Chorea minor (rheumatische Chorea)

Zusammenfassung

  • Definition:Komplikation nach einer Streptokokken-Infektion des Rachens mit beta-hämolysierenden Streptokokken der Lancefield-Gruppe A. Durch Kreuzreaktion der gebildeten Antikörper mit Zellen der Basalganglien kommt es zu einer Entzündungsreaktion mit Entwicklung von Bewegungsstörungen und psychiatrischen Symptomen. Gilt als Manifestationsform des rheumatischen Fiebers, kann jedoch auch als isoliertes Syndrom auftreten.
  • Häufigkeit:Seltene Erkrankung, da die Inzidenz und Prävalenz des rheumatischen Fiebers in der westlichen Welt kontinuierlich rückläufig ist. Tritt am häufigsten im Alter zwischen 5 und 18 Jahren auf.
  • Symptome:6–8 Wochen nach der Primärinfektion zeigt sich ein gestörter Bewegungsablauf mit unkontrollierten, überschießenden Bewegungen. Mögliche psychiatrische Symptome sind u. a. Zwangsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Depressionen.
  • Untersuchung:Generalisierte Bewegungsstörungen, die alle Körperteile betreffen können, häufig Episoden mit Protrusion der Zunge. Reduzierter Muskeltonus.
  • Diagnostik:Klinische Diagnose. Ergänzend ggf. Labordiagnostik, Erregernachweis. EKG, Echokardiografie zum Ausschluss einer kardialen Beteiligung.
  • Therapie:Antibiotische Therapie (sowohl prophylaktisch, als auch therapeutisch), symptomatische Behandlung (Antiepileptika, dopaminerge Arzneimittel) sowie immunmodulatorische Therapieansätze.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Chorea minor kann sich als Komplikation einer Streptokokken-Infektion mit beta-hämolysierenden Streptokokken der Lancefield-Gruppe A entwickeln. 1
  • Sie stellt eine Manifestationsform des rheumatischen Fiebers dar, kann aber auch als isoliertes Syndrom auftreten.2-3
  • Typischerweise entwickeln sich Bewegungsstörungen mit unkontrollierten, überschießenden Bewegungen. Zudem können psychiatrische Symptome und Muskelschwäche auftreten.
  • Die Erkrankung wurde erstmals von Thomas Sydenham im Jahr 1686 beschrieben und wird deshalb auch als Chorea Sydenham bezeichnet.4-5

Häufigkeit

  • Die Erkrankung tritt bei bis zu 40 % der Patient*innen mit rheumatischem Fieber auf.1
  • In der westlichen Welt ist die Inzidenz und Prävalenz des rheumatischen Fiebers und damit auch der Chorea minor kontinuierlich rückläufig. 
    • Die Inzidenz des rheumatischen Fiebers liegt in Westeuropa und Nordamerika bei 0,1–1 Fällen pro 100.000 Einw. pro Jahr.3 
    • In Entwicklungsländern kommt es mindestens zu 280.000 Neuerkrankungen pro Jahr.6
    • In Osteuropa, dem Mittleren Osten, Asien und Australien tritt das rheumatische Fieber mit einer Inzidenz von 10–120 Fällen pro 100.000 Einw. pro Jahr auf.3
  • Tritt am häufigsten im Alter zwischen 5 und 18 Jahren auf.
  • Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen (3:1).1
  • Bei fast 50 % der Betroffenen treten Verhaltensstörungen auf.5

Ätiologie und Pathogenese

  • Bei der rheumatischen Chorea handelt es sich um eine postinfektiöse immunologische Komplikation nach einer Infektion mit beta-hämolysierenden Streptokokken der Lancefield-Gruppe A (GAS).2-3
  • Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen bestimmten Streptokokken-Antigenen und körpereigenem Gewebe bewirkt die Bildung von Antikörpern, die gegen körpereigene Zellen der Basalganglien kreuzreagieren. Dieser Mechanismus wird als „molekulares Mimikry" bezeichnet.
    • Die Antikörper bewirken eine diffuse Entzündungsreaktion, die zu einem Ungleichgewicht zwischen dopaminergen, cholinergen und inhibitorischen Neurotransmittern führt und damit die typischen Symptome der rheumatischen Chorea auslöst.
    • Es wird angenommen, dass die Schädigung im Bereich der Basalganglien auch zur Entwicklung von psychiatrischen Symptomen beiträgt.5,7
  • Typischerweise entwickelt sich die Erkrankung 6–8 Wochen nach einer Pharyngitis durch beta-hämolysierende Gruppe A-Streptokokken.1 
  • Genetische Faktoren, u. a. HLA-Typen, sind ebenfalls beteiligt; in 5–18 % der Fälle ist die Familienanamnese positiv.8
  • Eine Sonderform der Erkrankung ist die Chorea gravidarum.
    • Es wird angenommen, dass es sich um eine wiederkehrende rheumatische Chorea bedingt durch hormonelle Veränderungen in der Schwangerschaft handelt.
    • Postpartal bilden sich die Symptome rasch zurück.

ICPC-2

  • N08 Abnorme unwillkürliche Bewegungen
  • N99 Neurologische Erkrankungen, andere

ICD-10

  • I02 Rheumatische Chorea
    • I02.0 Rheumatische Chorea mit Herzbeteiligung
    • I02.9 Rheumatische Chorea ohne Herzbeteiligung

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Chorea minor wird klinisch diagnostiziert. Die Erkrankung zählt zu den Majorkriterien der Diagnostik des rheumatischen Fiebers.

Leitlinie: Auszug aus den Diagnosekriterien des akuten rheumatischen Fiebers2-3

Jones-Kriterien9

  • Ein akutes rheumatisches Fieber gilt als diagnostiziert, wenn:
    • 2 Hauptkriterien (Majorkriterien) – oder –
    • 1 Hauptkriterium und 2 Nebenkriterien (Minorkriterien) erfüllt sind.
  • Majorkriterien
    • Karditis
    • Polyarthritis
    • Chorea minor
    • Erythema marginatum
    • subkutane Knötchen
  • Minorkriterien
    • (Poly-)Arthralgie
    • Fieber ≥ 38,5 °C
    • BSG-Erhöhung (≥ 60 mm/h) und CRP-Erhöhung (≥ 3,0 mg/dl)
    • verlängerte PQ-Zeit (altersadaptiert)
  • Ausnahmen (Diagnose außerhalb der Jones-Kriterien)
    • Karditis mit klarem anamnestischen Bezug zu einem vorangegangenen Streptokokken-Infekt
    • Chorea minor (nach Ausschluss anderer ZNS-Erkrankung)
    • Rezidiv des ARF
    • Nachweis einer Streptokokken-Infektion

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Die Erkrankung tritt meist 6–8 Wochen nach einer Pharyngitis durch beta-hämolysierende Gruppe A-Streptokokken auf und umfasst insbesondere motorische- und psychiatrische Symptome.
  • Motorische Symptome
    • gestörter Bewegungsablauf mit abrupten, unkontrollierten Bewegungen. Betrifft meist alle 4 Extremitäten
    • Gangstörungen
    • beeinträchtigte Handschrift
    • Grimassieren
    • Dysarthrie
    • Eine Beteiligung von Phyarynx und Larynx kann zu vokalen Tics führen.
    • Betroffene haben oft Schwierigkeiten, ihre alltäglichen Aufgaben zu verrichten.
  • Psychiatrische Symptome
  • Weitere Beschwerden
      • Muskelschwäche
      • Zeichen einer Karditis
        • Vorliegen einer Karditis bei bis zu 80 % der Betroffenen1,5,8,10

Klinische Untersuchung

  • In der Regel fallen generalisierte Bewegungsstörungen auf.
  • Ein einseitiges Auftreten der Chorea ist bei 20–30 % der Betroffenen der Fall.8
  • Unwillkürliche Bewegungen (Chorea) können an allen Körperteilen auftreten.
    • Besonders betroffen sind Extremitäten, Zunge und Gesicht.
  • Es wird ein charakteristischer unstetiger Griff beim Händedruck beschrieben („Milkmaid's Grasp“).
  • Typisch sind darüber hinaus Episoden mit Protrusion der Zunge als Ausdruck der Hyperkinesie („Darting Tongue“).
  • Geringer Muskeltonus der Extremitäten
  • Sensibilität und Reflexe sind unverändert.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Laboruntersuchung
  • Kultur und Antigen-Test sind häufig negativ, da bei Auftreten der Symptomatik meist keine aktive Streptokokken-Infektion vorliegt.
  • Erhöhte Titer gegen Streptokokken sind in 15–30 % der Fälle nachweisbar.10
  • EKG, ggf. Langzeit-EKG zur Erfassung einer kardialen Beteiligung2
    • z. B. Tachykardien, PQ-Verlängerung, Erregungsrückbildungsstörungen, Rhythmusstörungen

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Bildgebung
    • hyperintense Darstellung der Basalganglien in MRT und CT
    • vermehrte Stoffwechselaktivität und Perfusion der Basalganglien in PET und SPECT
    • Bildgebende Verfahren werden insbesondere bei Kindern zurückhaltend eingesetzt.1
  • Echokardiografie zum Ausschluss einer kardialen Beteiligung.
  • Gelenksonografie bei Gelenkbeteiligung2

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf Chorea sollte immer eine Überweisung an pädiatrische Neurolog*in erfolgen.

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Als mögliche Therapieoptionen gelten:
    • antibiotische Therapie (sowohl prophylaktisch, als auch therapeutisch)
    • symptomatische Therapie
    • immunmodulatorische Therapie.10
  • Es existieren nur wenige kontrollierte Studien zur Behandlung der Chorea minor.

Medikamentöse Therapie

  • Antibiotische Therapie
    • Eine Antibiotikatherapie gegen Streptokokken wird empfohlen und sollte mindestens 10 Tage fortgeführt werden, gleichgültig ob Streptokokken im Rachen nachgewiesen werden oder nicht.
  • Symptomatische Therapie
    • Antiepileptika
      • Normalisieren des Neurotransmitter-Gleichgewichts in den Basalganglien
      • Empfohlen werden Valproinsäure (20 mg/kg/d) oder Carbamazepin (15 mg/kg/d).
    • dopaminerge Arzneimittel
      • Einem relativen Dopaminüberschuss begegnet man mit antidopaminergen Arzneimitteln wie Haloperidol, Pimozid, Chlorpromazin, Olanzapin, Risperidon oder Tetrabenazin.
      • Aufgrund des höheren Risikos für das Auftreten von Nebenwirkungen werden Neuroleptika lediglich bei fehlendem Ansprechen auf Valproinsäure oder Carbamazepin eingesetzt.
  • Immunmodulatorische Therapie
    • Steroide
      • bei schweren Formen von Chorea minor, bei unzureichendem Ansprechen auf die symptomatische Therapie sowie bei starken Nebenwirkungen unter symptomatischer Therapie
      • Prednison 2 mg/kg/d oral für 2–4 Wochen oder Methylprednisolon 25 mg/kg/d i. v. für 5 Tage
    • Die Gabe von intravenösen Immunglobulinen oder Plasmapherese gelten als experimentelle Therapieansätze.10

Prävention

  • Präventive Wirkung von Antibiotika
    • Keine klare Evidenz, dass durch eine unselektierte antibiotische Therapie von Streptokokken-Tonsillopharyngitiden Folgeerkrankungen verhindert werden.
    • Laut aktueller DEGAM-Leitlinie Halsschmerzen sollte bei Kindern und Jugendlichen (Alter ≤ 15 Jahre) mit akuten Halsschmerzen ohne Red Flags bei negativem Schnelltestergebnis für GAS auf eine antibiotische Therapie verzichtet werden.
      • In westlichen Industrienationen gibt es so geringe Inzidenz für immunologische Komplikationen, dass die präventive Wirkung eines Antibiotikums nicht in die Überlegung zur Entscheidung einfließen sollte.
      • weitergehende individuelle Beratung, Diagnostik und Therapie bei erhöhtem Risiko für immunologische Komplikationen
        • besondere Lebensbedingungen
        • Vorerkrankungen
        • Reise-/Migrationsanamnese
        • ethnische Zugehörigkeit
        • Poststreptokokken-Erkrankungen in der Eigen- oder Familienanamnese3
  • Sekundärprophylaxe
    • 1,2 Mio. Einheiten Penicillin G als intramuskuläre Injektion alle 21 Tage
    • Die Behandlungsdauer ist abhängig von der Schwere der kardialen Beteiligung, sie sollte jedoch über mindestens 5 Jahre fortgesetzt werden.10

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die Erkrankung tritt meist 6–8 Wochen nach einer Pharyngitis durch beta-hämolysierende Gruppe-A-Streptokokken auf.1
  • Meist entwickeln sich die Symptome allmählich über einige Wochen, ein plötzlicher Krankheitsbeginn kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.
  • In der Regel selbstlimitierender Verlauf mit Abklingen der Symptome nach durchschnittlich 12–15 Wochen.

Prognose

  • In etwa der Hälfte der Fälle kommt es zu einer vollständigen Remission der Symptome innerhalb von wenigen Monaten. Die Erkrankung kann jedoch auch bis zu 2 Jahre fortbestehen.
  • Bei bis zu 50 % der Fälle treten wiederkehrende Bewegungsstörungen unabhängig von vorangegangener Prophylaxe auf.1
  • Als Risikofaktoren für wiederkehrende Bewegungsstörungen gelten:
    • Einnahme von oralen Kontrazeptiva
    • Schwangerschaft
    • fehlende oder unzureichende Penicillin-Prophylaxe.10

Komplikationen

  • Karditis
  • Arthritis
    • Tritt bei ca. 1/3 der Betroffenen auf.10
  • Bei bis zu 50 % der Fälle treten wiederkehrende Bewegungsstörungen unabhängig von vorangegangener Prophylaxe auf.1

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie Patient*innen informieren?

  • Information über mögliche kardiale Beteiligung
  • Die Erkrankung hat insgesamt eine gute Prognose, Rezidive sind jedoch möglich.
  • Langfristige Nachuntersuchung und Sekundärprophylaxe sind von Bedeutung.

Patienteninformationen in Deximed

Video

  • Hemichorea nach Schlaganfall im Bereich der Stammganglien (mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Dagge) 

     

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Halsschmerzen. AWMF-Leitlinie Nr. 053-010. S3, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Beier K, Pratt DP. Sydenham Chorea. 2021 Jul 25. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2021 Jan–. PMID: 28613588. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie e.V. Rheumatisches Fieber - Poststreptokokkenarthritis im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie 023–027. S2k, Stand 2012. www.dgpk.org
  3. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Halsschmerzen. AWMF-Leitlinie Nr. 053-010. S3, Stand 2020. www.awmf.org
  4. Ekici F, Cetin II, Cevik BS, Senkon OG, Alpan N, Degerliyurt A, et al. What is the outcome of rheumatic carditis in children with Sydenham's chorea?. Turk J Pediatr. 2012; 54(2):159-67. PubMed
  5. Punukollu M, Mushet N, Linney M, Hennessy C, Morton M. Neuropsychiatric manifestations of Sydenham's chorea: a systematic review. Dev Med Child Neurol. 2016 Jan;58(1):16-28. doi: 10.1111/dmcn.12786. Epub 2015 Apr 28. PMID: 25926089. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Seckeler MD, Hoke TR. The worldwide epidemiology of acute rheumatic fever and rheumatic heart disease. Clin Epidemiol 2011; 3: 67-84. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Kirvan CA, Swedo SE, Heuser JS, Cunningham MW. Mimicry and autoantibody-mediated neuronal cell signaling in Sydenham chorea. Nat Med 2003; 9: 914-20. PubMed
  8. Jordan LC, Singer HS. Sydenham chorea in children. Curr Treat Options Neurol 2003; 5: 283-90. PubMed
  9. Gewitz MH, Baltimore RS, Tani LY, Sable CA, Shulman ST, Carapetis J, Remenyi B, Taubert KA, Bolger AF, Beerman L, Mayosi BM, Beaton A, Pandian NG, Kaplan EL; American Heart Association Committee on Rheumatic Fever, Endocarditis, and Kawasaki Disease of the Council on Cardiovascular Disease in the Young. Revision of the Jones Criteria for the diagnosis of acute rheumatic fever in the era of Doppler echocardiography: a scientific statement from the American Heart Association. Circulation. 2015 May 19;131(20):1806-18. doi: 10.1161/CIR.0000000000000205. Epub 2015 Apr 23. Erratum in: Circulation. 2020 Jul 28;142(4):e65. PMID: 25908771. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Dean SL, Singer HS. Treatment of Sydenham's Chorea: A Review of the Current Evidence. Tremor Other Hyperkinet Mov (N Y). 2017 Jun 1;7:456. doi: 10.7916/D8W95GJ2. PMID: 28589057; PMCID: PMC5459984. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Susanne Engelhardt, Dr. med., Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Hof
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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