Pubertas tarda

Allgemeine Informationen

Definition

  • Eine Verzögerung der Pubertätsentwicklung ist Begleitsymptom vieler chronischer
    nichtendokrinologischer und endokrinologischer Erkrankungen. Sie ist führendes Symptom bei Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, die mit einem Hypogonadismus einhergehen.1
  • Eine verzögerte Pubertät liegt vor, wenn die Hodenentwicklung bei Jungen bzw. die Brustentwicklung bei Mädchen in einem Alter, das eine Standardabweichung von 2 bis 2,5 vom Mittelwert der Population darstellt, noch nicht eingetreten ist.2

Leitlinie

Pubertas tarda und Hypogonadismus1

Eine Pubertas tarda liegt vor,

  • wenn beim sonst gesunden Mädchen (Jungen) jenseits eines chronologischen Alters von 13,5 (14) Jahren noch keine Pubertätszeichen vorhanden sind,
  • wenn der Zeitbedarf für das Durchlaufen der Pubertät von einem Stadium B2 bis zur Menarche (von den ersten Zeichen bis zum Erreichen eines Tanner-Stadiums P5 G5) mehr als 5,0 (5,5) Jahre beträgt oder
  • wenn eine begonnene Pubertätsentwicklung länger als 18 Monate stillsteht.

Häufigkeit

  • Die genaue Prävalenz ist nicht bekannt, aber vor allem die konstitutionell verzögerte Pubertät ist ein relativ verbreitetes Phänomen.
  • Wie groß der Anteil der Personen mit verzögerter Pubertät ist, die einen Arzt aufsuchen, ist nicht bekannt.
  • Die Prävalenz der verzögerten Pubertät bei 14 (nicht 14,5) Jahre alten Jungen in den USA wird auf knapp 2 % beziffert.3

Diagnostische Überlegungen

  • Voraussetzung für eine normale Pubertät sind eine intakte Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse und ein normaler Ernährungszustand.
  • Durch eine Störung auf einer oder mehrerer der Ebenen dieser Achse kann es theoretisch zu einer Verzögerung der Pubertät kommen.
  • Eine anomale Pubertätsentwicklung kann sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen ein mögliches Zeichen einer pathologischen Veränderung sein.
    • Im Allgemeinen ist die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bei Mädchen bei einer verzögerten Entwicklung und bei Jungen bei einer vorzeitigen Entwicklung am größten.

Konsultationsgrund

  • Probleme im Verhältnis zu Gleichaltrigen
  • Besorgnis bezüglich einer geringen endgültigen Körpergröße
  • Zufallsdiagnose im Rahmen der Abklärung einer chronischen Erkrankung/der Kontrolluntersuchung bei einer chronischen Erkrankung
    • Eine verzögerte Pubertät und eine Wachstumsverzögerung können die ersten Anzeichen einer chronischen Krankheit darstellen.

Mögliche Fehldiagnosen

ICPC-2

  • T99 Endo./metab./ernäh. Erkrank., andere

ICD-10

  • E30.0 Verzögerte Pubertät

Differenzialdiagnosen

Hypergonadotroper Hypogonadismus (primärer Hypogonadismus)

  • Erhöhte Konzentrationen von LH und FSH infolge einer fehlenden negativen Rückkopplung von den Gonaden
  • Erkrankung oder Rezeptorstörung der Gonaden
  • Turner-Syndrom, Noonan-Syndrom, Kryptorchismus, Infektion der Gonaden, fehlende Ausbildung der Gonaden

Hypogonadotroper Hypogonadismus (sekundärer Hypogonadismus)

  • Erniedrigte Konzentrationen von LH und FSH (ggf. auch GnRH) infolge einer Insuffizienz des Hypothalamus oder der Hypophyse
  • Mögliche Ursachen: ZNS-Tumor/infiltrative Erkrankung (Langerhanszell-Histiozytose), Syndrome/genetische Defekte (CHARGE-, Prader-Willi-, Kallmann-Syndrom), Spätfolgen einer Infektion oder bspw. einer Strahlentherapie

Vorübergehender hypogonadotroper Hypogonadismus (funktioneller, sekundärer Hypogonadismus)

  • Ursache: verzögerte Reifung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse aufgrund einer zugrunde liegenden Erkrankung
  • Andere chronische Erkrankung wie chronisch entzündliche Darmerkrankung, Zöliakie, Asthma, juvenile idiopathische Arthritis, Diabetes mellitus oder Wachstumshormonmangel
  • Alternativ übermäßige Ausübung von Sport oder Mangelernährung (beispielsweise im Zusammenhang mit Essstörungen)

Anamnese

Besonders zu beachten

  • Wachstumsmuster?
    • Hat das Wachstum des Patienten schnell begonnen ist danach wieder abgeflacht (hat die Pubertät ein- und danach wieder ausgesetzt)?
    • Bei einer konstitutionell verzögerten Pubertät ist präpubertär möglicherweise ein Tal in der Wachstumskurve zu beobachten.
  • Ernährung?
    • Gewichtsabnahme?
    • Essstörungen?
  • (Übermäßig) intensives Training?
  • Aktuelle chronische Erkrankung?
  • Vorausgegangene langwierige Erkrankung?
  • Einnahme von Arzneimitteln?
  • Zeitpunkt des Beginns der Pubertät bei den Eltern und etwaigen älteren Geschwistern?
    • Zusätzlich Wachstumsgeschichte und endgültige Körpergröße
  • Anosmie? (Kallmann-Syndrom)

Klinische Untersuchung

Im Allgemeinen

  • Das Ziel der Untersuchung besteht darin, eine Grunderkrankung als Ursache der verzögerten Pubertät auszuschließen.
  • Bei Vorliegen einer konstitutionell verzögerten Pubertät tritt häufig auch die Adrenarche verzögert ein.
  • Bei Vorliegen eines hypogonadotropen Hypogonadismus tritt die Adrenarche meist im normalen Alter ein.

Im Besonderen

  • Bestimmen Sie das Tanner-Pubertätsstadium.
    • Das zweite Tanner-Stadium (Hodenvolumen größer oder gleich 4 ml bei Jungen, beginnende Brustentwicklung bei Mädchen) markiert den Beginn der Pubertät.
  • Gute Wachstumsdaten sind von entscheidender Bedeutung, um zwischen den verschiedenen Formen der verzögerten Pubertät unterscheiden zu können.
    • Körpergröße (stehend und sitzend), Gewicht, Armspanne
    • Gab es einen beginnenden Wachstumsschub (Pubertät), der abgebrochen ist?
    • Bei einer konstitutionell verzögerten Pubertät ist Folgendes zu erwarten:
      • abflachendes (nicht gehemmtes) Längenwachstum infolge eines verzögerten pubertären Wachstumsschubs
      • verzögerte Adrenarche
      • verzögerte Skelettreifung.
  • Übergewicht kann bei Jungen den Beginn der Pubertät hinauszögern.

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

Andere Untersuchungen

  • Röntgen Knochenalter (Röntgen der linken Hand)
    • Eine negative Abweichung des Knochenalters um mehr als zwei Jahre ist ein nichtspezifisches Kriterium für eine konstitutionell verzögerte Pubertät.2
  • Ultraschall der inneren Geschlechtsorgane bei Mädchen
  • Chromosomenuntersuchung zum Ausschluss des Turner-Syndroms bei Mädchen
  • MRT des Gehirns/der Hypophyse mit Kontrast (bei Verdacht auf ZNS-Insuffizienz)
  • LHRH-Test (Gonadorelin 0,1 mg i.v.) eventuell indiziert
    • Bei einer normalen Reaktion (LH-Anstieg auf über 15 mIE/l) kann ein hypogonadotroper Hypogonadismus ausgeschlossen werden.
    • Anhand des Tests lässt sich nur schlecht zwischen einem hypogonadotropen Hypogonadismus und einer konstitutionell verzögerten Pubertät unterscheiden.
  • Evtl. hCG-Test zur Abklärung eines hypergonadotropen Hypogonadismus

Maßnahmen und Empfehlungen

Überweisungen

  • Liegen eine positive Familienanamnese für einen verzögerten Pubertätsbeginn und keine Hinweise auf eine zugrunde liegende Erkrankung vor, kann mit der Überweisung einige Monate gewartet werden.
  • Auch wenn eine konstitutionell verzögerte Pubertät vorzuliegen scheint, kann eine Überweisung erforderlich sein, um die Notwendigkeit einer Einleitung der Pubertät zu beurteilen.
    • Insbesondere bei Jungen indiziert, für die die verzögerte Pubertät mit psychosozialen Belastungen verbunden ist
  • Wurde eine Grunderkrankung nachgewiesen, ist im Hinblick auf diese und auf eine Beurteilung der Notwendigkeit einer Einleitung der Pubertät häufig eine Überweisung indiziert.

Einweisungen

  • Selten indiziert

Maßnahmen und Empfehlungen

  • Die konstitutionell verzögerte Pubertät ist die häufigste Ursache für eine verzögerte Pubertät.
    • Die Familienanamnese liefert wertvolle Informationen zur Erkennung dieser Anomalie.
  • Die verzögerte Pubertät tritt bei Jungen häufiger auf als bei Mädchen.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patienten informieren?

  • Bei der konstitutionell verzögerten Pubertät kommt es nicht zu einer Beeinträchtigung der endgültigen Körpergröße.
    • Späterer Beginn des Wachstumsschubs
  • Es möglich ist, den Beginn der Pubertät künstlich einzuleiten.

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Tanner_scale-female.png
Tanner-Stadien beim Mädchen/bei der Frau

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Pubertas tarda und Hypogonadismus. AWMF-Leitlinie Nr. 027-025. Stand 2011. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Pubertas tarda und Hypogonadismus. AWMF-Leitlinie Nr. 027-025. www.awmf.org
  2. Palmert MR, Dunkel L. Clinical practice. Delayed puberty.. N Engl J Med 2012; 366: 443-53. New England Journal of Medicine
  3. Maggi M, Buvat J. Standard Operating Procedures: Pubertas Tarda/Delayed Puberty-Male. J Sex Med 2012;DOI: 10.1111/j.1743-6109.2012.02678.x. DOI

Autoren

  • Günter Ollenschläger, Prof. Dr. Dr. med., Professor für Innere Medizin, Uniklinikum Köln (Deximed)
  • Kurt Østhuus Krogh, spesialist i barnesykdommer, Norsk Helseinformatikk
  • Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, Trondheim

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