Toxisches Schocksyndrom (Toxic Shock Syndrome, TSS)

Zusammenfassung

  • Definition:Das toxische Schocksyndrom ist eine durch bakterielle Exotoxine ausgelöste, immunvermittelte, fulminant verlaufende Multisystemerkrankung bei vorher gesunden Menschen, in der Regel durch eine Staphylokokken- oder Streptokokkeninfektion hervorgerufen.
  • Häufigkeit:Ca. 4/100.000/Jahr; die Inzidenz ist deutlich gesunken.
  • Symptome:Hohes Fieber, Erbrechen, wässrige Diarrhö, Halsschmerzen, Myalgien und Kopfschmerzen bei in der Regel zuvor gesunden Personen.
  • Befunde:Fieber ≥ 38,9 °C, Hypotonie und Exanthem.
  • Diagnostik:Mögliche Zusatzuntersuchung: Nachweis von Staph. aureus.
  • Therapie:Antibiotika und Therapie des Schocks unter intensivmedizinischen Bedingungen. Trotz Behandlung sind schwere Verläufe mit Tod nicht selten.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-3

Definition

  • Das toxische Schocksyndrom (TSS) wird durch Exotoxin-bildende Bakterien verursacht, am häufigsten ist der Ausgangspunkt eine Staphylokokken- oder Streptokokkeninfektion.
  • Gekennzeichnet ist das TSS durch schnell einsetzendes hohes Fieber, Erbrechen, wässrige Diarrhö, Halsschmerzen, Myalgien und Kopfschmerzen bei in der Regel zuvor gesunden Personen. Schock und Multiorganversagen können früh im Verlauf eintreten.
  • Die Krankheit wurde 1980 aufgrund einer Serie menstruationsassoziierter Fälle bekannt (ugs. Tamponkrankheit).
  • Eine frühe Diagnose ist essenziell, da eine lebensbedrohliche Infektion innerhalb von 24–72 Stunden auftreten kann.

Häufigkeit

  • Inzidenz und Prävalenz
    • Die Erkrankung ist selten; Inzidenz ca. 4/100.000/Jahr.
    • Die Inzidenz konnte durch den sachgerechten Gebrauch von Tampons deutlich gesenkt werden.
  • Alter
    • Früher waren häufig Frauen im reproduktionsfähigen Alter, meistens junge Frauen, betroffen.
    • Ein Toxisches Schocksyndrom kann in jedem Alter auftreten. 

Menstruationsbedingtes TSS

  • Im Lauf der Zeit ist der Anteil der menstruationsbedingten Fälle gesunken. 1980 waren mehr als 90 % der Fälle menstruationsbedingt, heute sind es weniger als 1/5.
  • Nachdem hochabsorbierende Tampons vom Markt genommen und Tamponverpackungen mit Packungsbeilagen versehen wurden, die vor TSS warnten und über den richtigen Gebrauch von Tampons informierten, ist die Inzidenz des menstruationsbedingten TSS auf ca. 0,8/100.000 gesunken.

Nichtmenstruationsbedingtes TSS

  • Solche Fälle können auftreten nach Operationen, durch postpartale Wundinfektionen, Mastitis, Sinusitis, Osteomyelitis, Arthritis, Brandverletzungen etc.

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie

  • Ausgangspunkt ist immer ein Infektionsfokus mit toxinproduzierenden Bakterien.
    • Am häufigsten sind Gruppe A-Streptokokken oder Methicillin-sensible (MSSA) bzw. Methicillin-resistente (MRSA) Staphylokokken.
  • Staphylokokken aus Nasopharynx, Vagina, Rektum und Wunden werden mit der Erkrankung in Verbindung gebracht worden.
  • Das menstruationsbedingtes TSS wird meistens auf das Toxic-Shock-Syndrome-Toxin (TSST-1) zurückgeführt.
  • Fälle, die nicht menstruationsbedingt sind, werden oft auf Stämme, die andere Toxintypen produzieren, zurückgeführt.
    • Die Staphylokokken-Enterotoxine B oder C1 können die Erkrankung hervorrufen.

Staphylokokken

  • S. aureus ist ein aerobes, grampositives Bakterium aus der Gruppe der Kokken und ein virulentes Pathogen.
  • Der Organismus verursacht ein weites Spektrum an Infektionen, von Follikulitiden und Hautabszessen bis hin zu Bakteriämie und Endokarditis.
  • Die Erreger siedeln sich auf der Haut und in den Schleimhäuten bei 30–50 % der gesunden Erwachsenen und Kindern an, zumeist im vorderen Teil von Nase, Haut, Vagina und Rektum.
  • S. aureus kann das Gewebe infiltrieren und eine Reihe von Enzymen produzieren, die Entzündungen und Abszesse induzieren.
  • Die Exotoxine von S. aureus können folgende Symptome hervorrufen:
    • Lebensmittelvergiftung: verursacht durch Aufnahme von S.-aureus-Enterotoxin
    • „Scalded Skin Syndrome“: verursacht durch ein exfoliatives Toxin
    • TSS: verursacht durch Toxic-Shock-Syndrome-Toxin-1 (TSST-1) und andere Toxine.
  • Exotoxine führen in ihrer Eigenschaft als Superantigene zu Erkrankungen. Superantigene sind Moleküle, die große Mengen T-Zellen aktivieren, bis zu 20 % aller zur gleichen Zeit gebildeten T-Zellen, was zu einer massenhaften, unkontrollierten Zytokinproduktion führt.

Prädisponierende Faktoren

  • Tamponnutzung
  • Gynäkologischer/chirurgischer Eingriff
  • Postpartum-Infektion
  • Invasive Streptokokkeninfektion

ICPC-2

  • A86 Toxischer Effekt nichtmedizinischer Substanz

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20224
    • A48.3 Syndrom des toxischen Schocks

Diagnostik

Diagnostische Kriterien streptokokkenbedingtes TSS (STSS)

Hypotonie

  • Erwachsene: RR systolisch ≤ 90 mmHg
  • < 16-Jährige: RR systolisch < 5. Perzentile nach Alter

Multisystem-Manifestation

  • Mindestens zwei der folgenden Organe sind beteiligt:
  • Niere
    • Erwachsene: Kreatinin ≥ 2 mg/dl (≥ 176,78 µmol/l)
    • Kinder und Jugendliche: ≥ 2-fach gegenüber dem oberen altersentsprechenden Grenzwert erhöht
    • bei renaler Vorerkrankung: ≥ 2-fach gegenüber dem Ausgangswert erhöht
  • Gerinnung
  • Leber
    • Bilirubin ODER GOT ODER GPT ≥ 2-fach gegenüber dem oberen altersentsprechenden Grenzwert erhöht
    • bei Lebervorerkrankung: ≥ 2-fach gegenüber dem Ausgangswert erhöht
  • Lunge
    • akutes Lungenversagen, auch als akutes respiratorisches Distress-Syndrom (ARDS) oder akutes Atemnotsyndrom bezeichnet
      • akut aufgetretene diffuse Infiltrate und Hypoxämie in Abwesenheit von Herzinsuffizienz ODER
      • Hinweise auf diffuses Kapillarleck: akut aufgetretene generalisierte Ödeme ODER Pleuraerguss ODER Aszites mit Hypoalbuminämie
  • Haut
    • generalisiertes makulöses erythematöses Exanthem
      • Erinnert an einen Sonnenbrand.
      • besonders auf Handflächen und Fußsohlen
      • Abschuppungen an Fußsohlen und Handflächen treten in der Regel im Laufe von 1–3 Wochen nach Beginn der Erkrankung auf.
    • evtl. Verlust von Haaren und Nägeln bis zu 1–2 Monate später
      • Diese wachsen innerhalb eines halben Jahres nach.
    • evtl. periphere Ödeme

Nachweis von Gruppe-A-Streptokokken

  • STSS wahrscheinlich, wenn folgende Kriterien zutreffen:
    • klinische Kriterien erfüllt (s. o.)
    • Keine andere Erkrankung, die die Symptome erklärt.
    • Erregernachweis aus unsterilem Probenmaterial, z. B. Wund- oder Vaginalabstrich
  • STSS sicher, wenn folgende Kriterien zutreffen:
    • klinische Kriterien erfüllt (s. o.)
    • Erregernachweis aus sterilem Probenmaterial, z. B. Blut, Liquor cerebrospinalis oder pericardii, Synovialflüssigkeit, Pleuraflüssigkeit

Diagnostische Kriterien sonstiges TSS

Fieber

  • T ≥ 38,9 °C

Exanthem

  • Diffuses makulöses erythematöses Exanthem

Hautabschuppung

  • 1–2 Wochen nach Auftreten des Exanthems

Hypotonie

  • Erwachsene: RR systolisch ≤ 90 mmHg
  • < 16-Jährige: RR systolisch < 5. Perzentile nach Alter

Multisystem-Manifestation

  • Mindestens drei der folgenden Organe sind beteiligt:
  • Verdauungstrakt
    • von Anfang an Erbrechen oder Diarrhö
    • oft hoher Schweregrad der Symptome
  • Muskulatur
    • schwere Myalgie ODER
    • Kreatinkinase (CK) ≥ 2-fach gegenüber dem oberen Grenzwert erhöht
  • Schleimhäute
    • Läsionen, Entzündung
      • Vagina: Hyperämie
      • Oropharynx
    • Konjunktivitis, konjunktivale Blutung
  • Niere
    • Kreatinin ODER Harnstoff ≥ 2-fach gegenüber dem oberen Grenzwert erhöht ODER
    • Nachweis von Harnsediment bei Pyurie (Harn getrübt, Leukos stark erhöht), ohne dass ein Harnwegsinfekt vorliegt.
  • Leber
    • Bilirubin ODER GOT ODER GPT ≥ 2-fach gegenüber dem oberen Grenzwert erhöht
  • Blut
  • ZNS

Laborkriterien

  • Blut- und ggf. zusätzliche Liquorkultur negativ
    • Ausnahme: Blutkultur kann für Staphylococcus aureus positiv sein.
  • Serologie negativ für:
  • TSS wahrscheinlich:
    • Laborkriterien und 4–5 der klinischen Kriterien erfüllt
  • TSS sicher:
    • Laborkriterien und alle 5 klinischen Kriterien erfüllt, einschließlich Hautabschuppung

Differenzialdiagnosen

  • Gramnegative Sepsis
    • kein Erythem mit Hautabschuppung
    • häufigeres Nierenversagen infolge der Hypotonie
    • Kultur positiv für gramnegative Keime, z. B.:
      • E. coli
      • Klebsiella pneumoniae
      • Pseudomonas aeruginosa.
  • Meningokokkeninfektion
    • hinweisend: Petechien, typische Purpura, Meningitis
    • Neisseria meningitides in Blut- oder Liquorkultur
  • Pneumonie
  • Rocky-Mountains-Fleckfieber
    • meistens starke Kopfschmerzen
    • meistens Petechien
    • schnelle Progression
    • positive Serologie für Rickettsia rickettsii
  • Leptospirose
    • Das klinische Bild kann dem des TSS sehr ähnlich sein.
    • evtl. asymptomatische Intervalle
    • Blutkultur nur bedingt geeignet
      • geringe Sensitivität
      • Spezialmedium erforderlich
      • bis zu 6 Wochen Inkubation
    • Indirekter Hämagglutinintest (Mikroagglutinationstest) und IgM-ELISA sind spezifisch für akute Leptospireninfektionen.
  • Hitzschlag
    • Unspezifische Zeichen können sowohl beim Hitzschlag als auch bei TSS auftreten:
      • Fieber
      • Hypovolämie
      • Verwirrtheit
      • Erythem
    • Die Anamnese ist entscheidend für die Diagnose (Hitzeexposition).
  • Weitere Differenzialdiagnosen

Anamnese

Klinische Untersuchung

  • Vitalfunktionen?
  • Bewusstsein? Kognitive Funktionen?
  • Körpertemperatur
  • Auskultation und Perkussion Thorax
  • Inspektion der Haut und Schleimhäute, inkl. Konjunktiven
    • Exanthem?
    • Petechien?
    • Ödeme?
  • Orientierende neurologische Untersuchung inkl. Kraftprüfungen

Ergänzende Untersuchungen in der Klinik

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Sofort bei Verdacht auf ein TSS
  • Notfalleinweisung bei Schock in eine Klinik mit Intensivmedizin

Indikationen zur Überweisung

  • In Fällen, in denen weder die diagnostischen Kriterien streptokokkenbedingtes TSS (STSS) noch die diagnostischen Kriterien sonstiges TSS erfüllt sind:
    • ggf. Gynäkologische Untersuchung zur Abklärung möglicher Differenzialdiagnosen zum menstruationsassoziierten TSS bei Läsionen oder Entzündungszeichen im Genitalbereich
    • ggf. HNO-ärztliche Untersuchung, z. B. bei Hinweisen auf Fremdkörper in der Nase
    • je nach betroffenem Organsystem ggf. auch Abklärung Pulmologie, Nephrologie, Hepatologie, Hämatologie, Kardiologie, Neurologie, Dermatologie u. a.

Therapie

Therapieziele

Medikamentöse Therapie

  • Behandlung des Schocks3,5-6
  • Antibiotika intravenös – empirische Notfallbehandlung mit:
    • Imepenem/Cilastatin 500 mg i. v. alle 6 Stunden ODER
    • Meropenem 1 g i. v. alle 8 Stunden ODER
    • Ticarcillin/Clavulansäure 3,1 g i. v. alle 4 Stunden ODER
    • Piperacillin/Tazobactam 4,5 g i. v. alle 6 Stunden ODER
    • Vancomycin 15–20 mg/kg i. v. alle 12 Stunden.

Operative Therapie

  • Drainage eines evtl. Infektionsherds
  • Weiträumiges Debridement und Sanierung von infizierten Wunden/Gewebe
  • Bei nekrotisierender Fasziitis meist weitere Folgedebridements notwendig
  • Ist bei Verdacht auf STSS in den meisten Fällen angezeigt.
  • Bei weiterem Fortschreiten sind u. U. Fasziotomie oder Amputation notwendig.

Prävention

  • Gute Wundhygiene
  • Tampons regelmäßig wechseln. Tampons sollten nicht länger als 12 Stunden verwendet werden.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Oft hyperakuter Krankheitsbeginn
  • Kann schnell lebensbedrohlich verlaufen und erfordert Intensivbehandlung.

Komplikationen

Prognose

  • Streptokokken-TSS
    • unbehandelt hohe Mortalität
    • Mortalität von 30–85 % trotz rascher Antibiotikabehandlung
    • noch höhere Mortalität bei nekrotisierender Fasziitis und TSS
  • Staphylokokken-TSS
    • Die Mortalität bei tamponassoziiertem TSS liegt unter 2 %.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Sepsis-Gesellschaft (DSG). Sepsis – Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge. AWMF-Leitlinie Nr. 079-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org

Literatur

  1. Khayr W. Toxic shock syndrome. BMJ BestPractice. Last reviewed: 13 Apr 2022, last updated: 16 Feb 2022. bestpractice.bmj.com
  2. Ross A, Shoff HW. Toxic Shock Syndrome. In: StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; August 11, 2021. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Stevens DL, Bisno AL, Chambers HF, et al. Practice guidelines for the diagnosis and management of skin and soft tissue infections: 2014 update by the infectious diseases society of America. Clin Infect Dis 2014; Jul 15. 59(2): 147-59. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 13.05.2022. www.dimdi.de
  5. Dellinger RP, Carlet JM, Masur H, et al. Surviving Sepsis Campaign guidelines for management of severe sepsis and septic shock. Crit Care Med 2013; Feb;41(2): 580-637. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Deutsche Sepsis-Gesellschaft (DSG): Sepsis - Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge. AWMF-Leitlinie 079 – 001. S3, Stand 2018. www.awmf.org

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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