Zusammenfassung
- Definition:Sexuell übertragene urogenitale Infektion mit dem Bakterium Mycoplasma genitalium.
- Häufigkeit:Scheint bei Urethritis, Zervizitis und Pelvic Inflammatory Disease seltener die Ursache zu sein als Chlamydien. M. genitalium ist bei 6–50 % aller infektiösen Urethritiden und bei 10–30 % aller Zervizitiden nachweisbar.
- Symptome:Meist asymptomatischer Verlauf; evtl. urethraler Ausfluss, Dysurie, Unterleibsschmerzen.
- Befunde:Evtl. urethraler Fluor, bei Männern Balanoposthitis.
- Diagnostik:Das Bakterium lässt sich mithilfe eines Nukleinsäureamplifikationstests (NAAT) im Erststrahlurin nachweisen. Evtl. ergänzend: urethraler, vaginaler und zervikaler Abstrich.
- Therapie:Behandlung mit Azithromycin, ggf. gefolgt von Moxifloxacin (Kontraindikationen und Risikoprofil von Fluorchinolonen beachten!). Ersatzmedikament bei Makrolidresistenz: Pristinamycin.
Allgemeine Informationen
- Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4
Definition
- Das Bakterium Mycoplasma genitalium wurde erstmals im Jahr 1980 in Proben aus dem Urogenitaltrakt isoliert und als potenzieller Krankheitserreger erkannt.
- Die Infektion kann sich durch urogenitale Symptome bemerkbar machen, verläuft aber meist asymptomatisch.
Häufigkeit
Gesamtbevölkerung
- Untersuchungen zur Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung, unabhängig von Symptomen, zeigen:5
- Prävalenz 1,3 % in Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen und 3,9 % in Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen
- bei Schwangeren: 0,9 %
Bei Urethritis
- M. genitalium bei 6–50 % aller infektiösen Urethritiden nachweisbar1-2
- 15–20 % aller nicht durch Gonokokken verursachten Urethritiden
- 20–25 % aller nicht durch Chlamydien verursachten Urethritiden
- etwa 30 % aller persistierenden oder rezidiverenden Urethritiden
- Bei Urethritis kann M. genitalium als einziger Erreger vorliegen, oft aber auch in Kombination mit Chlamydien (bei Frauen, bei Männern).1
- In einem norwegischen Labor wurden im Rahmen einer Querschnittsstudie 950 Proben ausgewertet, die von Hausarztpraxen zum Zweck der Chlamydien-Diagnostik eingesendet worden waren. Diese Proben wurden zusätzlich mittels PCR auf Mycoplasma genitalium getestet.6
- Die Prävalenz von M. genitalium lag bei 2,0 % und von Chlamydien bei 10,0 %.
- Bei Männern lag die Prävalenz von M. genitalium und Chlamydien bei 4,0 % bzw. 15,1 %, bei Frauen bei 1,4 % bzw. 8,4 %.
Bei Frauen
- 10–30 % aller Frauen mit den klinischen Zeichen einer Zervizitis1
- 2–22 % (Median 10 %) aller Frauen mit Pelvic Inflammatory Disease (PID)1
- M. genitalium kann vermutlich bei einem Teil der infizierten Frauen eine PID verursachen.
- Das scheint jedoch seltener der Fall zu sein als bei Chlamydien.
- In einer US-amerikanischen Studie wurde bei jungen Frauen (15–25 Jahre) mit asymptomatischer bakterieller Vaginose in 21 % der Fälle Mycoplasma genitalium nachgewiesen.
- Bei 1 von 5 Frauen war das Bakterium nach einem Jahr in der Nachuntersuchung immer noch vorhanden.7
Ätiologie und Pathogenese
- Die Mikroben der Familie Mycoplasmataceae sind primitive Bakterien mit wenigen an biosynthetischen Prozessen beteiligten Genen.
- Das Bakterium findet sich intrazellulär und gehört zu den kleinsten frei lebenden Bakterienformen. Eine Isolierung über die Kultur ist besonders schwierig.8
- Unterscheidet sich von anderen Bakterien durch eine fehlende Zellwand.9 Dies macht es unempfindlich für Penicilline und Cephalosporine.
- Offenbar überträgt sich M. genitalium sexuell genauso effektiv wie Chlamydia trachomatis.10-11
- Heute gilt der Erreger als Ursache für eine sexuell übertragbare Infektion12-13, unabhängig von Chlamydia trachomatis.
Prädisponierende Faktoren
- Sexueller Kontakt mit einer infizierten Person
ICPC-2
- U72 Urethritis
- Y03 Harnröhrenausfluss
- Y75 Balanitis
- X74 Entzündung im weiblichen Becken
- X74 Unterleibsinfektion bei Frauen, andere
ICD-10
- N34 Urethritis und urethrales Syndrom
- N34.1 Unspezifische Urethritis
- N34.2 Sonstige Urethritis
- N34.3 Urethrales Syndrom, nicht näher bezeichnet
- N37.0 Urethritis bei anderweitig klassifizierten Krankheiten
- R36 Ausfluss aus der Harnröhre
- N48 Sonstige Krankheiten des Penis
- N48.1 Balanoposthitis
- N72 Entzündliche Krankheit der Cervix uteri
- N73 Sonstige entzündliche Krankheiten im weiblichen Becken
- N74 Entzündung im weiblichen Becken bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Positiver Nukleinsäureamplifikationstest (NAAT) (PCR oder transkriptionsvermittelte Amplifikation) für Mycoplasma genitalium
- Das Bakterium kann schlecht kultiviert werden.
- Mittlerweile stehen Real-Time-Multiplex-Laborplattformen zur Verfügung, die z. B. die Detektion von C. trachomatis, N. gonorrhoeae und M. genitalium in der selben Probe ermöglichen.3
Differenzialdiagnosen
- Clamydien-Urethritis (Männer, Frauen)
- Gonorrhö
- Unspezifische Urethritis anderer Genese
Anamnese
- Bei Frauen
- M.-genitalium-Infektionen sind bei Frauen meist asymptomatisch.1
- Eine pathogene Potenz des Erregers ist bei Frauen weniger gut belegt als bei Männern.1
- M. genitalium wurde bei Frauen mit den Symptomen einer Urethritis und Zervizitis gehäuft nachgewiesen10,14-16, ebenso bei Frauen mit Pelvic Inflammatory Disease.1
- Unter Prostituierten wurde eine hohe Prävalenz nachgewiesen, und eine anhaltende Infektion mit M. genitalium ist Ausdruck dafür, dass es sich hier um eine sexuell übertragbare Infektion handelt.17
- Infizierte Frauen geben an, einen erhöhten vaginalen Ausfluss zu haben; mögliche Indikatoren sind die Häufigkeit von Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs und ein stärkerer Geruch des Vaginalsekrets.18
- Vorläufig ist ein Zusammenhang zwischen M. genitalium und einer Infektion des oberen Genitaltrakts mit evtl. Spätfolgen wie Infertilität und chronischen Beckenschmerzen nicht zufriedenstellend belegt.
- Bei Männern
- Eine Infektion mit M. genitalium kannUrethritis-Symptome wie Dysurie und Ausfluss verursachen.19
- Die Erkrankung kann ebenso zu einer chronischen/persistierenden/rezidivierenden Urethritis führen.20
- Es ist unbekannt, in welchem Ausmaß M. genitalium zu Komplikationen wie Epididymitis21, Prostatitis22 und reaktive Arthritis23 führen kann.
Klinische Untersuchung
- Evtl. urethraler Ausfluss (siehe auch Artikel Harnröhrenausfluss bei Männern)
- Bei Männern typischerweise Entzündung von Eichel und Vorhaut (Balanoposthitis)4
- Evtl. vaginaler Ausfluss, wobei Mykoplasmen äußerst selten für vaginalen Ausfluss verantwortlich sind. Diese sollten aber bei therapieresistentem vaginalen Ausfluss als Ursache erwogen werden.
Ergänzende Untersuchungen
- Ein Chlamydien-NAAT und evtl. Gonorrhö-Kultur sollten zuerst durchgeführt werden.
- Nachweis von M. genitalium
- NAAT
- verwendbares Probenmaterial
- Erststrahlurin
- Urethralabstrich
- Vaginalabstrich
- Zervixabstrich (bei Frauen höhere diagnostische Sensitivität im Vergleich zur alleinigen Urinuntersuchung)24
- Endometriumbiopsie
- Kultur ist ungeeignet.
- Eine Resistenztestung ist bislang nur in wenigen Speziallabors möglich und ist nicht im Leistungskatalog der GKV enthalten (Stand Oktober 2019).3
- Indikation
- Symptome und Beschwerden in Zusammenhang mit einer Urethritis/Zervizitis/PID, vor allem bei Persistenz oder Wiederkehren der Symptome1
- Mituntersuchung und ggf. -behandlung von Sexualpartner*innen25
- bei symptomatischer Infektion alle Sexualpartner*innen der letzten 8 Wochen
- bei asymptomatischer Infektion alle Sexualpartner*innen der letzten 6 Monate
- Versand
- über ein Chlamydien-Transportmedium
- Weitere Untersuchung
- ggf. Basislabor, z. B. Entzündungsparameter
Therapie
Therapieziel
- Mikroben eliminieren.
Allgemeines zur Therapie
- Klinische Erfahrungen und Studien haben gezeigt, dass Azithromycin eine bessere Wirkung als Doxycyclin und Erythromycin in der Eliminierung von M. genitalium hat12,26-27, aber eine einmalige Dosis Azithromycin kann erwiesenermaßen auch eine Resistenz induzieren.
Medikamentöse Therapie
Warnhinweis Fluorchinolone
- Für Fluorchinolone (z. B. Moxifloxacin) wurden von der Europäischen Arzneimittel-Agentur Anwendungsbeschränkungen empfohlen: Besondere Vorsicht bei Älteren und bei Patient*innen mit Nierenfunktionseinschränkung. Keine Kombination mit Kortikosteroiden. Nicht empfohlen als Mittel der 1. Wahl zur Behandlung leichter und mittelschwerer Infektionen.28
Urethritis und Zervizitis4,29
- Azithromycin: 1 x 500 mg am 1. Tag, danach 250 mg x 1 an den Tagen 2–5
- Die Kontrolle wird nach 3–5 Wochen empfohlen.
- Bei positivem NAAT für M. genitalum 4–5 Wochen nach der Behandlung mit Azithromycin:
- Moxifloxacin 400 mg Tabletten x 1 über 7–10 Tage3
- Doxycyclin, die 1. Wahl bei einer unspezifischen Urethritis, führt im Vergleich zu Azithromycin zu einem häufigeren Behandlungsversagen.30
- Eine Studie aus den Niederlanden zeigt, dass 30 % der Bakterien makrolide Resistenzmutationen im 23sRNA-Gen entwickeln, dies wird in einigen Fällen mit einem Behandlungsversagen gegenüber Makroliden assoziiert.31
- International rasch zunehmende Resistenzen gegen Azithromycin und Moxifloxacin nachweisbar32
- Einziges Reservemedikament bei multiresistenten Erregern: Pristinamycin (in Deutschland nur über die Auslandsapotheke erhältlich) (Stand Oktober 2019)3
Pelvic Inflammatory Disease (PID)1
- Die bei PID empfohlenen Standardmedikamente sind gegen M. genitalium unwirksam.
- Bei Patientinnen, die nach 7–10 Tagen nicht auf die Standardtherapie ansprechen, ist ein NAAT auf M. genitalium zu erwägen.
- Bei Erregernachweis: Moxifloxacin 400 mg x 1 über 14 Tage
- Allerdings ist ein Nutzen der M.-genitalium-Diagnostik und Therapie bei PID-Patientinnen nicht durch geeignete Studien belegt.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Der natürliche Verlauf einer Infektion mit M. genitalium ist unzureichend untersucht.32
- Wahrscheinlich sind viele Infizierte asymptomatisch.
- Am häufigsten kommt es zu einer akuten Urethritis, aber es wurde dokumentiert, dass die Erkrankung chronisch oder rezidivierend sein kann.
Komplikationen
- Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
- Epididymitis und Prostatitis?
- Endometritis/Salpingitis und Fertilitätsstörungen?
- Erhöhtes Risiko für Schwangerschaftskomplikationen und ektope Schwangerschaften?
- Pelvic Inflammatory Disease (siehe Abschnitt Häufigkeit/Bei Frauen)
- Reaktive Arthritis?3
Prognose
- Gute Prognose bei adäquater Behandlung
- Mit der zunehmenden Entwicklung von Makrolid-Resistenzen steigt die Rate persistierender Infektionen.1,3
Nachbeobachtung
- Die Nachkontrolle mit erneuter Urinuntersuchung und Zervix-/Vaginaluntersuchung sollte 3–5 Wochen nach der Behandlung erfolgen.4
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
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Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).