Zusammenfassung
- Definition:Anteriorer Knieschmerz durch Dysfunktion des Patellofemoralgelenks.
- Häufigkeit:Vor allem junge, weibliche Patienten. 10 % aller Knieschmerzen in Hausarztpraxis.
- Symptome:Diffuse Knieschmerzen bei Aktivitäten wie Laufen, Springen, Treppengehen, Kniebeugen oder in Hocksitzstellung.
- Befunde:Häufig dynamische Valgisierung des Kniegelenks und Pes valgus.
- Diagnostik:Klinische Ausschlussdiagnose.
- Therapie:Konservative Therapie mit Physiotherapie, Entlastung, Taping und Orthesen.
Allgemeine Informationen
Definition
- Synonym: „anteriorer Knieschmerz“
- Retropatellare und/oder peripatellare Schmerzen, bei denen mittels körperlicher Untersuchung oder Bilddiagnostik keine exakte schmerzauslösende Struktur feststellbar ist.
- keine pathologischen Veränderungen oder Verletzungen des Knorpels im Patellofemoralgelenk (Chondromalazie)1
- Das patellofemorale Schmerzsyndrom (PFS) ist somit eine Ausschlussdiagnose.
Häufigkeit
- In der Hausarztpraxis ca. 10 % aller Patienten mit Knieschmerzen2
- Die häufigste sportmedizinische Knieerkrankung3-4
Anatomie und Biomechanik
- Patellofemoralgelenk setzt sich aus Patella und Trochlea femoris zusammen.
- Die Patella dient als Hypomochlion (Widerlager des Hebelarms der Quadrizepssehne).
- Der Kontakt zwischen Patella und Femur beginnt bei einer Flexion von ca. 20 Grad und nimmt mit weiterer Kniebeugung zu. Das Maximum ist bei 90 Grad erreicht.
- Die Stabilität des Patellofemoralgelenks hängt von dynamischen und statischen Stabilisatoren ab, die das Gleiten der Patella in der Trochlea kontrollieren und als Patellaführung („Patellar Tracking“) bezeichnet werden.
- dynamisch: Muskulatur
- statisch: knöcherne Anatomie, patellofemorale Ligamente
- Die Patellaführung kann sich durch ein Ungleichgewicht dieser stabilisierenden Kräfte verändern.
- veränderte Kräfteverteilung entlang der patellofemoralen Gelenkoberfläche
- Auf die Patella wirkenden Kräfte
- normales Gehen: zwischen 1/3 und der Hälfte des Körpergewichts
- Treppensteigen: mehr als das 3-fache Körpergewicht
- Hocken: 7-faches Körpergewicht
- Veränderungen in der Patellaführung sind wahrscheinlich Auslöser des patellofemoralen Schmerzsyndroms und daher der Fokus in der Behandlung.
Ätiologie und Pathogenese
- Vermutlich multifaktorielle Dysfunktion des Patellofemoralgelenks7
- veränderte Führung der Patella und damit erhöhte Kompressionskräfte8-9
- Besonders hohe Kompressionskräfte bei Valgisierung des Kniegelenks mit Lateralisierung der Patella10
- Auslöser für dynamische Valgus-Fehlstellung
- neuromuskuläre Dysfunktion der Oberschenkelmuskulatur mit verzögerter Aktivierung des M. gluteus medius im Vergleich zum Vastus medialis des M. quadriceps11-12
- muskuläre Dysbalance mit zu schwachem Vastus medialis im Vergleich zum Vastus lateralis13
- Innenrotation des Femurs durch Schwäche der Hüftabduktoren10
- Innenrotation der Tibia durch Pes valgus (Hyperpronation)14
- Quadrizepskontrakturen, häufig als Folge von unteren Rückenbeschwerden, verstärken ebenfalls die Kompressionskräfte („Knee-Spine Syndrome“).15
- Ein verkürzter Tractus iliotibialis führt zu Lateralisierung der Patella.
Begünstigende Faktoren
- Patienten mit hoher psychischer Belastung haben ein erhöhtes Risiko für einen prolongierten Verlauf.16
ICPC-2
- L87 Bursitis/Tendinitis/Synovitis NNB
ICD-10
- M22.2 Krankheiten im Patellofemoralbereich
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Typische Anamnese und typischer klinischer Befund
- Ausschlussdiagnose
- funktionelle Beschwerden ohne strukturelle Schäden
Differenzialdiagnosen
- Patellaspitzensyndrom
- Iliotibiales Friktionssyndrom (Läuferknie)
- Meniskusverletzung
- Bursitis praepatellaris
- Morbus Sinding-Larsen
- M. Osgood-Schlatter
- Plica-Syndrom
- Tumoren (Osteosarkom, Ewing-Sarkom)
- Hüfterkrankungen bei Kindern
Anamnese
- Anteriore Knieschmerzen, die bei Aktivitäten wie Laufen, Springen, Treppensteigen, Kniebeugen oder Hockstellungen auftreten.
- Schmerzen
- Normalerweise entwickelt sich das Schmerzsyndrom allmählich.
- Lokalisation peripatellar
- am stärksten bei Gewichtsbelastung
- Abwärtsgehen oder -laufen (Treppen, bergab), aber auch beim Treppenaufwärtssteigen
- Hocken, aus der Hocke aufstehen.
- Langes Sitzen mit angewinkelten Beinen, z. B. Autofahrt, führt zu Schmerzen.
- Pseudoblockaden
- Steifigkeitsgefühl bei Extension des belasteten Knies
- Steifigkeit nach langdauernder Flexion des Kniegelenks
- Gefühl, dass das Knie versagt.17
- Gefühl einer Schwellung
- Häufig mit der Zeit bilaterales Auftreten
Klinische Untersuchung
Inspektion
- Das ganze entblößte Bein im Seitenvergleich untersuchen.
- Achsfehlstellungen?
- Muskelatrophien, speziell Vastus medialis des M. quadriceps?
- Hyperpronation im Sprunggelenk?
- Quadrizepsmuskulatur
- Atrophie Vastus medialis des M. quadriceps?
Palpation
- Schwellung im Kniegelenk?
- Spricht gegen PFS.
- Schmerz lokalisierbar?
- oft Schmerzen bei Kompression des kranialen Teils der Patella gegen den Femur
- Bei Krepitationen subpatellar möglicherweise Knorpelschaden, spricht gegen PFS.
- Schmerzen bei Palpation entlang des lateralen oder medialen Patellarands
- oft Schmerzen bei Kompression des kranialen Teils der Patella gegen den Femur
Beweglichkeit der Knie- und Hüftgelenke
- Beim PFS in der Regel normal
- Schmerzen bei Innen- und Außenrotation des Hüftgelenks können auf übertragene Schmerzen aus dem Hüftgelenk hinweisen.
Spezielle Tests
- J-Zeichen17
- Knie wird in 90-Grad-Beugung gebracht, dann langsame Extension.
- Bei Dysbalance der stabiliserenden Strukturen wandert die Patella nach lateral bei Extension.
- Untersuchung auf dynamische Valgisierung
- Einbeinige Kniebeuge durchführen lassen.
- Patient fühlt sich unsicher und knickt mit dem Knie nach medial weg (Valgisierung).10
- Hinweis auf Schwäche der Hüftabduktoren
- Trendelenburg-Zeichen
- Einbeinstand auf betroffener Seite
- Absinken der Hüfte auf der Gegenseite zeigt Insuffizienz der Hüftabduktoren an.
- bei Insuffizienz Innenrotation des Femurs und vermehrte patellofemorale Kompression
Diagnostik beim Spezialisten
- Klinische Diagnose ohne Bildgebung1
- Indikation für Bildgebung
- Z. n. Trauma
- Knieschwellung
- Unsicherheit der Diagnose
- kein Ansprechen auf konservative Therapie
Indikationen zur Überweisung
- Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose Überweisung an Orthopäden
Checkliste zur Überweisung
Weichteilerkrankung, einschließlich vorderer Knieschmerzen und Patellainstabilität
- Zweck der Überweisung
- Diagnostik? Operation? Sonstiges?
- Anamnese
- Beginn und Dauer? Trauma oder Überbeanspruchung? Evtl. Traumamechanismus beschreiben. Verlauf und Entwicklung? Anhaltende Beschwerden?
- Lokalisation der Schmerzen? Schmerzauslösende Situationen? Schwellung? Blockaden? Instabilität? Beidseitig?
- Andere relevante Krankheiten?
- Regelmäßige Medikamente?
- Konsequenzen: Funktionsverlust? Arbeitsunfähigkeit?
- Klinische Untersuchung
- Lokalisation der Schmerzen? Schwellungen? Gehvermögen: subtalare Pronation? J-Zeichen?
- Lokale Befunde? Palpation entlang der Patella: Schmerzhaft? Beweglichkeit der Knie- und Hüftgelenke?
- Hinweis auf Dysbalancen?
- Ergänzende Untersuchungen
- Sind normalerweise nicht erforderlich, evtl. Röntgen.
Therapie
Therapieziele
- Entlastung und Bewegungsübungen
Allgemeines zur Therapie
- Konservative Therapie mit Entlastung, Physiotherapie, Orthesen und Taping
- In der Regel kein operatives Vorgehen
- Prospektiv-randomisierte Studie zeigte keine Überlegenheit einer Arthroskopie mit Physiotherapie gegenüber Physiotherapie allein.18
- Bei Sportlern wird eine Anpassung des Trainingsprogramms empfohlen.19
Empfehlungen für Patienten
- Entlastung ist der erste Schritt in der Behandlung zur Linderung der Schmerzen.
- Alternativen sportlichen Aktivitäten wie Radfahren oder Schwimmen den Vorzug gegenüber Laufen geben.
- Eis oder andere Methoden zur Kühlung können die Beschwerden lindern.
Weitere konkrete Empfehlungen
- Vermeidung bestimmter Bewegungen
- Hockstellungen
- Laufen auf hartem Untergrund
- Radfahren mit niedrigem Sitz
- Langes Sitzen mit angewinkelten Beinen
Medikamentöse Therapie
- NSAR in Meta-Analyse nur in 1. Woche mit leichter Schmerzlinderung20
- keine Daueranwendung empfohlen
Andere Behandlungen
- Physiotherapie
- Individuelles Reha-Programm ist die wichtigste therapeutische Maßnahme.21-22
- Korrektur ungleicher Belastungen auf die Patella z. B. durch Kräftigung des Quadrizeps23 (insbesondere des Vastus medialis) und der Glutealmuskulatur und auf die Lockerung straffer lateraler Strukturen (z. B. Tractus iliotibialis).
- Übungen zur Kräftigung der Hüftabduktoren und -außenrotatoren, um eine Innenrotation des Femurs zu vermeiden.24
- Taping der Patella
- Tape mit nach medial gerichteten Zugkräften sorgt für eine signifikante Schmerzlinderung.25
- Orthesen für Knie- oder Sprunggelenk
- Medialisierung der Patella bzw. Verhinderung einer Hyperpronation im Sprunggelenk
- Es gibt bisher keine qualitativ hochwertige Studien, aber vermutlich positiver Effekt.10
- Arthroskopie
- Erfolgt nur in Ausnahmefällen, wenn ein Rehabilitationsprogramm über 6–12 Monate durchgeführt wurde, ohne eine Verbesserung zu erzielen.
- Meistens handelt es sich bei diesen Fällen nicht um ein PFS, sondern um eine übersehene strukturelle Verletzung.
- Erfolgt nur in Ausnahmefällen, wenn ein Rehabilitationsprogramm über 6–12 Monate durchgeführt wurde, ohne eine Verbesserung zu erzielen.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Chronisch erhöhte Kompressionskräfte zwischen Patella und Femur können auf lange Sicht eine Chondromalazie verursachen.5
- Chronische Schmerzen
Verlauf und Prognose
- Je länger die Beschwerden bis zur Einleitung einer Therapie vorliegen, desto höher ist das Risiko für einen prolongierten Verlauf.26
- Alter, Geschlecht und BMI haben keinen Einfluss auf die Prognose.26
- Insgesamt unter adäquater konservativer Therapie ist die Prognose sehr gut.5
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Illustrationen
Quellen
Literatur
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Autoren
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
- Arild Aamodt, overlege/professor, Ortopedisk avdeling, Lovisenberg Sykehus, Oslo
- Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, Institutt for samfunnsmedisinske fag, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet, Trondheim