Allgemeine Informationen
Definition
- Vorkommen primär als Ausdruck einer Malnutrition mit mangelnder Nährstoffzufuhr oder sekundär als Folge einer zugrunde liegenden Erkrankung1-2
- Diagnose2-3
- im Verhältnis zu altersentsprechenden Perzentilen zu geringes Körpergewicht (–2 SDS oder unter der 3. Perzentile) und/oder zu geringe Zunahme von Körpergewicht und Körpergröße mit Perzentilenknick über 2 Hauptperzentilen4
- Längensollgewicht (LSG) < 70 %
- LSG quantifiziert Abweichungen des Verhältnisses von Körpergewicht zu Körpergröße, Angabe in Prozent vom Gewicht der 50. Perzentile für eine entsprechende Größe.
- Berechnung: aktuelles Gewicht x 100/Längensollgewicht2
- 27 % aller Kinder erfüllen mindestens 1 Kriterium für Gedeihstörung im 1. Lebensalter, sodass für die Diagnosestellung eine Kombination mehrerer Kriterien bestehen sollte.5 Eine klare Konsensusempfehlung hierfür liegt nicht vor.
- Klassifikation des Schweregrads der Unterernährung (Wellcome-Klassifikation)2
- normal: LSG 90–110 %
- Untergewicht: LSG 80–89 %
- Mangelernährung: LSG 70–79 %
- schwere Mangelernährung: < 70 % oder Ödeme
- Typische Perzentilenverläufe2,6
- bei Unterernährung früher Abfall der Gewichtsperzentile, verzögerter Abfall der Perzentilen für Längenwachstum und ggf. Kopfumfang
- bei syndromalen Erkrankungen, intrauterinen Infektionen oder ZNS-Erkrankungen eher proportionaler Abfall von Gewichts-, Längen- und ggf. Kopfumfangsperzentile
- bei endokrinen oder konstitutionellen Erkrankungen proportionaler Abfall von Gewicht- und Längenperzentilen bei stabilem Kopfwachstum
Häufigkeit
- Die Prävalenzen sind abhängig von den Diagnosekriterien und der Häufigkeit einer ggf. zugrunde liegenden Erkrankung in der untersuchten Population.7
- In den USA Prävalenz von 5–10 % in kinder- und hausärztlicher Primärversorgung und 3–5 % in stationärer Versorgung1,8, in anderen Studien werden Prävalenzen von 2–24 % in der stationären Versorgung angegeben.9-10
- höhere Prävalenzen in ländlichen, benachteiligten Regionen und urbanen Räumen1
- Etwa 80 % der Kinder mit einer Gedeihstörung sind jünger als 18 Monate.1,11
Diagnostische Überlegungen
- Die Ursache ist multifaktoriell12 und bleibt in etwa 80 % der Fälle unklar.13-14
- Mögliche Fehlinterpretationen2
- Wachstumsschwankungen bei Kleinkindern: Wechsel der Perzentilen ist in den ersten beiden Lebensjahren nicht selten; keine Gedeihstörung, wenn das Wachstum im Verlauf Perzentilen-parallel bleibt.
- Kinder mit intrauteriner Wachstumsretardierung oder Frühgeburt: keine Gedeihstörung, solange das Wachstum Perzentilen-parallel verläuft.
- Komplikationen und Prognose
ICPC-2
- A04 Schwäche / allg. Müdigkeit (CFS)
- A16 Unruhiges, schreiendes Kleinkind
ICD-10
- R62 Ausbleiben der erwarteten normalen physiologischen Entwicklung
- R62.0 Verzögertes Erreichen von Entwicklungsstufen
- R62.8 Sonstiges Ausbleiben der erwarteten physiologischen Entwicklung
- R62.9 Ausbleiben der erwarteten physiologischen Entwicklung, nicht näher bezeichnet
- R63 Symptome, die die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme betreffen
- R63.0 Anorexie
- R63.1 Polydipsie
- R63.2 Polyphagie
- R63.3 Ernährungsprobleme und unsachgemäße Ernährung
- R63.4 Abnorme Gewichtsabnahme
- R63.5 Abnorme Gewichtszunahme
- R63.8 Sonstige Symptome, die die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme betreffen
- R68 Sonstige Allgemeinsymptome
- R68.1 Unspezifische Symptome im Kleinkindalter
Differenzialdiagnosen
Ungenügende Nährstoffaufnahme
- Ernährungsstörung
- Dysphagie
- schwerer gastroösophagealer Reflux
- Stillprobleme
- syndromale/genetische Erkrankungen15
- Trisomie 21, Trisomie 13, Trisomie 18
- Turner-Syndrom
- Mikrodeletionssyndrome
- Silver-Russel-Syndrom
- Prader-Willi-Syndrom
- Fanconi-Anämie
- Bloom-Syndrom
- Nijmegen-Breakage-Syndrom
- Noonan-Syndrom
- Costello-Syndrom
- fetales Alkoholsyndrom
- Achondroplasie und andere
- neurologische Erkrankungen
- Fehlernährung (hohes Risiko bei finanzieller Armut)
- Interaktionsprobleme von Eltern und Kind, psychosoziale Belastungssituationen
- Essstörungen
- Vernachlässigung und Misshandlung, Münchhausen-Syndrom
- Kinder mit Gedeihstörungen haben ein 4-fach erhöhtes Risiko, unter Misshandlung zu leiden.16
Absorptionsstörungen
- Chronische Diarrhö (z. B. bei Immundefekten)
- Stoffwechselerkrankungen (mit Erbrechen)
- Zöliakie
- Zystische Fibrose
- Kuhmilchallergie und andere Nahrungsmittelallergien/-unverträglichkeiten (mit Erbrechen)
- Eisenmangelanämie
- Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
- Glukosurie
- Z. n. Darmoperationen
- Z. n. nekrotisierender Enterokolitis
- Volvulus
- Chronische Darminfektionen (Giardiasis)
Verwertungstörung/erhöhter Umsatz
- Hyperthyreose
- Hyperkinese (bei neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen)
- Chronische pulmonale Erkrankungen
- Herzfehler
- Onkologische Erkrankungen
- Rheumatologische Erkrankungen
- Immundefekte, chronische Infektionen
- Nephrologische Erkrankungen
- Chronische und angeborene Leber- und Gallenwegserkrankungen
Anamnese
Besonders zu beachten
Ernährung
- Nimmt das Kind ausreichend Nahrung zu sich?
- Bitten Sie die Eltern, über die Nahrungsaufnahme Protokoll zu führen.
- Aktuelle Referenzwerte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die durchschnittliche Energiezufuhr: Richtwerte für die Energiezufuhr
- Cave: Akut oder chronisch kranke Kinder können einen deutlich höheren Energiebedarf aufweisen!
- Was isst das Kind?
- Was trinkt das Kind?
- Oft: Trinken von zuckerhaltigen und nährstoffarmen Getränken, die schon vor der Einnahme von nährstoffreicher Nahrung zu einem Sättigungsgefühl führen.
- Wann isst das Kind? Wo? Mit wem?
- Wird das Kind abgelenkt?
- Wird es beim Essen nicht ausreichend beaufsichtigt?
- Wie isst das Kind?
- Sind die Essfertigkeiten des Kindes bezogen auf sein Entwicklungsstadium unzureichend?
- Verweigert das Kind die Nahrung?
- Ist es ein „Kampf“, das Kind zum Essen zu bewegen?
- Nimmt das Kind Süßigkeiten zu sich?
- Welche und wie oft?
- Nimmt das Kind infolge des Verzehrs von Süßigkeiten zu den Mahlzeiten weniger Nahrung zu sich?
Frühere und aktuelle Krankengeschichte
- Geburtsverlauf
- Komplikationen bei der Geburt?
- Geringes Geburtsgewicht/geringe Geburtslänge (Small for Gestational Age, SGA)?
- Frühgeburt?
- Es ist auf eine Differenzierung zwischen einer Gedeihstörung einerseits und zu früh geborenen oder SGA-Kindern andererseits zu achten.
- Neugeborenenikterus?
- Kürzliche akute Erkrankungen
- Ohrenentzündung? Gastroenteritis? Rezidivierende Virusinfektionen?
- Chronische Erkrankungen?
- Anämie, Asthma, angeborener Herzfehler
- organische Erklärungen für die Gedeihstörung
- Frühere Krankenhausaufenthalte, Verletzungen, Unfälle?
- Ziehen Sie auch eine Vernachlässigung oder Kindesmisshandlung in Betracht.
- Stuhlgang
- Häufigkeit, Konsistenz, Blut, Schleim?
- Schließen Sie eine Malabsorption (zystische Fibrose, Zöliakie), Infektion oder Allergie aus.
- Erbrechen, Reflux oder andere Magen-Darm-Symptome?
- Ziehen Sie eine Allergie gegen Kuhmilcheiweiß, einen gastroösophagealen Reflux oder eine Infektion in Betracht.
Sozialanamnese
- Wer wohnt im Haushalt?
- Klären Sie, wer sich um das Kind kümmert.
- Wer sorgt für das Kind?
- Wer hilft der Familie?
- Was für ein Temperament hat das Kind?
- Stressfaktoren?
- Wirtschaftliche Faktoren, Faktoren innerhalb der Familie, wichtige Ereignisse im Leben?
- Diese können zu einer unzureichenden Nahrungsaufnahme, depressiven Eltern oder einer Vernachlässigung führen.
- Liegt bei einer Person im Haushalt ein Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten vor?
- Dies kann ein Grund für eine Vernachlässigung des Kindes sein.
- Gibt es weitere Kinder, die vernachlässigt werden?
Familienanamnese
- Erkrankungen oder Zeichen einer Gedeihstörung bei etwaigen Geschwistern?
- Liegen beim Kind organische oder genetische Faktoren vor, die eine Gedeihstörung begünstigen?
- Gibt es Familienmitglieder, die von kleiner Statur sind?
- Liegt eine psychische Erkrankung vor?
Klinische Untersuchung
Allgemeines
- Anthropometrie
- Körpergröße und -gewicht und Kopfumfang um Verlauf, Abgleich mit Wachstumskurven
- Körperfettmessung (Hautfaltendicke)
- Muskelmassemessung (Oberarmumfang)
- Anzeichen für Mangelernährung
- Veränderungen von Haut, Haaren, Nägeln, Zähnen, verzögerte Geschlechtsentwicklung nach Tanner, Rachitis
Spezielle Faktoren
- Klinische Hinweise auf:
- Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und andere Spaltbildungen
- Zungenfehlbildungen
- Kieferfehlbildungen
- Choanalatresie (Atemnot beim Trinken, Sekret)
- tracheoösophageale Fisteln (Aspiration, Atemnot beim Trinken)
- angeborene Stenosen (tastabare Pylorusstenose)
- neurologische oder syndromale Erkrankungen (Dysmorphien, Mikrozephalus, motorische und kognitive Entwicklungsverzögerung)
- Immundefekt (atypische Lokalisation von Infektionen)
- akute Infektionen
- Stoffwechselerkrankungen (Heaptomegalie, Muskelschwäche)
- Zöliakie (Tabaksbeutelgesäß, aufgeblähter Bauch, Zahnschmelzdefekte)
- chronische pulmonale Erkrankungen
- Herzfehler
- onkologische Erkrankungen (Hepatosplenomegalie, Lymphadenopathie, Petechien, Blutungszeichen, Blässe)
- rheumatologische Erkrankungen (Gelenkschwellung, -schmerzen, Hautveränderungen)
- nephrologische Erkrankungen
- chronische und angeborene Leber- und Gallenwegserkrankungen (Ikterus, Splenomegalie)
- Misshandlung/Münchhausen-Syndrom (Nichtansprechen der Behandlung, Verbesserung der Symptomatik bei Trennung von entsprechender Bezugsperson, Bezugsperson gibt vor, Ursachen der Problematik nicht zu kennen/zu verstehen)17
- Interaktionsprobleme von Eltern und Kind
- Hyperkinese (bei neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen).
Ergänzende Untersuchungen
- Keine Indikation für routinemäßige Labordiagnostik und Klinikeinweisung bei Gedeihstörung (Evidenzniveau C18)
- Ursache der Gedeihstörung in nur 1 % der Fälle durch routinemäßige Labordiagnostik identifiziert (Evidenzniveau C1)
- Weiterführende Diagnostik gezielt und in Abhängigkeit von möglicher zugrunde liegender Erkrankung, ggf. nach Rücksprache mit entsprechender Fachambulanz
- Labordiagnostik
- Blutbild mit Differenzierung, BSG, CRP
- Elektrolyte (Na, K, Ca), Eisenstatus
- Lipidstatus (Cholesterin, HDL, LDL, Triglyzeride)
- Leberwerte (GGT, AP, GOT, GPT)
- Nierenfunktion (Kreatinin, Harnstoff)
- Schilddrüsenparameter
- Zöliakie-Serologie
- Vitaminstatus
- Spurenelemente
- Insulin Like Growth Factor (IGF)
- Insulin Like Growth Factor Binding Protein 3 (IGFB3)
- Immunglobuline
- Schweißtest
- Ammoniak
- Laktat
- Urin- und Stuhldiagnostik
- Bildgebung1
- Sonografie (Pylorusstenose, Hernien, Aszites, Raumforderungen etc.)
- ggf. Endoskopie
- ggf. Röntgen zur Skelettalterbestimmung
Maßnahmen und Empfehlungen
Therapieoptionen
- Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.2
- Erhöhung der Nahrungszufuhr
- Ggf. initial parenterale Ernährung bei schwerer Mangelernährung
- Cave: Gefahr des Refeeding-Syndroms mit lebensbedrohlichen Elektrolytverschiebungen, Ödemen, kardialen Funktionsstörungen, Hypoglykämie bei zu schneller und unkontrollierter initialer Ernährung!
- Dauerhafte Ernährung per PEG, Sonde, Pumpe
- Ernährungsberatung und Anpassung der Nahrung an individuellen Bedarf (angereicherte Nahrung, Trinknahrung, Sondennahrung, spezielle Diäten)
- Therapie der Grunderkrankung
Indikationen zur Überweisung
- Indikationen zur stationären Diagnostik und Therapie1,18
- extreme Unsicherheit oder mangelhafter Kompetenz der Eltern (Evidnezniveau C1)
- Versagen ambulanter Therapie (Evidenzniveau C1)
- psychosoziale Risikosituation, Verdacht auf Missbrauch oder Vernachlässigung (Evidenzniveau C1)
- Mangelernährung (LSG 70 %) oder Dehydratation (Evidenzniveau C1)
- pathologische Eltern-Kind-Interaktion
- ernsthafte Grunderkrankung
- Notwendigkeit genauer Dokumentation der Nährstoffzufuhr
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Weitere Informationen
- Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.: Richtwerte für die Energiezufuhr
Quellen
Literatur
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Autoren
- Anne Strauß, Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
- Kurt Østhuus Krogh, spesialist i barnesykdommer, Barne- og ungdomsklinikken, St. Olavs Hospital, Trondheim
- Martin Handeland, seksjonsoverlege, Barnesenteret, Sykehuset i Vestfold HF, Tønsberg