Vergiftung durch Benzodiazepine

Zusammenfassung

  • Definition:Einnahme von Benzodiazepinen in toxischer Dosis, evtl. kombinierte Vergiftung mit anderen Substanzen.
  • Häufigkeit:Ist eine häufige Vergiftung.
  • Symptome:Schnell auftretende Symptome sind Ataxie, Dysarthrie, Schwindel, Übelkeit, Muskelschwäche, Somnolenz bis Koma, Atemdepression, z. T. Miosis.
  • Therapie:Bei der Behandlung steht die symptomatische Therapie im Vordergrund, insbesondere ist auf Erhaltung der Atem- und Kreislauffunktionen zu achten. Die Indikation zur stationären Einweisung sollte großzügig gestellt werden. Zur Aufhebung der zentraldämpfenden Wirkungen von Benzodiazepinen und ähnlich wirkenden Substanzen steht der spezifische Benzodiazepin-Antagonist Flumazenil zur Verfügung. Die Gabe von Aktivkohle innerhalb der ersten Stunde kann bei wachen Patient*innen mit intakten Schutzreflexen sinnvoll sein.

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Allgemeine Informationen

Definition

  • Einnahme von Benzodiazepinen in toxischer Dosis, evtl. kombinierte Vergiftung mit anderen Substanzen
  • Die Überdosis kann in suizidaler Absicht, bei Missbrauch oder durch einen Medikationsfehler eingenommen worden sein.1
  • Siehe gesonderten Artikel zu Vergiftungen mit Benzodiazepinagonisten.

Häufigkeit

  • Zwischen 2014 und August 2020 wurden 267.260 GKV-Versicherten ein Benzodiazepin oder eine Z-Substanz verordnet.2
    • 160.243 erhielten ein Benzodiazepin-Anxiolytikum, 17.302 ein Benzodiazepin-Hypnotikum/Sedativum.
    • 38 % der Verordnungen waren Privatverordnungen.
  • Vergiftungen mit Benzodiazepinen und benzodiazepinähnlichen Substanzen (Z-Substanzen) kommen häufig vor.3
  • Die Letalität bei reiner Benzodiazepinvergiftung ist niedrig.1
  • Vergiftungen mit Benzodiazepinen entstehen häufig in Kombination mit anderen Arzneimitteln, Betäubungsmitteln oder Alkohol; in diesen Fällen ist die Letalität höher.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Das folgende Kapitel basiert auf diesen Referenzen.1,3
  • Benzodiazepine werden häufig verschrieben.
    • Überdosierungen können die Folge einer absichtlichen Einnahme in suizidaler Absicht, eines Missbrauchs oder einer versehentlichen falschen Dosierung sein.

Pathophysiologie

  • Benzodiazepine stimulieren GABA-Rezeptoren.
    • GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist ein hemmender Neurotransmitter.
    • Die Bindung von Benzodiazepinen an den GABA-Rezeptor potenziert die hemmenden Wirkungen von GABA.
    • Klinische Effekte sind u. a. Schlafanstoß, Beruhigung, Anxiolyse, antikonvulsive Wirkung, generelle ZNS-Dämpfung.
    • selten paradoxe Reaktion mit starker Agitiertheit bei Betroffenen mit psychiatrischen Vorerkrankungen, Kindern und Hochbetagten 
  • Benzodiazepine sind eine heterogene Gruppe, manche werden im Körper erst in aktive Metaboliten umgewandelt.
  • Benzodiazepine verstärken die zentral dämpfende Wirkung von Alkohol, Opiaten und anderen Psychopharmaka.

Pharmakokinetik

  • Benzodiazepine werden gastrointestinal leicht resorbiert, und die Zeit, die bis zum Eintreten der Wirkung vergeht, wird in erster Linie davon bestimmt, wie schnell das Medikament vom Darm resorbiert werden kann.
    • Diazepam erreicht seine maximale Plasmakonzentration nach 1 Stunde und hat eine Halbwertszeit von 24–48 Stunden.
    • Lorazepam hat seinen Plasmapeak nach 2–3 Stunden, bei einer Halbwertszeit von 12–16 Stunden.
  • Benzodiazpine sind zu 70 % proteingebunden.
    • Die ungebundene Fraktion passiert die Blut-Hirn-Schranke und wirkt auf Benzodiazepin-Rezeptoren im ZNS.

Toxizität

  • Die Hauptauswirkung einer Benzodiazepinüberdosierung ist eine ausgeprägte Sedierung.
    • Größere Dosen können zu Koma, Atemdepression oder in seltenen Fällen auch zum Tod führen, besonders bei Mischintoxikationen mit Alkohol oder Opioiden.

Prädisponierende Faktoren

  • Der folgende Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Depression
  • Suizidalität
  • Benzodiazepinmissbrauch
  • Alkoholmissbrauch
  • Opioidmissbrauch (oft zusätzlicher Missbrauch von Benzodiazepinen, erhöhtes Risiko für eine Überdosis mit beiden Substanzklassen)
  • Polypharmazie
  • Alter (häufig eingeschränkte Medikamentenclearance, Polypharmazie: erhöhte Gefahr der Toxizität)
  • Schwere Lebererkrankung: geringer Benzodiazepindosen bereits toxisch

ICPC-2

  • A84 Vergiftung durch medizinische Substanz

ICD-10

  • T36–T50 Vergiftungen durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen
    • T42.4 N05 B A Vergiftung durch Anxiolytika – Benzodiazepinderivate (angegeben mit ATC-Code für anxiolytische Benzodiazepinderivate)
      • T42.4 N05 B A 01 Vergiftung durch Diazepam
      • T42.4 N05 B A 04 Vergiftung durch Oxazepam
      • T42.4 N05 B A 12 Vergiftung durch Alprazolam
    • T42.4 N05 C D Vergiftung durch Sedativa und Hypnotika – Benzodiazepinderivate (angegeben mit ATC-Code für hypnotische und sedierende Benzodiazepinderivate)
      • T42.4 N05 C D 02 Vergiftung durch Nitrazepam
      • T42.4 N05 C D 03 Vergiftung durch Flunitrazepam
      • T42.4 N05 C D 08 Vergiftung durch Midazolam

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
  • ZNS-Depression/Vigilanzsstörung, in der Regel ohne Beeinträchtigung der Vitalparameter und ohne fokale Zeichen
  • Fremdanamnestische Hinweise auf Benzodiazepinüberdosierung oder andere Hinweise z. B. eine Verschreibung, ein Abschiedsbrief

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
  • Ggf. Fremdanamnese
    • Zeitpunkt der Einnahme und eingenommene Menge
    • Welcher Wirkstoff wurde eingenommen? (Medikamentenpackung und Blister aufheben)
    • zusätzlich eingenommene Substanzen (Alkohol) und Medikamente
    • Wurden die Tabletten in suizidaler Absicht eingenommen?
    • bekannte Anwendung oder Missbrauch von Benzodiazepinen
  • Vorliegen von Risikofaktoren
    • bekannte Depression
    • Vorgeschichte mit Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch oder Polytoxikomanie
    • bekannte Benzodiazepineinnahme
    • bekannte Einnahmeprobleme/Dosierungsfehler
    • Begleiterkrankungen (Überdosen mit zunehmendem Alter und gestörter Leberfunktion häufiger)
    • Suizidalität in der Vorgeschichte
    • Einnahme unbekannter Substanzen in der Vorgeschichte
  • Veränderter Geisteszustand
    • Vigilanzstörung
    • Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung
    • unangemessenes Verhalten
    • gestörtes Urteilsvermögen
    • Stimmungslabilität
    • nach Einnahme großer Dosen: Koma und Atemdepression (besonders bei Mischintoxikation)
    • selten paradoxe Reaktion mit starker Agitiertheit bei Betroffenen mit psychiatrischen Vorerkrankungen, Kindern und Hochbetagten
    • Es kann auch zu Ataxie, Dysarthrie, Schwindel, Nystagmus, Mydriasis, Muskelhypotonie und Blutdruckabfall kommen.

Klinische Untersuchung

  • Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
  • Verwaschene Sprache, gestörte Koordination, instabiler Gang
  • Aufmerksamkeits- und/oder Gedächtnisstörung
  • Pupillenreaktion (Mydriasis)
  • Beurteilung der Vigilanz
  • Abgeschwächte Reflexe (selten auch Hyperreflexie bei paradoxer Übererregung)

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Der folgende Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Blutdruck
  • SaO2
  • Atemfrequenz
  • Puls
  • Quantitative Benzodiazepinbestimmungen in Blut oder Urin sagen nichts über das Ausmaß und die Wirkung einer Überdosis aus (z. B. durch Toleranzeffekte bei Gewöhnung).3

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Einweisung ins Krankenhaus bei Verdacht auf Überdosierung
  • Die Indikation ist auch hinsichtlich der Differenzialdiagnosen der Vigilanzminderung eher großzügig zu stellen.

Therapie

Therapieziele

  • Überwachung und Sicherstellung der Vitalfunktionen
  • Symptomatische Behandlung und Verringerung der toxischen Wirkung des Benzodiazepins
  • Verhinderung eines schweren Verlaufs

Allgemeines zur Therapie

  • GIFTNOTRUF- UND INFORMATIONSZENTREN
    • Bieten Informationen für Ärzt*innen und Angehörige in Fällen von Vergiftungen.
    • Telefonnummern und Adressen finden Sie hier.
    • Genaue Angaben zu Wirkstoff, eingenommener Menge und Einnahmezeitpunkt bereithalten.1
  • Zuerst allgemeine Erste-Hilfe-Maßnahmen, dann spezifische Behandlung
    • Atemwege freihalten, Sauerstoffgabe, Kreislaufunterstützung, ggf. Beatmung.1
  • Im Normalfall ist bei Monointoxikation keine Dekontamination nötig.3
  • Leichte bis mittelschwere Vergiftungen können bei hohen Dosen, insbesondere bei langwirksamen Benzodiazepinen durch Gabe von Aktivkohle behandelt werden.3-4 
    • innerhalb der ersten Stunde nach Einnahme bei wachen Patient*innen mit intakten Schutzreflexen
  • Bei schweren Vergiftungen ist die Verabreichung eines Gegenmittels (Flumazenil) indiziert, evtl. auch andere Antidote bei Mischintoxikationen.
    • bei Patient*innen mit reiner Benzodiazepinintixikation und schwerer Atemdepression1
  • Komplikationen vermeiden.
    • Die Induktion von Erbrechen ist bei vigilanzgeminderten Betroffenen kontraindiziert.
    • Die Gabe von Aktivkohle ist bei vigilanzgeminderten Betroffenen oder solchen mit vermindertem Schluckreflex kontraindiziert.4
  • Einweisung zur Überwachung frühzeitig erwägen.

Empfehlungen für Patient*innen

Medikamentöse Therapie

Aktivkohle

  • Die orale Gabe von Aktivkohle ist zur Resorptionshemmung von Benzodiazepinen möglich und umso erfolgversprechender, je früher (möglichst innerhalb von 60 min) diese erfolgt.
    • Sollte bei Vigilanzminderung jedoch nicht angewendet werden.5
    • Die initiale Dosis ist 50 g.4
    • Cave: Aspirationsgefahr bei zunehmender Bewusstseinstrübung!3

Flumazenil

  • Spezifischer Antagonist für die Benzodiazepin-Bindungsstelle im GABA-Rezeptorkomplex und Antidot bei Benzodiazepin-Intoxikationen1
  • Einsatz auch bei paradoxer Reaktion3
  • Einsatz ist bei Vergiftungen mit Atemhemmung und/oder Somnolenz zur Vermeidung einer Intubation gerechtfertigt.1,3
  • Vorsichtsmaßnahmen
    • Sollte nicht bei Betroffenen mit niedriger Krampfschwelle verabreicht werden.6
      • Die Krampfschwelle kann auch bei Mischintoxikation mit trizyklischen Antidepressiva herabgesetzt sein.1
    • Kann bei Benzodiazepinabhängigkeit Entzugssymptome auslösen.1,3
  • Kontraindikationen
    • Bei Vorliegen einer akuten Kopfverletzung sollte kein Flumazenil verabreicht werden.7
    • keine Verwendung bei V. a. Mischintoxikation mit unbekannten Substanzen1
    • keine Verwendung als diagnostischer Test1
    • verbreiteter QRS-Komplex im EKG1
  • Überwachung
    • Flumazenil hat eine Halbwertszeit von 50–60 min, also kürzer als die meisten Benzodiazepine.1
    • Gefahr der Resedierung8
  • Dosierung8
    • initial 0,2 mg intravenös, 0,1 mg jede Minute, bis der gewünschte Bewusstseinsgrad erreicht ist, maximal 1 mg.

Weitere Behandlungsmethoden

  • Überwachung von Bewusstsein, Blutdruck und Atmung bis zum vollständigen Erwachen3
  • Supportive Therapie; Sauerstoff, ggf. Beatmung, Volumengabe3

Prävention

  • Reduzierte Verschreibung von Benzodiazepinen9
    • Verschreibung in kleinen Packungsgrößen, nur für einen begrenzten Zeitraum1

Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Atemstillstand1
  • Koma1
  • Liegetrauma (Dekubitus)3
  • Aspiration3

Prognose

  • Die Letalität bei alleiniger Benzodiazepinvergiftung ist niedrig.3
    • Bei adäquater Behandlung ist die Prognose gut.
  • Bei Mischintoxikationen mit anderen Medikamenten, Drogen oder Alkohol ist die Letalität wesentlich höher.
  • Eine zugrunde liegende psychiatrische Erkrankung sollte adäquat behandelt und dabei die soziale Situation Betroffener berücksichtigt werden.1
    • Die Therapie bei Benzodiazepinabhängigkeit ist oft schwierig.

Quellen

Literatur

  1. BMJ BestPractice. Benzodiazepine overdose. Stand Juli 2022 (Letzter Zugriff am 03.08.2022). bestpractice.bmj.com
  2. Grimmsmann T, Kostev K, Himmel W. The role of private prescriptions in benzodiazepine and Z-drug use—a secondary analysis of office-based prescription data. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 380–1. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0151 www.aerzteblatt.de
  3. Hofer KE, Weiler S. Benzodiazepin-Intoxikation: Ein Hypnotikum-Toxidrom. Primary and Hospital Care 2021; 21: 191-3. doi:10.4414/phc-d.2021.10355 DOI
  4. Zellner T, Prasa D, Färber E, Hoffmann-Walbeck P, Genser D, Eyer F. The use of activated charcoal to treat intoxications. Dtsch Arztebl Int 2019; 116:311–7. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0311 DOI
  5. Self-harm in over 8s: short-term management and prevention of recurrence. Clinical guideline Published: 28 July 2004 www.nice.org.uk
  6. Greene SL, Dargan PI, Jones AL. Acute poisoning: understanding 90% of cases in a nutshell. Postgrad Med J. 2005 Apr;81(954):204-16. doi: 10.1136/pgmj.2004.024794. PMID: 15811881; PMCID: PMC1743253. www.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Weinbroum AA, Flaishon R, Sorkine P, Szold O, Rudick V. A risk-benefit assessment of flumazenil in the management of benzodiazepine overdose. Drug Safety 1997; 17: 181 - 96. PubMed
  8. atd arznei-telegramm. Arzneimitteldatenbank. Wirkstoff: Flumazenil. Stand 20.10.2017 (letzter Zugriff am 03.08.2022) www.arznei-telegramm.de
  9. Parr JM, Kavanagh DJ, Cahill L, et al. Effectiveness of current treatment approaches for benzodiazepine discontinuation: a meta-analysis. Addiction 2009; 104:13. PubMed

Autor*innen

  • Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

 

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