Post-Polio-Syndrom

Das Post-Polio-Syndrom äußert sich durch Muskelschwäche, erhöhte Muskelermüdung, Muskel- und Gelenkschmerzen in Ruhe- und Belastungszuständen, allgemeine Erschöpfung und Funktionseinschränkungen. Das Post-Polio-Syndrom entwickelt sich frühestens 15 Jahre nach einer akuten Polio-Infektion mit Lähmungen.

Was ist das Post-Polio-Syndrom?

Definition

Das Post-Polio-Syndrom (PPS) ist eine Erkrankung, die Jahre nach einer akuten Poliomyelitis auftreten kann. Es tritt in den meisten Fällen frühestens 15 Jahre nach der Erkrankung auf. Es können eine Vielzahl neurologischer Symptome und Beschwerden des Bewegungsapparates sowie weitere Symptome auftreten.

Symptome

Am häufigsten besteht eine allgemeine starke Müdigkeit (Fatigue). Sie tritt bei 80 % der Betroffenen auf und beginnt meistens am frühen Nachmittag. Nach kleinster Anstrengung kommt es zu Erschöpfung. Die Beschwerden bessern sich durch Ruhe und Schlaf.

Körperliche Schwäche äußert sich normalerweise in bereits schwacher oder geschwächter Muskulatur. Bei den meisten Patient*innen kommt es zu einer zunehmenden Schwäche bereits betroffener Muskeln. Die Muskelschwäche ist häufig asymmetrisch.

Auch die Zungen-, Schlund- und Kehlkopfmuskulatur kann betroffen sein und zu einer Sprech- und Schluckstörung und Heiserkeit führen.

Typisch sind auch Schmerzen infolge von Gelenkverschleiß (Arthrose), Fehlbildungen oder Haltungsschäden, die auf Folgeschäden der ursprünglichen Polioerkrankung beruhen können. Ist es z. B. in der Kindheit zur Ausbildung einer Skoliose oder Beinlängendifferenz gekommen, kann dies in der Folge Schmerzen in Muskeln und Gelenken verursachen. Muskeln können durch die Erkrankung dauerhaft zurückgebildet und in ihrer Funktion eingeschränkt sein (Atrophie).

Die stärksten Schmerzen treten meistens in Knien, Handgelenken, Kopf, Rücken, Beinen auf. Grund ist eine Überanstrengung/Belastung bereits geschwächter Muskulatur, oder Muskelgruppen, die für geschwächte Muskeln kompensieren.

Von Verschleißerscheinungen können auch Bandscheiben betroffen sein, auf Nervenwurzeln drücken und so zu Nervenschmerzen führen. Die orthopädisch-neurologischen Beschwerden führen sehr häufig zu Gehschwierigkeiten bzw. einer Gangunsicherheit.

Das Post-Polio-Syndrom ist keine lebensbedrohliche Erkrankung, kann aber bei unbehandelter Schwäche der Atemmuskulatur oder Schluckstörungen zu einer Lungenentzündung führen. Atembeschwerden treten häufiger bei Personen auf, die in der Akutphase der Erkrankung älter als 10 Jahre waren. Vor allem die nächtliche Lungenbelüftung ist eingeschränkt. Dadurch kann es zu unruhigem Schlaf, nächtlichem Erwachen, morgendlichen Kopfschmerzen und Müdigkeit, sowie Probleme mit der geistigen Leistungsfähigkeit kommen.

Auch das Auftreten einer obstruktiven Schlafapnoe ist möglich. 53 % der Betroffenen leiden an einer Depression mit gedrückter Stimmung, Antriebslosigkeit, Schuldgefühlen, Schlaflosigkeit und innerer Unruhe. Bei 36 % der Patient*innen tritt ein Restless-Legs-Syndrom auf, das den Schlaf zusätzlich negativ beeinflussen kann. Seltenere Symptome sind beispielsweise eine ausgeprägte Kälteempfindlichkeit, Zuckungen und Krämpfe der Muskulatur sowie Schwellungen der Beine und Füße.

Das Post-Polio-Syndrom ist nicht ansteckend.

Ursachen

Bei der akuten Poliomyelitis kommt es zum Untergang von motorischen Nervenzellen, die Muskeln ansteuern. Dadurch kommt es zum Gewebeschwund von Muskeln und zum Verlust der Muskelkraft (Lähmung).

Es ist bisher nicht genau geklärt, wie das Post-Polio-Syndrom entsteht, es gibt verschiedene Hypothesen: Möglicherweise kommt es durch Aussprossen von Nervenfasern aus erhaltenen Nerven und Stoffwechselvorgängen zur Überlastung der motorischen Einheit. Das ist die funktionelle Einheit aus Nervenzelle, Nervenfaser und Muskelfasern, die die Muskelbewegung steuert. Weitere mögliche Ursachen könnten normale Alterungsprozesse sein, die zum Verlust von motorischen Einheiten führen, die Reaktivierung von Polioviren, die im zentralen Nervensystem verblieben sind, chronische Entzündungen mit Polio, autoimmune Prozesse oder genetische Veränderungen.

Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Post-Polio-Syndroms ist größer bei höherem Lebensalter zum Zeitpunkt der ursprünglichen Infektion mit Polio; wenn Atemlähmungen, Lähmungen der Zungenmuskulatur, der Schlundmuskulatur oder des Kehlkopfes auftraten, bei Übergewicht und bei Medikamenten, die die Funktion des Immunsystems vermindern (Immunsuppressiva).

Häufigkeit

Europa ist seit 2002 poliofrei. 80 % der Weltbevölkerung leben in einem poliofreien Land. In Deutschland leben zehntausende Überlebende früherer Polio-Epidemien und schätzungsweise 10.000–50.000 Betroffene mit Post-Polio-Syndrom.

Es wird davon ausgegangen, dass das Post-Polio-Syndrom bei rund 20–50 % aller Patient*innen mit zurückliegender Poliomyelitis-Erkrankung auftritt.

Rund 50 % der Personen mit zurückliegender Poliomyelitis beschreiben im Verlauf neue Symptome wie Schwäche, Erschöpfung (Fatigue) und Konzentrationsschwierigkeiten.

Nur bei 20 % der Patient*innen mit zurückliegender Poliomyelitis tritt eine neue progressive Muskelschwäche auf. Eine Atemlähmung tritt bei weniger als 5 % aller Patient*innen mit Post-Polio-Syndrom auf.

Das Post-Polio-Syndrom tritt etwas häufiger bei Frauen als bei Männern auf.

Untersuchungen

Eine Voraussetzung für die Diagnose ist, dass die betroffene Person bereits an Polio erkrankt war. Die Schilderung der Beschwerden ist für die behandelnden Ärzt*innen hinweisend auf das Post-Polio-Syndrom (siehe Abschnitt Symptome).

Die Krankengeschichte sowie die Befunde der ärztlichen Untersuchung führen häufig zur sicheren Diagnose, müssen in den meisten Fällen aber noch durch eine Messung der elektrischen Muskelaktivität (Elektromyografie; EMG) ergänzt werden. Mithilfe der EMG lässt sich feststellen, wo die Polio-Erkrankung den Körper angegriffen hat und bis zu welchem Grad das Post-Polio-Syndrom fortgeschritten ist.

Blutuntersuchungen können sinnvoll sein, um andere Krankheiten auszuschließen. Zusätzlich können weitere Untersuchungen z. B. eine Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt werden. Eventuell wird auch eine Untersuchung des Hirnwassers (Liquor) erfolgen. Bei Unklarheit bzw. zur Abgrenzung anderer Erkrankungen kann eine Muskelbiopsie (Gewebeprobe) notwendig sein.

Bei Einschränkungen der Atmung kann eine Lungenfunktionsprüfung oder bei schlafbezogenen Atemstörungen die Untersuchung in einem Schlaflabor erfolgen.

Behandlung

Ziel der Behandlung beim Post-Polio-Syndrom ist es, die Funktionsfähigkeit und die Lebensqualität der Patient*innen mithilfe verschiedener Maßnahmen zu verbessern.
Die Muskulatur soll gestärkt und ein Fortschreiten der Funktionsminderung verhindert werden. Dies wird in einem Rehaprogramm umgesetzt.

Reha-Maßnahmen

Zur Reha gehören Informationen und Aufklärung über das Post-Polio-Syndrom, eine individuelle Anpassung körperlicher Tätigkeiten und spezifische Trainingsprogramme (Physiotherapie, Physikalische Therapie, Egotherapie, ggf. Logopädie), die Anpassung des Alltags sowie Maßnahmen, die das Berufsleben betreffen.

Weitere Schritte sind die Prüfung einer Notwendigkeit von Mobilitätshilfen, Orthesen oder anderen Hilfsmitteln, eine Schmerztherapie und mögliche Maßnahmen der Kostenträger und anderer Einrichtungen.

Bei schlafbezogenen Atemstörungen kann eine Unterstützung der Atmung durch ein Beatmungsgerät mit Maske sinnvoll sein (CPAP-Beatmung).

Medikamente

Gegen Schmerzen des Bewegungsapparates können Schmerzmittel eingenommen werden. Lamotrigin, ein Medikament gegen Epilepsie, kann ggf. gegen Schmerzen und Müdigkeit wirken und so die Lebensqualität verbessern.

Post-Polio-Patient*innen wurden testweise mit hohen Dosen Immunglobulin behandelt. Bei einem Teil schien sich die Therapie positiv auf Schmerzen und Müdigkeit auszuwirken; es fehlen allerdings weitere Forschungsergebnisse, die die genaue Wirksamkeit der Behandlung sicher bestätigen können.

Besteht ein Restless-Legs-Syndrom können Medikamente dagegen verordnet werden (Dopaminagonisten, Antiepileptika).

Prognose

Das Post-Polio-Syndrom verläuft bei den meisten Patient*innen langsam über viele Jahrzehnte. Phasen von 3 bis 10 Jahren, die stabil verlaufen, können dazwischen liegen.

Geeignete Reha-Maßnahmen können dazu beitragen, die Entwicklung der verschiedenen Post-Polio-Symptome zu verlangsamen.

Weitere Informationen

Autorin

  • Susanna Allahwerde, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Berlin

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit

Literatur

Dieser Artikel basiert auf dem Fachartikel Post-Polio-Syndrom. Nachfolgend finden Sie die Literaturliste aus diesem Dokument.

  1. Simionescu L, Modlin JF. Post-polio syndrome. UpToDate, last updated Mar 7, 2022. www.uptodate.com
  2. Post-Polio-Syndrom. In: Hufschmidt A, Rauer S, Glocker F (Hrsg). Neurologie compact. 9., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022.
  3. Li Hi Shing S, Chipika RH, Finegan E, Murray D, Hardiman O, Bede P. Post-polio Syndrome: More Than Just a Lower Motor Neuron Disease. Front Neurol. 2019 Jul 16;10:773. doi: 10.3389/fneur.2019.00773. PMID: 31379723; PMCID: PMC6646725. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Kedlaya D. Postpolio Syndrome. Medscape. Updated March, 18 2021. (letzter Zugang: 23.06.2022) emedicine.medscape.com
  5. Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Nichtinvasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz. S2k-AWMF-Leitlinie Nr. 020-008. Stand 2017. www.awmf.org
  6. Meyer R. Post-Polio-Syndrom: Eine häufig übersehene Entität. Dtsch Arztebl 2000; 97(7): A-357 / B-301 / C-281. www.aerzteblatt.de
  7. Chu ECP, Lam KKW. Post-poliomyelitis syndrome. Int Med Case Rep J. 2019 Aug 8;12:261-264. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Baj A, Monaco S, Zanusso G, et al. Virology of the post-polio syndrome. Future Virology 2007; 2: 183-92. www.researchgate.net
  9. Werhagen L, Borg K. Impact of pain on quality of life in patients with post-polio syndrome. J Rehabil Med. 2013 Feb. 45(2):161-3. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Weber MA, Schönknecht P, Pilz J, Storch-Hagenlocher B. Postpolio-Syndrom-Neurologische und psychiatrische Aspekte. Nervenarzt 2004. 75:347–354. www.klinikum.uni-heidelberg.de
  11. Gonzalez H, Khademi M, Andersson M et al. Prior poliomyelitis - evidence of cytokine production in the central nervous system. J Neurol Sci 2002; 205: 9-13. PubMed
  12. Dalakas MC. Pro-inflammatory cytokines and motor neuron dysfunction: is there a connection in post-polio syndrome? J Neurol Sci 2002; 205: 5-8. PubMed
  13. Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellendorf. Post-Polio-Syndrom. Behandlungskonzepte. (Zugang 16.06.2022) www.sana.de
  14. Howard RS. Poliomyelitis and the pospolio syndrome. BMJ 2005; 330: 1314-9. PubMed
  15. Howard RS, Davidson C. Long term ventilation in neurogenic respiratory failure. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2003; 74(suppl III): iii24-30. www.ncbi.nlm.nih.gov