Zusammenfassung
- Definition:Einnahme von Benzodiazepinen in toxischer Dosis, evtl. kombinierte Vergiftung mit anderen Substanzen.
- Häufigkeit:Ist eine häufige Vergiftung.
- Symptome:Schnell auftretende Symptome sind Ataxie, Dysarthrie, Schwindel, Übelkeit, Muskelschwäche, Somnolenz bis Koma, Atemdepression, z. T. Miosis.
- Therapie:Bei der Behandlung steht die symptomatische Therapie im Vordergrund, insbesondere ist auf Erhaltung der Atem- und Kreislauffunktionen zu achten. Die Indikation zur stationären Einweisung sollte großzügig gestellt werden. Zur Aufhebung der zentraldämpfenden Wirkungen von Benzodiazepinen und ähnlich wirkenden Substanzen steht der spezifische Benzodiazepin-Antagonist Flumazenil zur Verfügung. Die Gabe von Aktivkohle innerhalb der ersten Stunde kann bei wachen Patient*innen mit intakten Schutzreflexen sinnvoll sein.
Giftnotrufzentralen
Ort |
Region |
Telefon |
Website |
Berlin |
B, BRA |
030 19240 |
|
Bonn |
NRW |
0228 19240 |
|
Erfurt |
MV, SAC, SAN, THÜ |
0361 730730 |
|
Freiburg |
BW |
0761 19240 |
|
Göttingen |
HB, HH, NDS, SHO |
0551 19240 |
|
Mainz |
RLP, HES |
06131 19240 |
|
München |
BAY |
089 19240 |
|
Wien |
A |
+43 1 4064343 |
|
Zürich |
CH |
145 (in CH), +41 44 2515151 |
Allgemeine Informationen
Definition
- Einnahme von Benzodiazepinen in toxischer Dosis, evtl. kombinierte Vergiftung mit anderen Substanzen
- Die Überdosis kann in suizidaler Absicht, bei Missbrauch oder durch einen Medikationsfehler eingenommen worden sein.1
- Siehe gesonderten Artikel zu Vergiftungen mit Benzodiazepinagonisten.
Häufigkeit
- Zwischen 2014 und August 2020 wurden 267.260 GKV-Versicherten ein Benzodiazepin oder eine Z-Substanz verordnet.2
- 160.243 erhielten ein Benzodiazepin-Anxiolytikum, 17.302 ein Benzodiazepin-Hypnotikum/Sedativum.
- 38 % der Verordnungen waren Privatverordnungen.
- Vergiftungen mit Benzodiazepinen und benzodiazepinähnlichen Substanzen (Z-Substanzen) kommen häufig vor.3
- Die Letalität bei reiner Benzodiazepinvergiftung ist niedrig.1
- Vergiftungen mit Benzodiazepinen entstehen häufig in Kombination mit anderen Arzneimitteln, Betäubungsmitteln oder Alkohol; in diesen Fällen ist die Letalität höher.1
Ätiologie und Pathogenese
- Das folgende Kapitel basiert auf diesen Referenzen.1,3
- Benzodiazepine werden häufig verschrieben.
- Überdosierungen können die Folge einer absichtlichen Einnahme in suizidaler Absicht, eines Missbrauchs oder einer versehentlichen falschen Dosierung sein.
Pathophysiologie
- Benzodiazepine stimulieren GABA-Rezeptoren.
- GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist ein hemmender Neurotransmitter.
- Die Bindung von Benzodiazepinen an den GABA-Rezeptor potenziert die hemmenden Wirkungen von GABA.
- Klinische Effekte sind u. a. Schlafanstoß, Beruhigung, Anxiolyse, antikonvulsive Wirkung, generelle ZNS-Dämpfung.
- selten paradoxe Reaktion mit starker Agitiertheit bei Betroffenen mit psychiatrischen Vorerkrankungen, Kindern und Hochbetagten
- Benzodiazepine sind eine heterogene Gruppe, manche werden im Körper erst in aktive Metaboliten umgewandelt.
- Benzodiazepine verstärken die zentral dämpfende Wirkung von Alkohol, Opiaten und anderen Psychopharmaka.
Pharmakokinetik
- Benzodiazepine werden gastrointestinal leicht resorbiert, und die Zeit, die bis zum Eintreten der Wirkung vergeht, wird in erster Linie davon bestimmt, wie schnell das Medikament vom Darm resorbiert werden kann.
- Diazepam erreicht seine maximale Plasmakonzentration nach 1 Stunde und hat eine Halbwertszeit von 24–48 Stunden.
- Lorazepam hat seinen Plasmapeak nach 2–3 Stunden, bei einer Halbwertszeit von 12–16 Stunden.
- Benzodiazpine sind zu 70 % proteingebunden.
- Die ungebundene Fraktion passiert die Blut-Hirn-Schranke und wirkt auf Benzodiazepin-Rezeptoren im ZNS.
Toxizität
- Die Hauptauswirkung einer Benzodiazepinüberdosierung ist eine ausgeprägte Sedierung.
- Größere Dosen können zu Koma, Atemdepression oder in seltenen Fällen auch zum Tod führen, besonders bei Mischintoxikationen mit Alkohol oder Opioiden.
Prädisponierende Faktoren
- Der folgende Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
- Depression
- Suizidalität
- Benzodiazepinmissbrauch
- Alkoholmissbrauch
- Opioidmissbrauch (oft zusätzlicher Missbrauch von Benzodiazepinen, erhöhtes Risiko für eine Überdosis mit beiden Substanzklassen)
- Polypharmazie
- Alter (häufig eingeschränkte Medikamentenclearance, Polypharmazie: erhöhte Gefahr der Toxizität)
- Schwere Lebererkrankung: geringer Benzodiazepindosen bereits toxisch
ICPC-2
- A84 Vergiftung durch medizinische Substanz
ICD-10
- T36–T50 Vergiftungen durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen
- T42.4 N05 B A Vergiftung durch Anxiolytika – Benzodiazepinderivate (angegeben mit ATC-Code für anxiolytische Benzodiazepinderivate)
- T42.4 N05 B A 01 Vergiftung durch Diazepam
- T42.4 N05 B A 04 Vergiftung durch Oxazepam
- T42.4 N05 B A 12 Vergiftung durch Alprazolam
- T42.4 N05 C D Vergiftung durch Sedativa und Hypnotika – Benzodiazepinderivate (angegeben mit ATC-Code für hypnotische und sedierende Benzodiazepinderivate)
- T42.4 N05 C D 02 Vergiftung durch Nitrazepam
- T42.4 N05 C D 03 Vergiftung durch Flunitrazepam
- T42.4 N05 C D 08 Vergiftung durch Midazolam
- T42.4 N05 B A Vergiftung durch Anxiolytika – Benzodiazepinderivate (angegeben mit ATC-Code für anxiolytische Benzodiazepinderivate)
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
- ZNS-Depression/Vigilanzsstörung, in der Regel ohne Beeinträchtigung der Vitalparameter und ohne fokale Zeichen
- Fremdanamnestische Hinweise auf Benzodiazepinüberdosierung oder andere Hinweise z. B. eine Verschreibung, ein Abschiedsbrief
Differenzialdiagnosen
- Koma/Somnolenz aufgrund anderer Ursachen, z. B. zerebrale Ischämie, Hypoglykämie
- Mischintoxikation oder Vergiftung durch ein anderes Agens
Anamnese
- Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
- Ggf. Fremdanamnese
- Zeitpunkt der Einnahme und eingenommene Menge
- Welcher Wirkstoff wurde eingenommen? (Medikamentenpackung und Blister aufheben)
- zusätzlich eingenommene Substanzen (Alkohol) und Medikamente
- Wurden die Tabletten in suizidaler Absicht eingenommen?
- bekannte Anwendung oder Missbrauch von Benzodiazepinen
- Vorliegen von Risikofaktoren
- bekannte Depression
- Vorgeschichte mit Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch oder Polytoxikomanie
- bekannte Benzodiazepineinnahme
- bekannte Einnahmeprobleme/Dosierungsfehler
- Begleiterkrankungen (Überdosen mit zunehmendem Alter und gestörter Leberfunktion häufiger)
- Suizidalität in der Vorgeschichte
- Einnahme unbekannter Substanzen in der Vorgeschichte
- Veränderter Geisteszustand
- Vigilanzstörung
- Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung
- unangemessenes Verhalten
- gestörtes Urteilsvermögen
- Stimmungslabilität
- nach Einnahme großer Dosen: Koma und Atemdepression (besonders bei Mischintoxikation)
- selten paradoxe Reaktion mit starker Agitiertheit bei Betroffenen mit psychiatrischen Vorerkrankungen, Kindern und Hochbetagten
- Es kann auch zu Ataxie, Dysarthrie, Schwindel, Nystagmus, Mydriasis, Muskelhypotonie und Blutdruckabfall kommen.
Klinische Untersuchung
- Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3
- Verwaschene Sprache, gestörte Koordination, instabiler Gang
- Aufmerksamkeits- und/oder Gedächtnisstörung
- Pupillenreaktion (Mydriasis)
- Beurteilung der Vigilanz
- Abgeschwächte Reflexe (selten auch Hyperreflexie bei paradoxer Übererregung)
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Der folgende Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
- Blutdruck
- SaO2
- Atemfrequenz
- Puls
- Quantitative Benzodiazepinbestimmungen in Blut oder Urin sagen nichts über das Ausmaß und die Wirkung einer Überdosis aus (z. B. durch Toleranzeffekte bei Gewöhnung).3
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Einweisung ins Krankenhaus bei Verdacht auf Überdosierung
- Die Indikation ist auch hinsichtlich der Differenzialdiagnosen der Vigilanzminderung eher großzügig zu stellen.
Therapie
Therapieziele
- Überwachung und Sicherstellung der Vitalfunktionen
- Symptomatische Behandlung und Verringerung der toxischen Wirkung des Benzodiazepins
- Verhinderung eines schweren Verlaufs
Allgemeines zur Therapie
- GIFTNOTRUF- UND INFORMATIONSZENTREN
- Zuerst allgemeine Erste-Hilfe-Maßnahmen, dann spezifische Behandlung
- Atemwege freihalten, Sauerstoffgabe, Kreislaufunterstützung, ggf. Beatmung.1
- Im Normalfall ist bei Monointoxikation keine Dekontamination nötig.3
- Leichte bis mittelschwere Vergiftungen können bei hohen Dosen, insbesondere bei langwirksamen Benzodiazepinen durch Gabe von Aktivkohle behandelt werden.3-4
- innerhalb der ersten Stunde nach Einnahme bei wachen Patient*innen mit intakten Schutzreflexen
- Bei schweren Vergiftungen ist die Verabreichung eines Gegenmittels (Flumazenil) indiziert, evtl. auch andere Antidote bei Mischintoxikationen.
- bei Patient*innen mit reiner Benzodiazepinintixikation und schwerer Atemdepression1
- Komplikationen vermeiden.
- Die Induktion von Erbrechen ist bei vigilanzgeminderten Betroffenen kontraindiziert.
- Die Gabe von Aktivkohle ist bei vigilanzgeminderten Betroffenen oder solchen mit vermindertem Schluckreflex kontraindiziert.4
- Einweisung zur Überwachung frühzeitig erwägen.
Empfehlungen für Patient*innen
- Rettungsdienst und/oder Giftnotrufzentrale kontaktieren.
Medikamentöse Therapie
Aktivkohle
- Die orale Gabe von Aktivkohle ist zur Resorptionshemmung von Benzodiazepinen möglich und umso erfolgversprechender, je früher (möglichst innerhalb von 60 min) diese erfolgt.
Flumazenil
- Spezifischer Antagonist für die Benzodiazepin-Bindungsstelle im GABA-Rezeptorkomplex und Antidot bei Benzodiazepin-Intoxikationen1
- Einsatz auch bei paradoxer Reaktion3
- Einsatz ist bei Vergiftungen mit Atemhemmung und/oder Somnolenz zur Vermeidung einer Intubation gerechtfertigt.1,3
- Vorsichtsmaßnahmen
- Kontraindikationen
- Überwachung
- Dosierung8
- initial 0,2 mg intravenös, 0,1 mg jede Minute, bis der gewünschte Bewusstseinsgrad erreicht ist, maximal 1 mg.
Weitere Behandlungsmethoden
- Überwachung von Bewusstsein, Blutdruck und Atmung bis zum vollständigen Erwachen3
- Supportive Therapie; Sauerstoff, ggf. Beatmung, Volumengabe3
Prävention
- Reduzierte Verschreibung von Benzodiazepinen9
- Verschreibung in kleinen Packungsgrößen, nur für einen begrenzten Zeitraum1
Komplikationen und Prognose
Komplikationen
Prognose
- Die Letalität bei alleiniger Benzodiazepinvergiftung ist niedrig.3
- Bei adäquater Behandlung ist die Prognose gut.
- Bei Mischintoxikationen mit anderen Medikamenten, Drogen oder Alkohol ist die Letalität wesentlich höher.
- Eine zugrunde liegende psychiatrische Erkrankung sollte adäquat behandelt und dabei die soziale Situation Betroffener berücksichtigt werden.1
- Die Therapie bei Benzodiazepinabhängigkeit ist oft schwierig.
Quellen
Literatur
- BMJ BestPractice. Benzodiazepine overdose. Stand Juli 2022 (Letzter Zugriff am 03.08.2022). bestpractice.bmj.com
- Grimmsmann T, Kostev K, Himmel W. The role of private prescriptions in benzodiazepine and Z-drug use—a secondary analysis of office-based prescription data. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 380–1. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0151 www.aerzteblatt.de
- Hofer KE, Weiler S. Benzodiazepin-Intoxikation: Ein Hypnotikum-Toxidrom. Primary and Hospital Care 2021; 21: 191-3. doi:10.4414/phc-d.2021.10355 DOI
- Zellner T, Prasa D, Färber E, Hoffmann-Walbeck P, Genser D, Eyer F. The use of activated charcoal to treat intoxications. Dtsch Arztebl Int 2019; 116:311–7. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0311 DOI
- Self-harm in over 8s: short-term management and prevention of recurrence. Clinical guideline Published: 28 July 2004 www.nice.org.uk
- Greene SL, Dargan PI, Jones AL. Acute poisoning: understanding 90% of cases in a nutshell. Postgrad Med J. 2005 Apr;81(954):204-16. doi: 10.1136/pgmj.2004.024794. PMID: 15811881; PMCID: PMC1743253. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Weinbroum AA, Flaishon R, Sorkine P, Szold O, Rudick V. A risk-benefit assessment of flumazenil in the management of benzodiazepine overdose. Drug Safety 1997; 17: 181 - 96. PubMed
- atd arznei-telegramm. Arzneimitteldatenbank. Wirkstoff: Flumazenil. Stand 20.10.2017 (letzter Zugriff am 03.08.2022) www.arznei-telegramm.de
- Parr JM, Kavanagh DJ, Cahill L, et al. Effectiveness of current treatment approaches for benzodiazepine discontinuation: a meta-analysis. Addiction 2009; 104:13. PubMed
Autor*innen
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).