Therapiebegrenzung

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.1-5
  • Der medizinische Fortschritt erweitert die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten stetig. Umso wichtiger wird das Verständnis dafür, dass nicht alles medizinisch Machbare klinisch indiziert ist und nicht jede indizierte medizinische Behandlung von den Patient*innen gewünscht wird.
  • Therapiebegrenzung auf Wunsch der Erkrankten ist rechtlich bindend (Patientenrechtegesetz).6
  • Das Thema Therapiebegrenzung ist von besonderer Tragweite in den Grenzsituationen menschlichen Lebens, etwa in der Intensiv-, Palliativ- und Altersmedizin.
  • Der Verzicht auf ausgesuchte medizinische Maßnahmen bzw. die Therapiebegrenzung können in bestimmten Fällen medizinisch und/oder ethisch geboten sein.
  • Der verantwortungsbewusste Umgang mit dem Mittel der Therapiebegrenzung setzt eine offene und ehrliche Kommunikation zwischen dem Behandlungsteam und der betroffenen Person mit ihrer Familie voraus.
  • Über Therapiebegrenzung kann auch im Rahmen des Diskurses zum Thema Überversorgung nachgedacht werden. Kampagnen gegen Überversorgung sind z. B. Choosing Wisely in den USA, Smarter Medicine in der Schweiz, Gemeinsam Klug Entscheiden der AWMF. Die DEGAM bietet die S2e-Leitlinie Schutz vor Über- und Unterversorgung.

Definitionen

  • Die in der Palliativ- und Intensivmedizin verwendeten Begriffe Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung sind häufig miteinander verknüpft.
    • Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass hinter der Reduzierung der Therapie bei Patient*innen, die aller ärztlicher Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, keine Unterlassung steht, sondern eine Fortführung der für die Patient*innen optimalen Therapien mit geänderten Therapiezielen.
    • An die Stelle des Therapieziels Heilung bzw. Lebensverlängerung und Lebenserhaltung treten in solchen Fällen die Kontrolle belastender Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität.
  • Von Therapieverzicht ist in diesen Kontexten selten die Rede.
    • Richtig ist, dass auf Verlangen der betroffenen Person oder in medizinisch gebotenen Situationen auf bestimmte Einzelmaßnahmen verzichtet werden kann und sollte. Doch ein kompletter Verzicht auf jegliche Therapie, wie der Begriff suggeriert, findet nicht statt; das breite Spektrum palliativer Maßnahmen ist allen Patient*innen (rechtlich) garantiert.

Rechtlicher Rahmen

  • Das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patient*innen (Patientenrechtegesetz6) knüpft die Durchführung jeder medizinischen Maßnahme an die Einwilligung durch die betroffenen Patient*innen nach erfolgter Aufklärung durch die behandelnden Ärzt*innen.
  • Eine informierte Ablehnung einer Therapie ist juristisch bindend.
  • Für den Fall einer eingeschränkten Einwilligungsfähigkeit wird ein gestuftes Vorgehen beschrieben: So vorhanden und auf die Situation anwendbar, ist einer Patientenverfügung Folge zu leisten. Andernfalls ist der mutmaßliche Wille der Erkrankten im Gespräch mit den vorsorgebevollmächtigten oder betreuenden Personen oder, wenn es keine Betreuung oder Vorsorgevollmacht gibt, mit den Angehörigen zu eruieren.
  • Nur in Ausnahmefällen, etwa wenn eine Therapie unaufschiebbar ist und der Patientenwille nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, dürfen Ärzt*innen allein die Entscheidung über die Behandlung treffen.

Voraussetzungen einer Entscheidung zur Therapiebegrenzung

  • Die jeweilige Entscheidung zur Therapiebegrenzung kann nur auf dem Boden einer informierten und gemeinsamen Entscheidungsfindung getroffen werden. Voraussetzung ist das offene und ehrliche Gespräch zwischen dem multiprofessionellen Behandlungsteam und den Patient*innen mit ihren Angehörigen bzw. den Patientenvertreter*innen. Orientierung für Inhalte und Ablauf solcher Gespräche bieten die Konzepte des Advance Care Plannings, d. h. der vorausschauenden Versorgungsplanung.
  • Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie beruht auf dem Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer medizinischen Indikation sowie auf dem aktuell erklärten Willen der betroffenen Person oder, falls dieser nicht geäußert werden kann, auf deren vorausverfügtem oder mutmaßlichem Willen. Indikation und Patientenwille bedingen sich wechselseitig und sind im Gespräch aller Beteiligten zu eruieren.
  • Von ärztlicher Seite ist unter Berücksichtigung des aktuellen Stands der Wissenschaft einzuschätzen, welche Therapieziele (Lebensverlängerung, Lebenserhaltung, Symptomkontrolle, Lebensqualität) mit welchen Mitteln realistisch erreicht werden können.
  • Der wahrscheinliche Nutzen einer Therapie ist gegen mögliche unerwünschte und belastende Wirkungen abzuwägen bzw. im Verlauf zu beobachten und zu reevaluieren. Das Maß und die Art an vertretbaren Nebenwirkungen ist abhängig vom Therapieziel und den Vorstellungen der betroffenen Person und ihrer Familie. Unter der Maßgabe des Therapieziels Lebensqualität sind alle belastenden Maßnahmen zu vermeiden.
  • Die begründete Empfehlung für eine Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung ist der erkrankten Person und ihren Angehörigen ärztlicherseits verständlich, empathisch und rechtzeitig, d. h. möglichst schon im Vorfeld, zu vermitteln.
  • Welchen Stellenwert ein ehrliches Aufklärungsgespräch für die Entscheidung für oder gegen eine Therapie hat, zeigt sich daran, dass die Zahl derer, die einer Reanimation nach Herzstillstand zustimmen würden, von rund 40 % auf etwa 20 % sinkt, wenn sie vorher über die Überlebenswahrscheinlichkeit aufgeklärt wurden.7

Sterbephase

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4,8
  • Die Sterbephase ist definiert als die letzten 3–7 Tage des Lebens.
  • Näheres zur Einschätzung, ob die Sterbephase begonnen hat, siehe Artikel Behandlung am Lebensende, Prinzipien.
  • Umfang und Grenzen der Behandlung (neben anderen Aspekten der unheilbaren Erkrankung) in Gesprächen zur „vorausschauenden Versorgungsplanung“ (bzw. Advance Care Planning) erörtern.
  • Die „vorausschauende Versorgungsplanung“ beschreibt einen systematischen, interprofessionell begleiteten Kommunikations- und Implementierungsprozess zwischen Patient*innen, Angehörigen und an der Behandlung beteiligten Personen. Er umfasst die bestmögliche Sensibilisierung, Reflexion, Dokumentation und ggf. klinische Umsetzung der Behandlungspräferenzen von Patient*innen hinsichtlich künftiger hypothetischer klinischer Szenarien.

Leitlinie: Palliativmedizin für Patient*innen mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung3

  • Die Autor*innen der Leitlinie weisen darauf hin, dass der Geltungsbereich der Empfehlungen über Krebserkrankungen hinaus im Einzelfall zu prüfen ist.
  • In der Sterbephase nur solche Medikamente neu ansetzen oder weiterführen, die die bestmögliche Lebensqualität in der Sterbephase fördern, besonders die Substanzklassen Opioide, Antipsychotika, Benzodiazepine und Anticholinergika.
  • Verzicht auf bestimmte Medikamente in der Sterbephase
    • keine tumorspezifischen Medikamente
    • Es sollte eine kritische Überprüfung aller verabreichten Medikamente erfolgen.
      • Insbesondere bei Mundtrockenheit gilt das z. B. für Opioide, Antiemetika, Trizyklische Antidepressiva und Antipsychotika.
      • Weitere Medikamente, auf die in der Sterbephase in der Regel verzichtet werden kann, sind z. B. Antibiotika, Antikoagulanzien, Diuretika, Insuline, Kardiaka, Kortikosteroide, Laxanzien, Sauerstoff und Blutprodukte.
  • Verzicht auf bestimmte Maßnahmen in der Sterbephase
    • Keine medizinischen, pflegerischen und physiotherapeutischen Maßnahmen, die nicht dem Therapieziel bestmöglicher Lebensqualität dienen, z. B. Beatmung, kardiopulmonale Reanimation, Dialyse/Hämofiltration, Therapie auf der Intensivstation, Lagerung zur Dekubitus- oder Pneumonieprophylaxe.
    • Keine Messung von Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Blutzucker, Sauerstoffsättigung und Körpertemperatur, wenn es keinen Nutzen im Hinblick auf Symptomlinderung gibt.
  • Deaktivierung der Defibrillationsfunktion (Schockfunktion) eines implantierten Kardioverter-Defibrillators (ICD)
  • Keine künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr (nach sorgfältiger Abwägung im Einzelfall)

Leitlinie: Hausärztliches Vorgehen „Ganz am Ende des Lebens"8

  • Ziel der Behandlung ist es, die physische, psychische und soziale Situation der Patient*innen so zu erhalten, dass ein Sterben zu Hause bzw. in einer Pflegeeinrichtung ermöglicht wird, wenn die betroffene Person dies wünscht.
  • In der Sterbephase ist häufig eine Änderung und Anpassung der ärztlichen Maßnahmen notwendig, insbesondere im Zusammenhang mit der Medikation (z. B. transdermale Applikation von Schmerzmitteln).
  • Die Behandlung schwerstkranker und sterbender Patient*innen unterscheidet sich im hausärztlichen Kontext oft von der in der Klinik in Kernfragen.

Geriatrische Patient*innen

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,9
  • Ältere und hochbetagte Menschen sind nicht nur am häufigsten betroffen von schweren und chronischen Krankheiten mit palliativem Therapieziel; der Verzicht auf medizinische Maßnahmen ist zudem oft geeignet, um den Besonderheiten von Erkrankten ab 65 Jahren Rechnung zu tragen.
  • Die Herausforderungen in der Behandlung älterer Menschen umfassen gesundheitliche, soziale und spirituelle Aspekte. Hervorzuheben sind:
    • Das häufige Vorliegen von Multimorbidität und Polypharmazie, die das Risiko für Interaktionen und Fehlanwendungen von Arzneimitteln erhöhen. Die hausärztliche Leitlinie „Multimedikation" beschreibt ein strukturiertes Vorgehen zur regelmäßigen Bewertung der Medikamentenverordnung.9 Näheres dazu siehe Artikel Polypharmazie im Alter.
    • (Patho-)physiologisch bedingte Veränderungen in der Pharmakokinetik, in deren Folge Arzneimittel anders wirken und Metabolite stärker akkumulieren.
    • Die Heterogenität des Alters (Aged Heterogeneity), die hohe Ansprüche an die individuelle Anpassung der Therapieziele mit sich bringt.
    • Atypische Krankheitsmanifestationen, die das Erkennen von Krankheiten erschweren.
    • die Gebrechlichkeit und Vulnerabilität vieler älterer Menschen.
    • Oftmals vorliegende kognitive Einschränkungen, die die Kommunikation und die Bestimmung des Patientenwillens erschweren.
  • Im Alter können sich zudem Prioritäten und Präferenzen im Umgang mit Kranksein und Sterben verschieben. Die persönlichen Vorlieben und Therapieziele sind im fortgesetzten Gespräch mit den Patient*innen und deren Umfeld zu klären.
  • Das Konzept der Therapiebegrenzung steht in einem Spannungsverhältnis zu den in der Altenpflege häufig dominierenden Paradigmen der Aktivierung und Gesunderhaltung.
  • Therapiebegrenzung bei geriatrischen Patient*innen darf nicht zum vorschnellen Unterlassen hilfreicher medizinischer Maßnahmen führen. Die Gratwanderung zwischen Über- und Untertherapie erfordert u. a. sorgfältige differenzialdiagnostische Erwägungen, etwa um behandelbare Ursachen eines Delirs zu erkennen. Auch in der Pharmakotherapie gilt nicht immer, dass weniger mehr ist. Eine unzureichende Schmerztherapie z. B. geht mit einem höheren Delir-Risiko einher als eine suffiziente Schmerzbehandlung mit Opioiden.
  • Über 65-Jährige sind unterrepräsentiert in klinischen Studien. Der daraus folgende Mangel an wissenschaftlicher Beweiskraft erschwert Aussagen zur geeigneten pharmakologischen und nichtpharmakologischen Therapie älterer Menschen. Auch aus diesem Grund empfiehlt sich eine vorsichtige Grundhaltung in der medizinischen Versorgung geriatrischer Patient*innen.
  • Eine fundierte und an den deutschen Arzneimittelmarkt angepasste Übersicht über potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen liefert die PRISCUS-Liste.

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. AWMF-Leitlinie Nr. 128-001OL. S3, Stand 2019. www.awmf.org 
  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Hausärztliche Beratung „Ganz am Ende des Lebens" unter Berücksichtigung der rechtlichen Aspekte. AWMF-Leitlinie 053-038. S1, Stand 2013 (abgelaufen). www.degam.de
  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Hausärztliche Leitlinie Multimedikation. AWMF-Leitlinie Nr. 053-043. S3, Stand 2021. www.awmf.org

Literatur

  1. Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin. Positionspapier der Sektion Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). www.divi.de
  2. Fuchs C et al. Palliative Geriatrie. Ein Handbuch für die interprofessionelle Praxis. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2012.
  3. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. AWMF-Leitlinie Nr. 128-001OL. S3, Stand 2019. www.awmf.org
  4. Bundesärztekammer. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt 2011; 108(7): A346-48. www.aerzteblatt.de
  5. Coors M, Jox R, in der Schmitten J. Advance Care Planning. Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung . Stuttgart: Kohlhammer, 2015.
  6. Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz, BGBl. I 2013, 277). www.bgbl.de
  7. Dignam C, Brown M, Thompson CH. Moving from "Do Not Resuscitate" Orders to Standardized Resuscitation Plans and Shared-Decision Making in Hospital Inpatients. Gerontol Geriatr Med 2021; 7: 23337214211003431. PMID: 33796631 PubMed
  8. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Hausärztliche Beratung "Ganz am Ende des Lebens" unter Berücksichtigung der rechtlichen Aspekte. AWMF-Leitlinie 053-038, S1, Stand 2013 (abgelaufen). www.degam.de
  9. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Hausärztliche Leitlinie Multimedikation. AWMF-Leitlinie Nr. 053-043. S3, Stand 2021. www.awmf.org

 Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Dorit Abiry, Doktorandin am Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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