Zusammenfassung
- Definition: Trichotillomanie gehört zur Gruppe der Impulskontrollstörungen und äußert sich durch Ausreißen oder Auszupfen von Haaren (z.B. Kopfhaar, aber auch Wimpern, Augenbrauen und anderer Körperregionen).
- Inzidenz: Die Lebenszeitprävalenz beträgt 0,6–4 %.
- Symptome: Ausreißen von Haaren.
- Untersuchung: Körperlicher Befund ist der Verlust von Haaren.
- Diagnostik: Im Rahmen der körperlichen Untersuchung sollten somatische Ursachen des Haarverlust, ggf. auch durch Biopsie ausgeschlossen werden. Da es sich um eine psychische Erkrankung handelt, orientiert sich die Diagnostik am DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).
- Therapie: Durch Verhaltenstherapie soll die Impulskontrolle verbessert werden. Zur medikamentösen Therapie können SSRIs, Clomipramine und ACC verwendet werden.
Allgemeine Informationen
Definition
- Bei der Trichotillomanie1 kommt es nach immer wieder misslungenem Versuch, sich gegen Impulse zum Ausreißen der Haare zu wehren, zu einem z.T. beachtlichen Haarverlust.
- Das Ausreißen der Haare ist häufig mit dem Gefühl wachsender Spannung und einem anschließenden Gefühl von Erleichterung und Befriedigung verbunden.
- Die Erkrankung wird zu den Impulskontrollstörungen2 , bzw. Zwangsspektrumstörungen3 gezählt.
Häufigkeit
- Prävalenz
- Die Prävalenz wird aufgrund der Verschleierung der Erkrankung durch Patienten und eine Unterdiagnostizierung durch das ärztliche Personal wahrscheinlich unterschätzt.4
- Frau sind bis zu 9x häufiger betroffen.5
- Die Lebenszeitprävalenz wird auf 0,6–4 % geschätzt6; die höchste Inzidenz wird dabei im Kindesalter, insbesondere im Alter zwischen 4 und 171, angenommen.7
- Alter
- Das Durchschnittsalter zu Beginn beträgt in der Regel 8–12 Jahre 8, die Erkrankung kann jedoch in jedem Alter auftreten.
Ätiologie und Pathogenese
- Die genaue Ätiologie ist nicht bekannt.
- Sowohl Umweltfaktoren als auch genetische Ursachen9 werden diskutiert.1
- Die Patienten erfahren i.R. von Spannungszuständen durch das Nachgeben des Impulses eine kurz anhaltende Erleichterung und Befriedigung. (DSM-5 Kriterium)
Prädisponierende Faktoren
- Sowohl bei psychischen Erkrankungen (z. B. Tic-Störungen) als auch bei Betroffenen mit Intelligenzminderung scheint die Prävalenz von Trichotillomanie erhöht zu sein.10
ICPC-2
- P29 Psych. Sympt., Beschwerden, andere
ICD-10
- F63.3 Trichotillomanie
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
ICD-10
- Bei dieser Störung kommt es nach immer wieder misslungenem Versuch, sich gegen Impulse zum Ausreißen der Haare zu wehren, zu einem beachtlichen Haarverlust.
- Das Ausreißen der Haare ist häufig mit dem Gefühl wachsender Spannung und einem anschließenden Gefühl von Erleichterung und Befriedigung verbunden.
- Diese Diagnose soll nicht gestellt werden, wenn zuvor eine Hautentzündung bestand oder wenn das Ausreißen der Haare eine Reaktion auf ein Wahnphänomen oder eine Halluzination ist (ICD-10).
DSM-57
- Wiederholtes Ausreißen der Haare, das zu Haarverlust führt.
- Wiederholte Versuche, das Ausreißen der Haare zu reduzieren oder zu unterlassen.
- Das Ausreißen der Haare führt zu erheblicher Besorgnis und zu Beschränkungen in mindestens einem wichtigen Bereich.
- Das Ausreißen der Haare oder der Haarausfall kann auf keine andere Erkrankung zurückgeführt werden.
- Das Ausreißen der Haare kann durch die Symptome einer anderen psychischen Erkrankung nicht besser erklärt werden.
Differenzialdiagnosen
- Alopecia areata
- Führt üblicherweise zu glatten, runden kahlen Stellen mit „Randbehaarung‟ (wenige Millimeter lang und am Ende breiter als an der Basis) im Übergang zwischen dem gesundem Haar und den kahlen Stellen.
- Tinea capitis
- Die Haare lösen sich sehr leicht; die Kopfhaut ist in diesen Fällen in der Regel erythematös und schuppig.
- Andere psychische Erkrankungen (Zwangsstörungen, Angststörungen)
- Systemische Erkrankungen (Karzinome, Leukämie, Zirrhose, Hypothyreose, Tuberkulose)
- Sekundäre Syphilis
- Führt zu mottenfraßartigen Stellen mit Haarausfall; gleichzeitig schuppige, Pityriasis rosea-ähnliche Flecken auf den Händen, an den Fußsohlen oder am Rumpf.
Anamnese
- Betroffene berichten über Haarverlust aufgrund von Ausreißen.
- In vielen Fällen wird das Problem auf Grund von Scham geleugnet.1
- Einige Patienten reißen Haare von Familienmitgliedern, Haustieren, Puppen, Decken etc. aus.
- Trichophagie
- Einige Patienten mit dieser Störung praktizieren auch Trichophagie (essen die Haare, die sie herausreißen).
Klinische Untersuchung
- Meist wird Kopfhaar ausgerissen; die Verteilung des Haarausfalls folgt keinem Muster und hat unregelmäßige Kanten und Verläufe.
- In den meisten Fällen wird das Haar von der Oberseite des Kopfes ausgerissen; die meisten Patienten neigen jedoch dazu, mehr Haar von einer bevorzugten Seite auszureißen.
- Die Bereiche, aus denen die Haare ausgerissen werden, sind fast nie völlig haarlos, es gibt jedoch Anzeichen für kurze und abgebrochene Haarsträhnen unterschiedlicher Länge.
Weitere Diagnostik bei Spezialist*in
- Bei nicht eindeutiger Diagnose evtl. Biopsie beim Facharzt zum Ausschluß eines z.B. autoimmun vermittelten Haarausfalls.1
Indikationen zur Überweisung
- Je nach Ausprägung frühzeitig dermatologische Abklärung und ggf. Einleitung einer verhaltenstherapeutischen Intervention.
Therapie
Therapieziel
- Verhaltenstherapeutische Intervention zur Verbesserung der Impulskontrolle311
- Das bewusste Ausreißen von Haaren steht häufig mit psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel Zwangsstörungen in Verbindung; Überweisungen sollten großzügig angeboten werden.
Allgemeines zur Behandlung
- Die Erstlinientherapie besteht aus kognitiver Therapie und Verhaltenstherapie.11
- Die Therapie kann schwierig sein und erfordert eine starke Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten/Eltern.3
- Viele Patienten mit Trichotillomanie haben auch andere Störungen wie Angststörungen und Depression; es ist wichtig, auch diese zu untersuchen und zu behandeln.
- Neben der Psychotherapie stehen medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung, die in Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben.
Kognitive Verhaltenstherapie
- Kognitive und verhaltenspsychologische Methoden gelten als am effektivsten.
- Eine Metaanalyse (2014) analysierte die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer gegen Trichotillomanie. Die Verhaltenstherapie erwies sich als besonders wirksam, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zeigten eine moderate Wirkung.12
Medikamentöse Therapie
- Die medikamentöse Therapie sollte nur als adjuvante Therapie und nicht als Monotherapie verwendet werden.
- Sowohl selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als auch Antipsychotika und Stimulanzien wurden als Therapien getestet. Dabei ist es nicht gelungen, klare Schlussfolgerungen zu ziehen.13Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zeigten inkonsistente Resultate.12,14 Venlafaxin und Clomipramin sind anscheinend wirksam.
Prävention
- Verbesserung des Umgangs mit Stress sowie Entspannungsmethoden können wirksam sein, um das Ausreißen von Haaren zu vermeiden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Das Ausreißen von Haaren kann periodisch oder dauerhaft auftreten; auch die Intensität der Handlung kann variieren. Zwischen den „aktiven Perioden‟ können Monate vergehen.
- Der Schweregrad der Störung variiert; bei manchen Patienten ist der Haarverlust sehr leicht, während die kosmetischen Schäden bei anderen Patienten beträchtlich sein können.
Komplikationen
- Trichophagie kann zur Entstehung von Trichobezoaren/Trichophytobezoaren ( „Haarknäulen‟) im Verdauungstrakt, auch als „Rapunzelsyndrom‟ bezeichnet, führen.
- Das Rapunzelsyndrom/Bezoare können wiederum zu einer Vielzahl an Komplikationen, wie Anämie, Bauchschmerzen, Obstipation, Darminvagination, Ulzeration und Perforation führen.
- Scham, ein geringes Selbstwertgefühl, Angst und Depression sind bei Trichotillomanie häufig.
Prognose
- Trichotillomanie, die in der frühen Kindheit auftritt, ist häufig von kurzer Dauer und endet entweder von selbst oder als Folge leichter Interventionen.
- Wenn die Trichotillomanie länger als 6 Monate anhält, ist der Zustand jedoch schwerer zu therapieren.4
Patienteninformationen
Worüber Sie den Patienten aufklären sollten
- Trichotillomanie ist ein relativ häufig auftretendes Phänomen, das sich überwinden lässt.
Patienteninformationen in Deximed
Patientenorganisationen
- Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen. Selbsthilfegruppen. zwaenge.de
- Selbsthilferatgeber unter: Tricks gegen Ticks
Illustrationen
Quellen
Leitlinien
- Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Diagnostik und Therapie von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 028-007, Stand 2021. www.awmf.org
Literatur
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- Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Diagnostik und Therapie von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 028-007, Stand 2021. cms.deximed.de
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Autoren
- Christoph, Allerlei, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin und Innere Medizin, Frankfurt a. M.
- Trine Hessevik Paulsen, allmennlege og redaksjonsmedarbeider i NEL