Thyreotoxische Krise

Zusammenfassung

  • Definition:Lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisung auf dem Boden einer nicht bekannten oder nicht suffizient behandelten Hyperthyreose (M. Basedow, funktionelle Autonomie), häufig ausgelöst durch hohe Jodzufuhr, physischen oder psychischen Stress.
  • Häufigkeit:Inzidenz von 0,8–1,4 Fällen pro 100.000 Einw.
  • Symptome:Leitsymptome sind myasthenische Muskelschwäche, kardiovaskuläre Symptome (z. B. Palpitationen und Tachykardien) sowie Hyperthermie und zentralnervöse Symptomatik (Verwirrung, Unruhe, Bewusstseinsverlust).
  • Befunde:Es können evtl. Struma, Handtremor, feuchte und warme Haut, kognitive Veränderungen und Bewusstseinsverlust vorliegen.
  • Diagnostik:Klinische Diagnose, da die Schilddrüsenwerte bei einer thyreotoxischen Krise vergleichbar sind mit einer unkomplizierten Thyreotoxikose.
  • Therapie:Intensivmedizinische Therapie mit Hemmung eines jeden pharmakologisch angehbaren Schritts in der Schilddrüsenhormonproduktion und -wirkung; ggf. notfallmäßige Thyreoidektomie.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Eine thyreotoxische Krise gehört zu den seltenen, aber lebensbedrohlichen endokrinen Notfallsituationen auf dem Boden einer dekompensierten Thyreotoxikose.1
  • Eine thyreotoxische Krise wird meist durch übermäßige Einnahme von Schilddrüsenhormonen, exzessive Jodzufuhr (z. B. Kontrastmittel, Amiodaron), Infektionen oder chirurgische Eingriffe bei Patient*innen mit nicht diagnostizierter oder nicht adäquat behandelter Hyperthyreose ausgelöst.2
  • Die Genese der zugrunde liegenden Hyperthyreose ist dabei unterschiedlich.3-4
    • Der Morbus Basedow ist die häufigste Ursache der Schilddrüsenüberfunktion bei jüngeren Menschen und Kindern.
    • Das autonome Adenom bzw. die disseminierte funktionelle Autonomie tritt eher im höheren Alter auf.
    • Thyreoiditis (z. B. Threoiditis de Quervain, M. Hashimoto) führt fast nie zu einer thyreotoxischen Krise.5

Häufigkeit

  • Selten; Inzidenz zwischen 0,81,4 Fällen pro 100.000 Einw.6
  • Muss aber vor Operationen, vor einer Bildgebung mit jodhaltigem Kontrastmittel und vor Beginn einer Amiodaron-Therapie immer bedacht werden.

Auslösende Faktoren

  • Auslösende Faktoren sind in der Regel mit psychischem oder physischem Stress verbunden, z. B.:
    • Infektionen
    • chirurgische Eingriffe
    • Traumata
    • Untersuchungen mit jodhaltigen Röntgenkontrastmitteln
    • Hypoglykämie
    • diabetische Ketoazidose
    • Radiojodtherapie
    • Einnahme von Schilddrüsenhormonen oder Amiodaron.

ICPC-2

  • T85 Hyperthyreose / Thyreotoxische Krise

ICD-10

  • E05.5 Thyreotoxische Krise

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose stützt sich ausschließlich auf klinische Kriterien, da die Schilddrüsenwerte bei einer thyreotoxischen Krise vergleichbar sind mit einer unkomplizierten Thyreotoxikose.1
  • Unterstützend kann die Burch-Wartofsky-Punkte-Skala verwendet werden, um die Wahrscheinlichkeit für eine thyreotoxische Krise abzuschätzen.1
  • Bei Patient*innen mit bekannter Hyperthyreose ist stets zu prüfen, ob es sich bei Fieber um ein Symptom einer beginnenden thyreotoxischen Krise handelt.
    • Demgegenüber sollte bei einer mit Thyreostatika behandelten Hyperthyreose bei Fieber auch an die seltene Nebenwirkung einer Agranulozytose gedacht werden.
  • Die Stadieneinteilung des Schweregrads erfolgt nach Herrmann.7

Differenzialdiagnosen

  • Hyperthyreose, kontrolliert
  • Maligne Hyperthermie
  • Andere akute Stoffwechselentgleisungen

Burch-Wartofsky-Punkte-Skala

  • Hohe Sensitivität, aber limitierte Spezifität1,8
    • Kann die klinische Diagnose nur unterstützen, aber nicht beweisen.

Kriterien – Punktevergabe anhand definierter klinischer Parameter

  1. Körpertemperatur
    • 37,2–37,7 °C: 5 Punkte
    • 37,8–38,2 °C: 10 Punkte
    • 38,3–38,8 °C: 15 Punkte
    • 38,9–39,3 °C: 20 Punkte
    • 39,4–39,9 °C: 25 Punkte
    • > 40 °C: 30 Punkte
  2. Herzfrequenz
    • 100–109: 5 Punkte
    • 110–119: 10 Punkte
    • 120–129: 15 Punkte
    • 130–139: 20 Punkte
    • ≥ 140: 25 Punkte
  3. Vorhofflimmern
    • nein: 0 Punkte
    • ja: 10 Punkte
  4. Herzinsuffizienz
    • nein: 0 Punkte
    • mild: 5 Punkte
    • moderat: 10 Punkte
    • schwer: 20 Punkte
  5. Gastrointestinale/hepatische Dysfunktion
    • nein: 0 Punkte
    • moderat (Diarrhö, Abdominalschmerzen, Übelkeit, Erbrechen): 10 Punkte
    • schwer (Ikterus): 20 Punkte
  6. Zentralnervöse Symptome
    • nein: 0 Punkte
    • mild (Agitiertheit): 10 Punkte
    • moderat (Delir, Psychose, extreme Lethargie): 20 Punkte
    • schwer (Krampfanfall, Koma): 30 Punkte
  7. Auslösender Faktor nachweisbar
    • nein: 0 Punkte
    • ja: 10 Punkte

Auswertung

  • ≥ 45 Punkte: hochgradiger Verdacht auf thyreotoxische Krise
  • 25–45 Punkte: Verdacht auf drohende thyreotoxische Krise
  • < 25 Punkte: thyreotoxische Krise unwahrscheinlich

Stadieneinteilung nach Herrmann

  • Stadium 1
    • Tachykardie, Arrhythmien, Hyperthermie, Adynamie, Diarrhö, Dehydratation, Tremor, Unruhe, Agitation, Hyperkinesie, ggf. erhöhte Schilddrüsenhormonspiegel
  • Stadium 2
    • Symptome des Stadiums 1, zusätzlich Desorientierung, Somnolenz, Stupor oder Psychose
  • Stadium 3
    • Symptome des Stadiums 1 und Koma
  • Zusatz a: Alter Patient*in < 50 Jahre
  • Zusatz b: Alter Patient*in > 50 Jahre

Anamnese

Klinische Untersuchung

  • Leitsymptome für eine thyreotoxische Krise sind myasthenische Muskelschwäche, kardiovaskuläre Symptome (z. B. Palpitationen und Tachykardien) sowie Hyperthermie und zentralnervöse Symptomatik (Verwirrung, Unruhe, Bewusstseinsverlust).1,9
    • Generell weisen die Patient*innen eine Verstärkung der klassischen Symptome einer schweren Hyperthyreose auf.
  • Struma?
  • Handtremor
  • Feuchte und warme Haut
  • Anzeichen einer Dehydrierung?

Labor

  • Typisch: supprimiertes TSH, erhöhtes freies Thyroxin (FT4), erhöhtes freies Trijodthyronin (FT3)
    • Cave: Periphere Schilddrüsenhormone können auch normwertig sein!1
  • Als weitere auffällige, aber unspezifische Laborbefunde können eine leichte Hyperglykämie, eine Hyperkalzämie, erhöhte Transaminasen, eine Leukozytose oder eine Leukopenie vorliegen.10
  • Jodausscheidung im Urin bestimmen (Hinweis auf exzessive Jodzufuhr als Ursache).5

Indikation zur Klinikeinweisung

  • Bei Verdacht auf eine thyreotoxische Krise sollten die Patient*innen umgehend stationär eingewiesen werden.3

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Die thyreotoxische Krise erfordert stationär eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, eine intensivmedizinische Versorgung ist notwendig.
  • Die aggressive Therapie einer thyreotoxischen Krise stützt sich neben der supportiven intensivmedizinischen Therapie sowie der Behandlung der auslösenden Ursache/der zugrunde liegenden Erkrankung auf die Hemmung eines jeden pharmakologisch angehbaren Schritts in der Schilddrüsenhormonproduktion und -wirkung.1
  • Mittelfristig ist eine definitive Therapie mittels Operation oder Radiojodtherapie bei Patient*innen mit Autonomie und konservativ nicht beherrschbaren Fällen eines M. Basedow erforderlich.6
  • Bei einer jodinduzierten Entgleisung (Amiodaron, Kontrastmittel) sind häufig hohe Thyreostatikadosen notwendig, und eine OP-Indikation ist ggf. frühzeitig zu stellen.5

Medikamentöse Therapie

1. Blockade der Schilddrüsenhormonsynthese und -sekretion1

  • Hemmung der Synthese von Schilddrüsenhormonen durch Thyreostatika
  • Hemmung der Iodidaufnahme in die Schilddrüse
    • Natrium-Perchlorat (Irenat) 1.200–2.000 mg/d
  • Hemmung der Freisetzung von Schilddrüsenhormonen
    • Lugolsche Lösung (5-prozentige Kaliumjodidlösung) 10 Tropfen p. o. alle 8 h
      • Gabe frühestens 1 h nach der Erstgabe des Thyreostatikums
    • Hohe Joddosen können die für die Sekretion verantwortlichen Schilddrüsenrezeptoren blockieren.
    • Cave: Diese Maßnahme ist in Jodmangelgebieten wie Zentraleuropa zurückhaltend einzusetzen.6
      • Verstärkung der Hyperthyreose durch die hoch dosierte Jodzufuhr möglich
    • Ein weiterer Nachteil der Behandlung besteht darin, dass sie die spätere Behandlung mit Thionamiden und Radiojod sowie die Vorbehandlung für operative Eingriffe erschwert.
  • Hemmung des enterohepatischen Kreislaufs der Schilddrüsenhormone
    • Colestyramin 4 g alle 8 h
  • Notfall-Thyreoidektomie
    • Die beste Möglichkeit, die Schilddrüsenhormone zu normalisieren.
    • bei schweren Verläufen und Versagen der konservativen Therapie

Rote-Hand-Brief für Thyreostatika

  • Ein Rote-Hand-Brief vom 06.02.2019 enthält zwei Warnhinweise bezüglich Carbimazol- und Thiamazol-haltigen Arzneimitteln:  
  1. Es liegen Fallberichte über das Auftreten einer akuten Pankreatitis nach Behandlung mit Carbimazol- oder Thiamazol-haltigen Arzneimitteln vor.
    • Bei Auftreten einer akuten Pankreatitis sollte die Behandlung mit diesen Arzneimitteln sofort beendet und jede erneute Exposition vermieden werden.
  2. Carbimazol- und Thiamazol-haltige Arzneimittel stehen im Verdacht, angeborene Fehlbildungen zu verursachen, wenn sie während der Schwangerschaft und insbesondere im 1. Trimenon und in hoher Dosierung verabreicht wurden.
    • Frauen im gebährfähigen Alter müssen während einer Behandlung mit diesen Arzneimitteln eine wirksame Methode der Kontrazeption anwenden.
    • Diese Arzneimittel dürfen in der Schwangerschaft nur nach strenger individueller Nutzen-Risiko-Bewertung, in der niedrigst möglichen Dosierung und ohne zusätzliche Schilddrüsenhormone angewendet werden.

2. Behandlung der allgemeinen Symptome (supportive Maßnahmen)

  • Plasmapherese5
    • variable Effektivität bei hohen Kosten
  • Hochkalorische parenterale Ernährung1
  • Rehydrierung
    • intravenöse Flüssigkeitsgabe, insbesondere bei hohem Fieber
  • Evtl. frühzeitige Beatmung, v. a. bei beginnenden zentralnervösen Symptomen mit Schluckstörung und Koma und/oder bei Lungenstauung1
  • Überwachung der Vitalparameter und Diurese
  • Thrombembolieprophylaxe
  • Medikamentöse Fiebersenkung
  • Bei Herzinsuffizienz Digitalisierung5

3. Blockierung der peripheren Wirkung der Schilddrüsenhormone

  • Betarezeptorenblocker
    • Propranolol 1 mg/min i. v. bis max. 10 mg/d1
      • alternativ 60–80 mg oral alle 4–6 Stunden
    • Wirkprinzip von Propranolol: Hemmung der peripheren Konversion von T4 in das aktivere T3 und Blockierung des Beta-Adrenozeptors
  • Propylthiouracil und Glukokortikoide
    • Startdosis 300 mg Hydrokortison, Erhaltungsdosis 100 mg alle 8 h1
    • Die Wirkung beruht hier ebenfalls auf der Hemmung der peripheren Umwandlung von T4 in T3.

4. Behandlung der auslösenden Ursachen

  • Die auslösende Ursache sollte diagnostiziert und angemessen behandelt werden (z. B. Antibiose bei Infekt).
  • Nach Abklingen der akuten Hyperthyreose definitive Beseitigung der Ursache5
    • Operation
    • Radiojodtherapie

Prophylaxe der jodinduzierten Hyperthyreose vor Röntgenkontrastmittelgabe

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.5
  • Bei latenter Hyperthyreose und/oder Knotenstruma:
  • Perchlorat
    • 500 mg (25 Trp.) 2–4 h vor Kontrastmittelgabe
    • 500 mg (25 Trp.) 2–4 h nach Kontrastmittelgabe
    • dann 3 x 300 mg (15 Trp.) über 7–14 Tage – oder –
  • Thiamazol 
    • 20 mg/d p. o. über 7–14 Tage

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Häufig dramatischer Verlauf
  • Die meisten Patient*innen, die eine thyreotoxische Krise überleben, zeigen bei adäquater Therapie eine rasche Stabilisierung innerhalb der ersten 24 h.1

Komplikationen

  • Thromboembolische Komplikationen treten häufig auf und tragen zur hohen Mortalität der thyreotoxischen Krise bei.1
  • Myokardinfarkt durch erhöhten myokardialen Sauerstoffbedarf bei Tachykardie1

Prognose

  • Die Letalität ist hoch und liegt bei 10–30 %.11

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Hyperthyreose. AWMF-Leitlinie Nr. 027-041. S1, Stand 2011. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Angeborene Hyperthyreose. AWMF-Leitlinie Nr. 027-042. S1, Stand 2011. www.awmf.org

Literatur

  1. Spitzweg C, Reincke M, Gärtner R. Schilddrüsennotfälle. Der Internist 2017; 58: 1011-9. link.springer.com
  2. Lee SL. Hyperthyroidism. Medscape, last updated Oct 19, 2020. emedicine.medscape.com
  3. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Hyperthyreose. AWMF-Leitlinie Nr. 027-041. S1, Stand 2011. www.awmf.org
  4. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Angeborene Hyperthyreose. AWMF-Leitlinie Nr. 027-042. S1, Stand 2011. www.awmf.org
  5. Universitätsklinikum Freiburg. Praktisches Vorgehen bei thyreotoxischer Krise. Letzter Zugriff 13.11.2020. www.uniklinik-freiburg.de
  6. Dietrich JW. Thyreotoxische Krise. Med Klin Intensivmed Notfmed 2012; 107: 448-53. link.springer.com
  7. Herrmann J. Neuere Aspekte in der Therapie der thyreotoxischen Krise. Stuttgart: Thieme, 1978.
  8. Burch HB, Wartofsky L. Life-threatening thyrotoxicosis. Thyroid storm.. Endocrinol Metab Clin North Am 1993; 22: 263–277. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Ngo SY, Chew HC. When the storm passes unnoticed--a case series of thyroid storm. Resuscitation 2007;73(3):485 . PubMed
  10. Nayak B, Burman K. Thyrotoxicosis and thyroid storm. Endocrinol Metab Clin North Am 2006;35(4):663. PubMed
  11. Akamizu T, Satoh T, Isozaki O, et al. Diagnostic criteria, clinical features, and incidence of thyroid storm based on nationwide surveys. Thyroid 2012;22(7):661 . PubMed

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Caroline Beier, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit