Kloakenekstrophie

Zusammenfassung

  • Definition:Schwerste Form abdominaler Mittellinienmalformationen, gekennzeichnet durch Omphalozele, Blasenekstrophie und Analatresie. Geht meist mit spinalen Defekten einher.
  • Häufigkeit:Ca. 1/400.000−1/200.000 aller Lebendgeborenen.
  • Befunde:Zusätzlich zu den krankheitsdefinierenden anatomischen Fehlbildungen häufig Nierenfehlbildungen, genitale Anomalien, singuläre Umbilikalarterie, Fehlbildungen des Skeletts, seltener Ösophagusatresie mit tracheooesophagealer Fistel, Duodenalatresie, Chiari-I-Malformation (Verlagerung der Kleinhirntonsillen in den oberen Spinalkanal), Hufeisenniere, Urether-Fehlbildungen.
  • Therapie:Chirurgische Rekonstruktion der ableitenden Harnwege und des Genitals. Ggf. Osteotomie zur Anpassung der Beckenanatomie. Meist sind zur Erhaltung von Kontinenz- und Sexualfunktion weitere Operationen notwendig. Die Behandlung sollte multidisziplinär an einem spezialisierten Zentrum erfolgen.

Allgemeine Informationen

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-5

Definition

  • Als Kloakenekstrophie, auch kloakale Ekstrophie, bezeichnet man einen komplexen kongenitalen Defekt der Abdominalwand, vermutlich aufgrund einer mesodermalen Fehlbildung.
  • Schwerste Form des Ekstrophie-Epispadie-Komplexes (EEC), der wiederum die schwerste Form abdominaler Mittellinien-Malformationen darstellt.6
  • Die anatomischen Leitcharakteristika der Kloakenekstrophie sind:
    • Omphalozele
    • Blasenekstrophie
      • Mit Spaltung der Harnblase in 2 Hemiblasen, die das prolabierte terminale Ileum und das blind endende Kolon flankieren.
    • Analatresie
  • Häufig kommen weitere kongenitale Anomalien hinzu, wie:
    • Spinale Fehlbildungen: Man spricht dann vom OEIS-Komplex.
      • Omphalozele (Nabelschnurhernie)
      • Ekstrophie der Harnblase
      • Imperforate anus (Analatresie)
      • Spinaldefekt
    • Nierenfehlbildungen
    • genitale Anomalien
      • Spaltung oder Atresie von Penis oder Klitoris
      • weit auseinanderklaffende Skrotumhälften oder Labien
      • Hodenretention mit Leistenhernie
      • doppelte Anlage von Uterus oder Vagina
    • singuläre Umbilikalarterie
    • Fehlbildungen des Skeletts, z. B.:
      • Wirbelsäulenanomalien
      • Beckendeformitäten
      • Extremitätenfehlbildungen, z. B. Klumpfuß, hypoplastische oder fehlende Gliedmaßen, Spaltfuß, überzählige Finger
  • In einigen Fällen wurde auch Folgendes beschrieben:3,5
    • Ösophagusatresie mit tracheooesophagealer Fistel
    • Duodenalatresie
    • Chiari-I-Malformation (Verlagerung der Kleinhirntonsillen in den oberen Spinalkanal)
    • Hufeisenniere
    • Urether-Fehlbildungen

Häufigkeit

  • Prävalenz bei Lebendgeborenen ca. 1/400.000–1/200.0003-5
    • In einer internationalen Studie zeigten sich regionale Prävalenzunterschiede:5
      • Gesamtprävalenz: 0,76/100.000 Lebendgeburten (95 % KI: 0,65–0,88)
      • Wales: 2,25/100.000 (95 % KI: 0,73–5,25)
      • Sachsen-Anhalt: 0,84/100.000 (95 % KI: 0,17–2,47)
      • Südamerika: 0,37/100.000 (95 % KI: 0,22–0,60).
    • Wenn man Totgeburten mit einbezieht, scheint die Gesamtprävalenz bei 1/50.000–1/10.000 zu liegen.7
  • Etwa 2/3 aller Kinder mit Omphalozele sind von einer Kloakenekstrophie betroffen.5
  • Genitale Fehlbildungen3
    • doppelte Anlage des Uterus (Uterus bicornis) bei bis zu 95 % der Frauen 
    • doppelte Anlage der Vagina bei ca. 2/3 aller Frauen 
    • Vaginalatresie bei 1/4 bis der Hälfte aller Frauen
    • fehlende äußere Genitalien bei etwa 1/3 der Neugeborenen mit männlichem Karyotyp2
  • Fehlbildungen des oberen Harntrakts: 41–66 % der Betroffenen3
    • Bei etwa 1/3 der Patienten liegen einseitige Nierenagenesie, Beckenniere oder Hydronephrose vor.
  • Spinale Fehlbildungen
    • Eine Form des spinalen Dysraphismus wie Tethered-Cord-Syndrom (angewachsenes Rückenmark), Myelomeningozele (offene Spina bifida), Lipomyelomeningozele kommt bei 64–100% aller Betroffenen vor.
    • Knöcherne Fehlbildungen der Wirbelsäule bei 22–60 % der Betroffenen, z. B.:
      • überzählige Wirbel
      • Skoliose
      • Kyphose.
  • Fehlbildungen der unteren Extremitäten bei 17–26 % der Betroffenen8

Ätiologie

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.6
  • Vermutlich beruhen EEC auf einer gestörten Bildung der dorsalen Kloakalmebran in der frühen Embyonalentwicklung.
    • Dem scheinen sowohl genetische als auch Umweltfaktoren zugrunde zu liegen, die bislang jedoch nicht im Einzelnen identifiziert werden konnten.
  • Bei Geschwistern von EEC-Betroffenen beträgt das Risiko, ebenfalls zu erkranken, 0,3–2,3 %.
  • Die Konkordanzrate ist bei eineiigen Zwillingen 5,6-mal höher als bei zweieiigen.
  • EEC war in Einzelfallberichten mit verschiedenen klinisch relevanten Aberrationen von Auto- oder Gonosomen assoziiert, ohne dass man daraus eine Kausalität ableiten könnte.
  • Hinweise darauf, dass bestimmte Gensignaturen eine Rolle spielen, gekennzeichnet durch eine Überexpression inflammatorischer Gene und Unterexpression von Entwicklungsgenen – u. a. für die Bildung glatter Muskulatur – bedürfen der Überprüfung.

ICD-10

  • Q43.8 Sonstige näher bezeichnete angeborene Fehlbildungen des Darmes

Diagnostik

Pränatal

  • Die pränatale Diagnose eines EEC ist – je nach Schwere des Defekts und Expertise der untersuchenden Person – sonografisch zwischen SSW 15 und SSW 32 möglich.
  • Indexbefund ist, wenn in wiederholten sorgfältigen Ultraschalluntersuchungen eine gefüllte Harnblase nicht vorgefunden wird.
  • Zusätzliche Kriterien sind ein tiefliegender Nabel, ein weiter Ramus pubis, fehlentwickelte Genitalien und tief liegende Abdominalorgane.
  • Sorgfältige Aufklärung der betroffenen Eltern über Behandlungsmöglichkeiten, Verlauf und Prognose der Erkrankung.

Therapie

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,6
  • Die Behandlung sollte von Anfang an durch ein multidisziplinäres Team an einem spezialisierten Zentrum erfolgen.
    • Die erforderlichen operativen Eingriffe sind sehr anspruchsvoll.
      • Für die Lebensqualität des Patienten ist ein gutes Ergebnis – sowohl in funktioneller als auch ästhetischer Hinsicht –entscheidend.
    • Kompetente und altersentsprechende Beratung sowie langjährige persönliche Begleitung der Betroffenen zu den Themen Geschlechtsidentität, Sexualität und Reproduktion sind essenzielle Bestandteile der Behandlung.
  • Wie früh der erste operative Eingriff erfolgen sollte, hängt von der konkreten Situation ab. Eine Kloakenekstrophie per se ist kein Notfall.
    • In der Regel liegt keine ausgeprägte Harnabflussstörung vor, die eine unverzügliche Operation zur Prävention einer Hydronephrose rechtfertigen würde.
    • Ob durch die frühzeitige Entfernung der häufig vorhandenen Blasenpolypen das Risiko für ein Blasenkarzinom gesenkt werden kann, ist kontrovers.6
    • Besonders bei nicht eindeutig zuzuordnendem Geschlecht ist eine sorgfältige Abwägung des operativen Vorgehens notwendig.
    • Der Aufschub einer ersten Operation erscheint in vielen Fällen zur Vermeidung einer psychischen Traumatierung der Betroffenen als sinnvoll, z. B. um die Behandlung des Kindes in Begleitung seiner Eltern an einem spezialisierten Zentrum zu ermöglichen.

Therapieziele

  1. Erhalt der Nierenfunktion durch Beseitigung von Harnabflussstörungen
  2. Harnkontinenz entsprechend dem Entwicklungsstand des Kindes
  3. Erhalt der Sexual- und Fertilitätsfunktionen

Chirurgische Rekonstruktion

  • Funktionelle Rekonstruktion der Blase oder Entfernung der Blasenanlage und Umleitung über einen sigmoidalen Pouch
    • Die Wahl der operativen Vorgehensweise sollte von einem erfahrenen Team getroffen werden.
    • Meist ist ein mehrzeitiges Vorgehen erforderlich.
  • Genitalrekonstruktion
    • Näheres zur Aufklärung und partizipativen Entscheidungsfindung bei nicht eindeutig zuzuordnendem Geschlecht siehe Artikel Intersexualität.
  • Ggf. Osteotomie zur Anpassung der Beckenanatomie

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.3
  • Die Betroffenen benötigen in der Regel mehrere korrigierende Operationen und sind aufgrund ihrer Fehlbildungen zeitlebens mit großen körperlichen, psychischen und sozialen Herausforderungen konfrontiert.

Komplikationen

  • Harnabflussstörungen und Reflux
  • Hodenretention mit Leistenhernie
  • Störungen der Sexualität und Reproduktion 
    • bei Männern z. B. Ejakulations- und Fertilitätsstörungen 
    • bei Frauen z. B. Dyspareunie, Fertilitätsstörungen
    • bei beiden Geschlechtern Beeinträchtigung der Sexualität durch psychosoziale Faktoren
  • Iatrogene Schäden, z. B.:
  • Erhöhtes Risiko für Blasenkarzinome

Prognose

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.3
  • Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Prognose fatal.
    • Alle Betroffenen verstarben bereits im Säuglingsalter an Sepsis sowie an Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Nährstoffdefiziten aufgrund von Kurzdarmsyndrom oder Ileus.
  • Erst mit den Fortschritten der Neonatologie und Kinderchirurgie seit den 1960er Jahren hat sich die Prognose deutlich verbessert.
  • Heute überleben 83–100 % aller Betroffenen.
  • 80 % aller EEC-Patienten erreichen als Kinder Harnkontinenz.
    • Allerdings können nicht alle kontinenten Patienten spontan Wasser lassen.
    • Besonders im weiteren Verlauf ist die Aufrechterhaltung der Miktionsfunktion nur mit spezifischen Therapien möglich, wie Zystoplastie, Selbstkatheterisierung – entweder über die Harnröhre oder über ein Urostoma.
    • Näheres siehe auch Artikel Inkontinenz bei Frauen und Inkontinenz bei Männern.

Quellen

Selbsthilfegruppe

Literatur

  1. Rösch WH, Ebert A, Schott G. Der Blasenekstrophie-Epispadie-Komplex. Neue Ziele – neue Wege? Urologe 2006; 45(Suppl 4): 219-24. doi.org
  2. Selbsthilfegruppe Blasenekstrophie. Phänotypische Beschreibung von Epispadie, klassischer Blasenekstrophie und kloakaler Ekstrophie. Freital, 2015 www.blasenekstrophie.de
  3. Phillips M. Spectrum of cloacal exstrophy. Semin Pediatr Surg. 2011; 20:113-118. PMID: 21453856 PubMed
  4. Woo L, Thomas J, Brock J. Cloacal exstrophy: a comprehensive review of an uncommon problem. J Pediatr Urol. 2010;6:102-111. PMID: 19854104 PubMed
  5. Feldkamp ML, Botto LD, Amar E. Cloacal exstrophy: an epidemiologic study from the International Clearinghouse for Birth Defects Surveillance and Research. Am J Med Genet C Semin Med Genet 2011; 157C: 333-43. PMID: 22002951 PubMed
  6. Ebert AK, Reutter H, Ludwig M, Rösch WH. The exstrophy-epispadias complex. Orphanet J Rare Dis 2009;4:23. PMID: 19878548 PubMed
  7. Keppler-Noreuil KM. OEIS Complex (omphalocele-exstrophy-imperforate anus-spinal defects): A review of 14 cases. Am J Med Genet 2001;99:271-9. PMID: 11251992 PubMed
  8. Jain M, Weaver DD. Severe lower limb defects in exstrophy of the cloaca. Am J Med Genet A 2004;128A:320-4. PMID: 15216556 PubMed

Autor

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg

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