Sportlerhernie

Zusammenfassung

  • Definition:Auflockerung bzw. Verletzung der Fascia transversalis, die die Hinterwand des Leistenkanals bildet.
  • Häufigkeit:Zweithäufigste Ursache für Leistenschmerzen bei Sportler*innen.
  • Symptome:Einseitige Leistenschmerzen, die bei sportlichen Aktivitäten mit hoher Intensität auftreten, besonders bei schnellen Sprints, Drehungen und kräftigen Tritten gegen Ball.
  • Befunde:Auslösung der Schmerzen durch Husten, Niesen sowie durch Aufrichten (Sit-ups/Crunches) und Zusammendrücken der Beine. Keine Vorwölbung in der Leiste zu palpieren (Differenzialdiagnose „echte" Leistenhernie).
  • Diagnostik:Ausschlussdiagnose. Dynamische Sonografie mit Vorwölbung der Fascia transversalis.
  • Therapie:Konservativer Therapieversuch mit Physiotherapie zur Behebung muskulärer Dysbalancen. Bei Therapieversagen chirurgischer Eingriff zur Verstärkung der Hinterwand des Leistenkanals.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Synonyme: Sportlerleiste, weiche Leiste, Athletic Pubalgia
    • im Englischen Benennung nach dem erstbeschreibenen Chirurgen Jerry Gilmore (Gilmore's Groin)
  • Eine der am wenigsten verstandenen, am schlechtesten definierten und nur gering erforschten Erkrankungen bzw. Verletzungen des menschlichen Körpers.1
  • Auflockerung bzw. Verletzung der Fascia transversalis, die die Hinterwand des Leistenkanals bildet.2 
    • typisches Symptom: in Genitalbereich ausstrahlende Leistenschmerzen

Häufigkeit

  • Die 5 häufigsten Ursachen für Leistenschmerzen bei Sportler*innen:3
    • 32 % femoroazetabuläres Impingement
    • 24 % Sportlerhernie
    • 12 % adduktorenassoziierte Pathologie
    • 10 % inguinale Pathologie
    • 5 % Pathologie des Hüftlabrums.
  • Sportlerhernie ist v. a. verbreitet bei Fußball-, American-Football-, Rugby- und Eishockeyspieler*innen.2
  • Unter Männern wesentlich verbreiteter als unter Frauen (9:1) und am häufigsten im Alter von 22–33 Jahren.4

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Hinterwand stellt mechanisch den schwächsten Teil des Leistenkanals dar und besteht aus der Faszie des M. transversus.2
  • Dysbalance zwischen der Adduktoren- und Bauchmuskulatur führt zu relativer Schwäche der Hinterwand.1
    • Mögliche Ursachen für die Dysbalance sind repetitive einseitige Bewegungen wie Treten, Schießen und Hüftdrehungen sowie häufige Richtungswechsel.5
  • Im Verlauf bei chronischer Dysbalance oder auch bei plötzlich starken Scherkräften Einriss der Fascia transversalis
    • Die Einklemmung von Ästen des N. ilioinguinalis oder genitofemoralis führt zu ausstrahlenden Schmerzen.6
  • Zudem kann muskuläre Dysbalance zu erhöhter Spannung der Ansatzsehnen verschiedener Muskeln (oberer Schambeinast Bauchmuskulatur, unterer Schambeinast Adduktoren) am Schambein führen und folglich Schmerzen verursachen.

Prädisponierende Faktoren

  • Sportarten mit explosiven Bewegungen, schnellen Sprints und Richtungswechseln
    • klassischerweise Fußballspielen

ICPC-2

  • L13 Hüftsymptomatik/-beschwerden
  • L81 Verletzung muskuloskelettär NNB

ICD-10

  • M70.9 Nicht näher bezeichnete Krankheit des Weichteilgewebes durch Beanspruchung, Überbeanspruchung und Druck

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Ausschlussdiagnose bei Leistenschmerzen1
  • Einseitige Leistenschmerzen bei Sportler*innen ohne tastbare Vorwölbung
  • Mittels dynamischer Sonografie bei Belastung (Valsalva-Manöver) ist manchmal eine Ausstülpung der hinteren Bauchwand (Fascia transversalis) nachweisbar.2

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Einseitige Leistenschmerzen bei sportlichen Aktivitäten mit hoher Intensität, besonders bei schnellen Sprints, Drehungen und kräftigen Tritten gegen den Ball
  • Schmerzverstärkung durch Husten, Niesen oder Pressen beim Stuhlgang (Erhöhung intraabdomineller Druck)
  • Ausstrahlung in Perineum oder Skrotum möglich
  • In der Regel leichter Symptombeginn, im Verlauf Zunahme der Schmerzen und schließlich Unmöglichkeit, an dem Training oder Wettkämpfen teilzunehmen.7

Klinische Untersuchung

  • Die klinische Untersuchung dient vor allem dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen, z. B.:
    • tastbare Vorwölbung in der Leiste als Hinweis auf Hernie
    • Rückenschmerzen mit radikulärer Symptomatik
    • eingeschränkte Hüftbeweglichkeit als Zeichen für Coxarthrose
  • Lokalisation der Schmerzen
    • Der genaue Schmerzpunkt in der Leiste ist für die Patient*innen meist schwer zu lokalisieren.
    • bei langwierigen Beschwerden oft sekundäre Schmerzen an den Ansätzen der Adduktorenmuskulatur (Ramus inferior vom Os pubis) und des M. rectus abdominis (Ramus posterior vom Os pubis)
  • Schmerzprovokation
    • durch Husten, Niesen sowie durch Aufrichten (Sit-ups/Crunches) und Zusammendrücken der Beine8
  • Äußere Bruchpforte
    • Keine Vorwölbung in der Leiste zu tasten.

Ergänzende Untersuchungen in Hausarztpraxis

  • Laboruntersuchungen sind nicht hilfreich bei der Diagnosestellung.

Weitere Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Es herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit Ultraschall oder MRT verwendet werden sollten.
  • Sonografie
    • Mittels dynamischer Sonografie bei Belastung (Valsalva-Manöver) ist manchmal eine Ausstülpung der hinteren Bauchwand (Fascia transversalis) nachweisbar.2
  • Röntgen
    • Ausschluss Differenzialdiagnosen (Coxarthrose, Hüftdysplasie, Fraktur, femoroazetabuläres Impingement)
  • MRT
    • Anhalt für Insertionstendopathien am Becken?
      • Cave: sekundäre Veränderungen bei Sportlerhernie möglich!

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose bzw. zum Ausschluss anderer Ursachen (z. B. Allgemeinchirurg*in für Leistenhernie oder Urolog*in für Prostatitis)
  • Bei Versagen der konservativen Therapie nach 6–12 Wochen Überweisung zur Evaluation einer OP-Indikation2,6

Checkliste zur Überweisung

Sportlerhernie

  • Zweck der Überweisung
    • Bestätigende Diagnostik? Therapie?
  • Anamnese
    • Wann und wie ist es zur Verletzung gekommen? Entwicklung?
    • Symptome: Leistenschmerzen? Welche Auswirkungen gibt es auf sportliche oder sonstige körperliche Aktivitäten?
    • Weitere relevante Erkrankungen? Regelmäßige Medikamente?
    • Welche Therapien wurden bereits versucht und mit welchem Resultat?
    • Folgen?
  • Klinische Untersuchung
    • Schmerzlokalisierung? Schwellungen? Isometrische Tests?
  • Ergänzende Untersuchungen
    • Evtl. Ergebnisse Ultraschalluntersuchung, Röntgen oder MRT?

Therapie

Therapieziele

  • Schmerzlinderung 
  • Rückkehr zur sportlichen Aktivität

Allgemeines zur Therapie

  • Konservativer Therapieversuch
    • bei Versagen chirurgischer Eingriff mit Verstärkung der Hinterwand des Leistenkanals

Empfehlungen für Patient*innen

  • Reduktion der sportlichen Aktivität bis zum Abklingen der Symptomatik
  • Eisbeutel 3- bis 4-mal tgl. für 20–30 min

Medikamentöse Therapie

  • Bei starken Schmerzen kurzfristig NSAR

Konservative Therapie

  • Physiotherapie mit gezielten isometrischen Übungen zur Behebung der muskulären Dysbalance
  • Cave: Von „Bruchbändern" wird abgeraten!6
    • Gefahr von Darmverletzungen und Verlängerung der Beschwerden möglich

Chirurgische Therapie

  • Bei Versagen der konservativen Therapie nach 6–12 Wochen in Erwägung ziehen.2,6
  • Sowohl ein offenes als auch ein laparoskopisches Vorgehen mit oder ohne Netz zur Verstärkung der Rückwand des Leistenkanals und zur Reparatur der Fascia transversalis sind möglich.
    • kein Konsensus für ein bestimmtes chirurgisches Vorgehen1

Postoperative Rehabilitation und Prävention

  • Drehungen und abrupte Richtungswechsel vermeiden.
  • Mögliches Rehabilitationsprogramm1
    • 1. postoperativer Tag: Ergometertraining bis 50 Watt
    • 2.–6. postoperativer Tag: Ergometertraining bis 200 Watt
    • 7. postoperativer Tag: Beginn mit leichtem Laufen
  • Beginn der sportlichen Aktivität mit Teamtraining nach 2–3 Wochen, nach Fadenzug und Abheilung der Narbe6
  • Fortlaufendes Core-stability-Training 3- bis 4-mal wöchentlich für 6 Monate, danach 1- bis 2-mal pro Woche als Prävention1

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei „ungeduldigen" Patient*innen, die Sport ohne adäquate Behandlung fortsetzen und nicht auf schmerzhafte Aktivitäten vorübergehend verzichten, ist keine Besserung zu erwarten.
  • Bei adäquater Behandlung sehr gute Prognose
    • Die Schwierigkeit besteht in der Regel in der korrekten Diagnosestellung.

Prognose

  • Nach einem chirurgischen Eingriff tritt in bis zu 90 % der Fälle Besserung ein, bei einem kleinen Anteil der Patient*innen sind Rezidive möglich.9-10
    • 87–100 % der operierten Patient*innen erreichen wieder volle sportliche Leistungsfähigkeit.6

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Morales-Conde S, Dudai M, Koch A. Laparo-endoskopische Hernienchirurgie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2018. link.springer.com
  2. Weber MA, Rehnitz C, Ott H, et al. Bildgebung beim Leistenschmerz des Sportlers. Berlin, Heidelberg: Springer, 2017. link.springer.com
  3. De Sa D, Hölmich P, Phillips M, et al. Athletic groin pain: a systematic review of surgical diagnoses, investigations and treatment. Br J Sports Med 2016; 50(19): 1181-6. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Edelman DS, Selesnick H. »Sports« hernia: treatment with biologic mesh (Surgisis): a preliminary study. Surg Endosc 2006; 20: 971-3. PubMed
  5. Meyers WC, McKechnie A, Philippon MJ et al. Experience with »sports hernia« spanning two decades. Ann Surg 2008; 248: 656-65. PubMed
  6. Holzheimer R, Del Santo R. Sportlerhernie. Sportärztezeitung 2020. sportaerztezeitung.com
  7. Meyers WC, Foley DP, Garrett WE et al. Management of severe lower abdominal or inguinal pain in high-performance athletes. PAIN (Performing Athletes with Abdominal or Inguinal Neuromuscular Pain Study Group). Am J Sports Med 2007; 28: 2-8. PubMed
  8. LeBlanc KE, LeBlanc KA. Groin pain in athletes. Hernia 2003; 7: 68. PubMed
  9. Paajanen H, Brinck T, Hermunen H, Airo I. Laparoscopic surgery for chronic groin pain in athletes is more effective than nonoperative treatment: a randomized clinical trial with magnetic resonance imaging of 60 patients with sportsman's hernia (athletic pubalgia). Surgery 2011; 150:99. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Hemingway AE, Herrington L, Blower AL. Changes in muscle strength and pain in response to surgical repair of posterior abdominal wall disruption followed by rehabilitation. Br J Sports Med 2003; 37: 54. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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