnittes und dadurch Vermeidung lebensbedrohlicher Komplikationen

Allgemeines zur Therapie

  • Die Therapie ist immer operativ und wird üblicherweise elektiv, 2–3 Monate nach Diagnosestellung, durchgeführt. Eine unmittelbare Operation in der Neugeborenenperiode scheint keine Vorteile gegenüber der früh-elektiven Operation zu haben.2
  • Bis zum Operationszeitpunkt sollte das Kind stabil sein, gut gedeihen und eine ausreichende Dekompression des Darms erfolgt sein.
  • Präoperativ sollten 1- bis 3-mal täglich Einläufe mit Kochsalzlösung durchgeführt werden. Reicht dies nicht aus, kann präoperativ die primäre Anlage eines Stomas notwendig werden.2
  • Bei Obstruktion oder Anzeichen einer Enterokolitis
    • Sollte eine gastrische Dekompression mit nasogastrischer Sonde, intravenöser Flüssigkeitszufuhr und Breitspektrum-Antibiotika durchgeführt werden.

Operative Therapie

  • Durch eine transanale endorektale Durchzugsoperation kann in vielen Fällen eine offene Operation vermieden werden. Mit der transanalen Technik sind geringere postoperative Schmerzen, eine kürzere Phase bis zur enteralen Ernährung und weniger postoperative Adhäsionen zu erwarten.8
  • Hypoganglionäre Übergangssegmente können die Bestimmung des oralen Absetzungsrandes erschweren, hier kann die intraoperative Schnellschnittdiagnostik hilfreich sein.2
  • 2–3 Wochen postoperativ sollte Anastomose auf das Vorliegen von Strikturen überprüft werden.2
  • Häufige Stühle und eine geringfügige perianale Dermatitis sind in der ersten Zeit nach einer transanalen Operation normal, vor allem bei gestillten Kindern.9
  • Die Operation sollte in einem erfahrenen Zentrum durchgeführt werden.2
  • Regelmäßige Folgeuntersuchungen sollten bis ins Erwachsenenalter erfolgen.2
  • Bei totaler Aganglionose kann eine Darmtransplantation notwendig werden.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Darmperforation
  • Eine Hirschsprung-assoziierte Enterokolitis betrifft ca. 15–30 % der Kinder.10-11
    • Dies ist bei Patient*innen mit Morbus Hirschsprung sowohl prä- als auch postoperativ zu beobachten. Das Risiko sinkt mit zunehmendem Alter.
    • Die Erkrankung kann rasch zu einem septischen Bild führen und ohne Behandlung tödlich sein.

Prognose

  • In den meisten Fällen gut, abhängig von der Ausdehnung der Aganglionose
  • Chronische Obstipation oder Inkontinenz können postoperativ persistieren.
  • Bei totaler Aganglionose ungünstig, trotz Darmtransplantation

Verlauf

  • Frühkomplikationen nach Operation: Wundinfektion, Anastomoseninsuffizienz und Ileus
  • Spätkomplikationen nach Operation: Anastomosenstriktur, fortbestehende Enterokolitis (bis 40 %), Inkontinenz (8 %), fortbestehende Obstipation (30 %).4
  • Regelmäßige Verlaufskontrollen sollten erfolgen (1–2/Jahr). Hierbei liegt der Fokus auf Wachstum, Ernährung und Entwicklung.2
  • Die Transition von Kinderärzt*in in die Erwachsenenmedizin sollte gut vorbereitet werden.2

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie. Aganglionose (Morbus Hirschsprung). AWMF-Leitlinie Nr. 006-001. S1, Stand 2016. www.awmf.org
  • European Reference Network for rare inherited and congenital
    digestive disorders. ERNICA guidelines for the management of rectosigmoid Hirschsprung's disease. Stand 2020. ern-ernica.eu

Literatur

  1. Juntao Ke, Ying Zhu. The advances of genetics research on Hirschsprung's disease. Pediatr Investig. 2018; 2: 189-195. pmid:32851260 PubMed
  2. Kyrklund K, Sloots CEJ et al. ERNICA guidelines for the management of rectosigmoid Hirschsprung’s disease. Orphanet Journal of Rare Diseases 2020. ojrd.biomedcentral.com
  3. Moore SW. Total colonic aganglionosis and Hirschsprung's disease: a review . Pediatr Surg Int . 2014; 31: 1-9. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie. Aganglionose (Morbus Hirschsprung). AWMF-Leitlinie Nr. 006-001. S1, Stand 2016. www.awmf.org
  5. Dasgupta R, Langer JC. Hirschsprung disease. Curr Probl Surg 2004; 41: 942-88. PubMed
  6. Wesson DE. Congenital aganglionic megacolon (Hirschsprung disease). UpToDate19.1, 2011. www.darmzentrum-bern.ch
  7. Kressmann J. Hirschsprung’s Disease: Diagnosis and Management. Am Fam Physician. 2006; 15: 1319-1322. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Langer JC, Durrant AC, de la TL et al. One-stage transanal Soave pullthrough for Hirschsprung disease: a multicenter experience with 141 children. Ann Surg 2003; 238: 569-83. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Wester T, Rintala RJ. Early outcome of transanal endorectal pull-through with a short muscle cuff during the neonatal period. J Pediatr Surg 2004; 39: 157-60. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Teitelbaum DH, Coran AG. Enterocolitis. Semin Pediatr Surg 1998; 7: 162-9. PubMed
  11. Coran AG, Teitelbaum DH. Recent advances in the management of Hirschsprung's disease. Am J Surg 2000; 180: 382-7. PubMed

Autor*innen

  • Linda Mandel, Dr. med, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Eggenstein
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit