Akute intermittierende Porphyrie (AIP)

Zusammenfassung

  • Definition:Durch verschiedene Enzymdefekte hervorgerufene Störung der Hämbiosynthese mit Akkumulierung von Metaboliten, die u. a. neurologische, endokrine, kardiale, abdominelle oder kutane Symptome auslösen können.
  • Häufigkeit:Selten, geschätzte Prävalenz der AIP in Europa 1:20.000.
  • Symptome:Kann sich in Form von akuten Anfällen mit starken Bauchschmerzen manifestieren, evtl. mit Begleitsymptomen wie Obstipation, Diarrhö, Erbrechen.
  • Befunde:Akute Porphyrien: Akut behandlungsbedürftig, da die Gefahr lebensbedrohlicher neurologischer Komplikationen besteht. Oft Fehldiagnose „akutes Abdomen“. Bei heftigen Anfällen evtl. Paresen, psychische Störungen, Fieber, Tachykardie.
  • Diagnostik:Bei Verdacht auf eine akute Porphyrie ist Probenmaterial (Urin, Stuhl, Blut) lichtgeschützt an ein Speziallabor einzusenden.
  • Therapie:Absetzen auslösender Medikamente, Gabe von Glukose, Hämarginat, ggf. Givosiran. Intensivmedizinische Überwachung, Elektrolyt- und Volumenkontrolle. Supportivtherapie. Als Ultima Ratio Lebertransplantation.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Porphyrien sind eine heterogene Gruppe erblicher Stoffwechselkrankheiten, die meist autosomal dominant vererbt werden und eine geringe klinische Penetranz haben.
    • Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass eines der 8 Enzyme der Hämsynthese einen genetischen Defekt und somit eine veränderte Aktivität aufweist.1-2
  • Die häufigsten Formen sind die akute intermittierende Porphyrie (AIP), die Porphyria cutanea tarda (PCT) und die erythropoetische Protoporphyrie (EPP). 
  • Dieser Artikel bezieht sich im Wesentlichen auf die akute intermittierende Porphyrie, die sich in die Gruppe der akuten hepatischen Porphyrien einordnen lässt.
  • Bei der akuten intermittierenden Porphyrie (AIP) liegt eine reduzierte Aktivität des 3. Enzyms der Hämsynthese vor, der Porphobilinogen-Desaminase (PBGD).
  • Die Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt, allerdings entwickeln nur 10–20 % der Mutationsträger*innen klinische Symptome.
  • Bei erhöhtem Hämbedarf kann eine Anhäufung von Metaboliten zu akuten Anfällen mit neuroviszeralen Symptomen wie starken Bauchschmerzen, Paresen, psychischen Symptomen, Bluthochdruck, Tachykardie u. a. führen.2

Häufigkeit

  • Inzidenz der AIP in Europa:  ca. 1:20.0003
    • Manifestation: meist nach der Pubertät, betrifft zu ca. 80 % das weibliche Geschlecht3-4
  • Inzidenz der PCT in Europa: ca. 1:10.0003
  • Inzidenz der EPP in Europa: ca. 1:50.000–1:75.0003

Ätiologie und Pathogenese

  • Durch einen genetisch bedingten Defekt der Porphobilinogen-Desaminase (PBGD), kommt es bei gesteigertem Hämbedarf (z. B. bei der Einnahme bestimmter Medikamente, Infekten, Fieber etc.) zu einer Akkumulierung der Porphyrinvorstufen Delta-Aminolävulinsäure (ALA) und Porphobilinogen (PBG).1-2
  • Bei der AIP ist die Aktivität der PBGD um bis zu 50 % reduziert.
    • Das bedeutet, dass unter normalen Umständen die Hämbiosynthese aufrecht erhalten werden kann.
    • Kommt es jedoch durch o. g. Auslöser zu einer Steigerung der Hämbiosynthese, kommt das Enzym mit der Verstoffwechslung „nicht mehr hinterher“, und es kommt zur Ansammlung der Porphyrinvorstufen.5
    • Erst durch die Aktivierung der hepatischen Hämsynthese löst die Erkrankung somit klinische Symptome aus.
  • Die Symptome einer AIP lassen sich durch eine neuronale Schädigung erklären. Wie diese Schädigungen genau entstehen, ist noch nicht ausreichend geklärt.
    • Aktuelle Studien hierzu vermuten u. a. eine oxydative Schädigung von Mitochondrien und Synapsen, ausgelöst durch die hohen ALA-Spiegel.6-7
    • Weitere Auslöser könnten stoffwechselbedingte Dysfunktionen von Cytochromen und anderen Häm-Proteinen sein.6

Prädisponierende Faktoren

  • Generell: Alle Situationen, die den Hämbedarf des Körpers erhöhen.8
    • Einer der häufigsten Auslöser ist die Einnahme von Arzneimitteln, die vom Cytochrom-P450-System oder vom ALAS1-System in der Leber verstoffwechselt werden. Dazu gehören viele gängige Arzneimittel. Arzneimittel können in der Datenbank EPNET geprüft werden.
    • Infektionen/Entzündungen
    • Fasten/kohlenhydratarme Diät
    • Stress
    • Progesteronschwankungen
    • Alkohol
    • Rauchen9

ICPC-2

  • D81 Angeborene Anomalien
  • T99 Endo./metab./ernäh. Erkrank., andere

ICD-10

  • E80 Störungen des Porphyrin- und Bilirubinstoffwechsels
    • E80.2 Sonstige Porphyrie

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Erhöhte Ausscheidung der Porphyrinvorstufen ALA und PBG im Urin in Verbindung mit charakteristischen Symptomen8
  • Ausschluss anderer akuter Porphyrien, insbesondere der hereditären Koproporphyrie (HCP) und der Porphyria variegata (PV). Dies erfolgt mittels einer biochemischen Untersuchung von Plasma und Stuhl.
  • Die Diagnose wird üblicherweise mittels DNA-Analyse bestätigt.

Differenzialdiagnosen

  • Andere akute Porphyrien, d. h. hauptsächlich die hereditäre Koproporphyrie (HCP) und die Porphyria variegata (PV), können dasselbe akute Symptombild zeigen wie die AIP. Diese sind klinisch nicht unterscheidbar.
    • Bei HCP und PV können außerdem auch Hautsymptome in Form von Blasen und verletzungsempfindlicher Haut in sonnenexponierten Bereichen vorliegen.
    • Eine vollständige biochemische Untersuchung ist erforderlich, um eine verlässliche Differenzierung zwischen den akuten Porphyrien sicherzustellen.
  • Andere Ursachen für akutes Abdomen, Paresen, psychiatrische Symptome
  • Bleivergiftung
  • Guillain-Barré-Syndrom10

Anamnese und klinische Untersuchung

  • Ein Anfall entwickelt sich über Stunden und kann Tage bis Wochen anhalten.
  • Charakteristisch8-9,11-12
    • kolikartige Bauchschmerzen (90 %)
    • Erbrechen (80 %)
    • Obstipation (75 %)
    • neurologische Zeichen in variabler Ausprägung (50–60 %): motorische und sensorische Störungen, Hirnnervenbeteiligung und generalisierte Krampfanfälle
    • keine Hautveränderungen

Mögliche zusätzliche Symptome/Befunde12-13

  • Durchfall
  • Schmerzen im Rücken und/oder der Extremitätenmuskulatur
  • Paresen/Muskelschwäche in den Extremitäten
  • Psychische Störungen (Angst, Unruhe, Schlaflosigkeit)
  • Fieber
  • Tachykardie
  • Hypertonie
  • Atemlähmung
  • Elektrolytstörungen (Hyponatriämie)
  • Bei einem voll entwickelten Anfall können die Betroffenen schlaffe Paresen, Atemstillstand, Krämpfe und/oder schwere psychische Störungen erleiden. Bei schweren Anfällen liegt meist auch eine ausgeprägte Hyponatriämie vor (Schwartz-Bartter-Syndrom). Diese Anfälle können lebensbedrohlich sein!8
  • Chronische Beschwerden zwischen den Attacken können ebenfalls vorkommen.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Bei Verdacht auf eine akute Porphyrie-Erkrankung Durchführung eines Porphyrie-Screenings
    • ggf. Fluoreszensscan (Serum/Plasma)
    • Untersuchung des Urins auf 5-ASA, Porphobilinogen, Gesamtporphyrine (10 ml Spontanurin sind ausreichend!)1
    • Stuhlprobe auf Gesamtporphyrine
    • Blut (Serum oder Plasma) auf freies und Zink-Protoporphyrin
  • Lichtgeschützter Versand des Probenmaterials (in Alufolie verpackt) an ein mit der Diagnostik von Prophyrien vertrautes Labor

Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung

  • Bei V. a. Manifestation einer akuten Porphyrie
  • Bei akuten Anfällen5
    • Die Einweisung darf NICHT hinausgezögert werden, wenn die Patient*innen:
      • neurologische Ausfälle haben.
      • von Übelkeit und Erbrechen geplagt sind und nicht in der Lage sind, Zucker und Flüssigkeit aufzunehmen.
      • Häufig ist eine Intensivtherapie erforderlich.14

Therapie

Empfehlungen für Patient*innen

  • Stress, auslösende Medikamente und bekannte auslösende Faktoren meiden.
  • Bei sehr leichten/beginnenden Anfällen und gut informierten Patient*innen ggf. eigenständige Einnahme von Traubenzucker/Dextrosirup, um die Entwicklung eines schweren Anfalls zu verhindern. 

Therapie des akuten AIP-Anfalls

  • Sofortiges Absetzen möglicher auslösender Medikamente
  • Kalorienzufuhr 
    • Empfehlung: 24 kcal/kg KG am Tag, davon Glukose 4 g/kg KG am Tag1
      • Glukose wirkt hemmend auf die hepatische Aminolaevulinsäure-Synthetase.
  • Hämarginat 
    • bei schwerem Verlauf und neurologischer Symptomatik 3 mg/kg KG und Tag (max. 250 mg/d) i. v., 30 min über großlumige Vene bzw. ZVK an bis zu 4 aufeinander folgenden Tagen1
      • Cave: Vasotoxizität!
  • Givosiran
    • neuer Ansatzpunkt in der Therapie akuter Porphyrien, v. a. bei neurologischen Symptomen7 und häufig wiederkehrenden Attacken15 
    • Small Interfering RNA (SIRNA), die als Angriffspunkt die ALAS mRNA der Hepatozyten hat und die Gentranslation behindert.6,16
  • Supportivtherapie1 

Prävention

  • Familienanalyse zur Identifizierung bisher asymptomatischer Genträger*innen1
  • Lifestyle 
    • wenig Alkohol
    • kein Nikotin
    • kein Fasten und keine Extremdiäten
    • Überprüfung von Medikamenten über die Arzneimitteldatenbank EPNET
  • Hinsichtlich der auslösenden Faktoren für Anfälle gibt es große Unterschiede zwischen einzelnen Patient*innen; diese müssen daher oft selbst herausfinden, was sie vertragen und was nicht. Porphyriezentren können dabei helfen.5

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Viele Porphyrieanfälle gehen innerhalb von einigen Tagen spontan zurück, wenn die auslösenden Faktoren eliminiert werden.5,9,11

Komplikationen

  • Akute Porphyrieanfälle können in seltenen Fällen zu dauerhaften neurologischen Schäden führen oder infolge einer respiratorischen Insuffizienz lebensbedrohlich werden.9
  • Die AIP wird mit einem erhöhten Risiko für hepatozelluläre Karzinome ohne vorangehende chronische Lebererkrankung in Verbindung gebracht; es wird daher ein jährliches Screening mit Ultraschalluntersuchung der Leber für alle über 50 Jahre empfohlen.
  • Die AIP wird mit einem erhöhten Risiko der Entwicklung von Bluthochdruck und reduzierter Nierenfunktion in Verbindung gebracht.17
  • U. U. Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms

Prognose

  • Dank der zunehmenden therapeutischen Möglichkeiten insgesamt gute Prognose
  • Die meisten Personen, bei denen eine Mutation des für die Kodierung des PBG-Desaminase-Enzyms verantwortlichen Gens nachgewiesen wird, bleiben ihr Leben lang symptomfrei.5
  • Einzelne Patient*innen können jedoch schwere und therapierefraktäre Anfälle erleiden, sodass Behinderungen die Folge sein können und eine Lebertransplantation indiziert sein kann.9

Verlaufskontrolle

  • Für alle Patient*innen mit einer aktiven AIP wird eine jährliche Kontrolle empfohlen.
    • Urin auf Porphyrine
    • Blutdruck8
    • Nierenfunktion (Kreatinin und eGFR)8
    • Ultraschall der Leber ab dem 50. LJ
  • Für Mutationsträger*innen, die noch nie Symptome gezeigt haben (latente AIP), wird eine Kontrolle alle 3–5 Jahre empfohlen; ab dem vollendeten 50. Lebensjahr sollten jedoch alle eine jährliche Ultraschalluntersuchung der Leber durchführen lassen.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Aufklärung/Schulung der Betroffenen hinsichtlich auslösender Faktoren: Medikamente, Hormone, Alkohol, Nikotin, Fasten.
  • Die Patient*innen sollten auch selbst alle Medikamente, einschließlich der rezeptfreien, vor deren Einnahme auf der Arzneimitteldatenbank EPNET überprüfen.
  • Ggf. Selbstbehandlung mit Glukose, wenn sich ein Anfall anbahnt.
  • Ausstellung eines internationalen Porphyrie-Ausweises, möglichst durch ein Porphyrie-Zentrum

Patienteninformationen in Deximed

Patientenorganisationen

Quellen

Literatur

  1. Stölzel U, Stauch T, Kubisch I. Porphyrien [Porphyria]. Internist (Berl). 2021 Sep;62(9):937-951. www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Bissell DM, Wang B. Acute Hepatic Porphyria. J Clin Transl Hepatol. 2015 Mar;3(1):17-26. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Ramanujam VS, Anderson KE. Porphyria Diagnostics-Part 1: A Brief Overview of the Porphyrias. Curr Protoc Hum Genet. 2015 Jul 1;86:17.20.1-17.20.26. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Orphanet. Acute intermittent porphyria. Paris, Orphanet 2009. www.orpha.net
  5. Puy H, Gouya L, Deybach JC. Porphyrias. Lancet 2010; 375: 924-37. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Ricci A, Di Pierro E, Marcacci M, Ventura P. Mechanisms of Neuronal Damage in Acute Hepatic Porphyrias. Diagnostics (Basel). 2021 Nov 26;11(12):2205 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Kazamel M, Desnick RJ, Quigley JG. Porphyric Neuropathy: Pathophysiology, Diagnosis, and Updated Management. Curr Neurol Neurosci Rep. 2020 Oct 7;20(12):56. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Anderson KE, Bloomer JR, Bonkovsky HL, et al. Recommendations for the diagnosis and treatment of the acute porphyrias. Ann Intern Med 2005; 142: 439. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. BylesjöI, Wikberg A, Andersson C . Clinical aspects of acute intermittent porphyria in northern Sweden: a population-based study. Scand J Clin Lab Invest 2009; 69: 612. PubMed
  10. Gerischer LM, Scheibe F, Nümann A, Köhnlein M, Stölzel U, Meisel A. Acute porphyrias - A neurological perspective. Brain Behav. 2021 Nov;11(11):e2389. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Gutiérrez PP, Wiederholt T, Bolsen K, Gardlo K, Schnabel C, Steinau G, Lammert F, Bartz C, Kunitz O, Frank J. Diagnostik und Therapie der Porphyrien: Eine interdisziplinäre Herausforderung. Dtsch Arztebl ; 101: A1250-1255. www.aerzteblatt.de
  12. Simon A, Pompilus F, Querbes W et al. Patient Perspective on Acute Intermittent Porphyria with Frequent Attacks: A Disease with Intermittent and Chronic Manifestations. Patient 2018. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  13. Stölzel U, Doss MO, Schuppan D. Clinical Guide and Update on Porphyrias. Gastroenterology. 2019 Aug;157(2):365-381.e4. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  14. Stölzel U, Kubisch I, Stauch T. Porphyrien – was ist gesichert? [Porphyrias-what is verified?]. Internist (Berl). 2018 Dec;59(12):1239-1248. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  15. Wang B. Novel treatment options for acute hepatic porphyrias. Curr Opin Gastroenterol. 2021 May 1;37(3):194-199. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  16. Balwani M, Sardh E, Ventura P, et al. Phase 3 Trial of RNAi Therapeutic Givosiran for Acute Intermittent Porphyria. N Engl J Med. 2020 Jun 11;382(24):2289-2301. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  17. Pischik E, Kauppinen R. An update of clinical management of acute intermittent porphyria. Appl Clin Genet. 2015 Sep 1;8:201-14. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Kristin Haavisto, Fachärztin für Innere Medizin und Hämato-/Onkologie, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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