Zusammenfassung
- Definition:Schädigung des Auges durch ätzende Substanzen wie Laugen und Säuren.
- Häufigkeit:Inzidenz 51–55/1.000.000 pro Jahr in den USA und Großbritannien.
- Symptome:Unmittelbar auftretende Schmerzen, Lichtempfindlichkeit, Fremdkörpergefühl im Auge und Tränenfluss.
- Befunde:Rotes Auge, Blepharospasmus, Chemosis und Epitheldefekte der Kornea.
- Diagnostik:Klinisch und anamnestisch.
- Therapie:Primär: Sofortiges Spülen des Auges.
Allgemeine Informationen
Definition
- Schädigung des Auges durch ätzende Substanzen wie Laugen und Säuren
- Die Schäden können zu Komplikationen führen, die das Sehvermögen gefährden.1
Klassifikation nach Dua2
- Grad I–VI, korreliert mit der Prognose.
- Parameter
- Limbusbeteiligung (in Zeitstunden)
- prozentuale Beteiligung der Bindehaut
Häufigkeit
- Inzidenz 51–55/1.000.000 pro Jahr in den USA und Großbritannien3
- Mehrheitlich im Rahmen von Arbeitsunfällen, zunehmend in häuslicher Umgebung oder als Folge von Kriminalität.4
- Laugenverätzungen sind häufiger als Säureverätzungen, u. a. wegen der hohen Verbreitung alkalischer Materialien in Bau- und Werkstoffen und in Reinigungsmitteln.
- Verätzungen machen 11,5–22,1 % der Augenverletzungen aus.5
- In den meisten Fällen leichte Schäden
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Schädliche Substanzen, vor allem ätzende, alkalische Stoffe wie Laugen, Ammoniak und Kalk sowie starke Säuren wie Schwefelsäure, Salzsäure und Fluorsäure, Flusssäure (Hydrofluoridsäure)
- Der Schweregrad der Verätzung ist abhängig von:
- der Kontaktzeit der Chemikalie mit dem Auge
- dem Zeitpunkt bis zum Beginn der Therapie
- der spezifischen Toxizität der Chemikalie
- der Konzentration und Temperatur der Chemikalie
- der Ausdehnung des mit Chemikalie in Berührung gekommenen Bereiches.6
Pathogenese
- Laugen: Lipolytisch, penetrieren schnell durch Zellmembranen.
- Verseifung der Fettsäuren der Zellmembranen
- Penetration und Schädigung der Gewebe von Lid-, Bindehaut- Hornhautstroma und Limbus7
- Gefäßschäden mit Ischämie
- Säuren: Schädigen Gewebe durch Denaturierung und durch Ausfällen von Proteinen. Koagulierte Oberflächenproteine wirken kurzzeitig als Barriere gegen eine weitere Penetration der Säure.8
- Ausnahme: Flusssäure. Fluorionen penetrieren rasch durch die gesamt Dicke der Hornhaut und richten schwerste Schäden am gesamten Auge an.9
- Perilimbale Defekte: für die Wundheilung und Prognose von großer Bedeutung2
Disponierende Faktoren
- Kleine Kinder, die mit Waschmitteln o. Ä. spielen.
- Ungeschütztes Arbeiten mit ätzenden Substanzen.
- Ablaugen, Reinigen, Silageherstellung, Laborarbeit
ICPC-2
- F79 Augenverletzung, andere
ICD-10
- T20 Verbrennung oder Verätzung des Kopfes und des Halses
Diagnostik
Anamnese
- Anamnese und klinische Untersuchung sollten nicht zu einer Verzögerung der sofortigen Behandlung führen!
- Bei Flüssigkeitsspritzern, die Brennen verursachen, müssen immer Verätzungen vermutet werden.
- Symptome: Schmerzen, rotes Auge, Lichtempfindlichkeit, Fremdkörpergefühl im Auge, Tränenfluss
- V. a. schwere Verätzungen wegen Ischämie auch häufig symptomarm, nur wenig Rötung6,10
- Arbeitsunfall? Wenn ja, Meldung an die zuständige Berufsgenossenschaft und ggf. Vorstellung bei D-Ärzt*in, siehe auch Artikel Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle.
Leitlinie: Anamnese6
- Eine ausführliche Anamneseerhebung soll während bzw. nach der Spülung erfolgen.
- Art der Chemikalie (Packung, Fachinformationen oder MSDS (Material Safety Data Sheet) vorhanden? Ggf. Giftnotruf kontaktieren.
- Erheben des Unfallzeitpunkts
- Verletzungsmechanismus (u. a. stand die Chemikalie unter hohem Druck?)
- Erfolgte ein Ausspülen der Chemikalie? Womit? Für wie lange?
Klinische Untersuchung
- Zunächst Spülung des Auges
- Dabei kurze Untersuchung der Konjunktiven auf Partikel und sofortige Entfernung
- Erst im Verlauf nach ausgiebiger Spülung
- Sehvermögen kontrollieren.
- Augendruck kontrollieren: palpatorisch am geschlossenen Auge.
- Dieser kann schnell ansteigen.
- Weißes Auge
- Hinweis auf schwere Schädigungen: Ischämie der konjunktivalen und skleralen Gefäße
- Auf zusätzliche Verätzung anderer Hautareale/ Inhalationsverletzung v. a. bei Flusssäure
- Häufig reflektorischer Blepharospasmus
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Bei Verfügbarkeit kurzes Untersuchen des pH des Auges mit Teststreifen
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
- Immer bei V. a. Verätzung des Auges
- Dennoch immer sofort mit der notfallmäßigen Spülung des Auges beginnen!
- Bei leichten Verätzungen ist eine ambulante Betreuung möglich, bei mittelgradig und schweren immer stationär.6
- Kontinuierliche Spülung während des Transports bei schweren Verätzungen!
- Andere nachweisbare Verätzungen werden ebenfalls unverzüglich an die Notaufnahme überwiesen.
Leitlinie: Indikation zur Einweisung6
- Bei leichten Verätzungen soll die Betreuung ambulant erfolgen.
- Bei schweren Verätzungen soll zunächst stationär behandelt werden.
- Bei mittelgradigen Verätzungen soll die Entscheidung, ob eine ambulante oder eine stationäre Behandlung erfolgt, u. a. aufgrund der Ausprägung der Befunde, der notwendigen Therapie, der Fähigkeit der Patient*innen zur Umsetzung der notwendigen Therapie, der Schmerzen und des Leidensdruckes erfolgen.
Therapie
Therapieziele
- Schädliche Substanz unverzüglich entfernen und den pH-Wert im Auge normalisieren.6
- Symptome lindern.
- Heilung der geschädigten Augenanteile
- Entzündungsreaktion kontrollieren.11
- Infektion verhindern.
- Intraokulären Druck kontrollieren.
- Komplikationen vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
- Unverzügliches und reichliches Spülen des Auges mit Leitungswasser (mehrere Liter) ist für die Prognose des Auges entscheidend! So früh wie möglich.12
- Spüldauer mindestens 15–30 min, bei alkalischen Substanzen länger oder bis zur Normalisierung des pH im Auge
- Örtlich betäubende Augentropfen können die Beschwerden der Patient*innen lindern und die Mitarbeit verbessern.10
- Zur Behandlung von Verletzungen, die durch alkalische Flüssigkeiten verursacht wurden, dürfen keine Säuren verwendet werden und umgekehrt.12
Medizinische Behandlung
Akutbehandlung in der Hausarztpraxis
- Bei Ankunft wird die Spülung, falls schon begonnen, kurzfristig unterbrochen, so kurz wie möglich.
- Lokalanästhetikum eintropfen, falls vorhanden, z. B. Oxybuprocain 0,4 % Augentropfen 1–2 Trpf., ggf. wiederholen.
- Falls vorhanden, Indikatorstreifen in den Bindehautsack halten zur Ermittlung des pH-Wertes.
- Kornea und Konjunktiva schnell untersuchen, um evtl. vorhandene ätzende Flüssigkeiten oder Partikel zu entfernen.
- Das obere Augenlid soll dazu ektropioniert werden: Während Patient*in nach unten schaut, werden Lidrand und Wimpern zwischen zwei Fingern gefasst und vom Auge abgehoben und dann über einem Wattestäbchen, das auf den oberen Anteil des Oberlids gedrückt wird, hochgeklappt.
- Sichtbare Partikel mit Wattestäbchen, Tupfer oder Pinzette entfernen.
- Danach mit dem kontinuierlichen Spülen fortfahren.
- an liegender Person, Gesicht seitwärts, mit der betroffenen Seite nach unten
- Patient*in bitten, aktiv die Augen zu öffnen.
- Spülung aus ca. 5 cm Entfernung, vom inneren zu äußeren Augenlid
- sanfte, kontinuierliche Spülung mit handwarmem Wasser aus einer Augenspülflasche, alternativ z. B. aus einer 50-ml-Spritze, einem Gefäß mit Ausgussrinne oder einem Infusionsschlauch über mindestens 15–30 min, bei schweren Verätzungen länger
- Ggf. pH-Wert im Verlauf messen.
- Gründlich unter den Augenlidern spülen. Wenn möglich, ektropionieren des oberen Lids, um auch die oberen Abschnitte der Konjunktiva zu erreichen.
- Patient*in sollte die Augen in alle Richtungen bewegen zur besseren Verteilung der Spülflüssigkeit.12
Welche Spülflüssigkeiten sind am besten geeignet?
- Leitungswasser; wenn praktisch besser zu handhaben: isotonische Kochsalzlösung.
- Für keine Spülflüssigkeit, weder Kochsalzlösung oder spezielle Pufferlösungen, ist eine Überlegenheit gegenüber normalem Leitungswasser belegt.11
- Entscheidend ist der sofortige und unverzügliche Spülbeginn, der nicht durch Überlegungen zur geeigneten Spüllösung verzögert werden sollte.
Behandlung nach der akuten Phase (durch Ophtalmolog*in)
- Verschiedene Optionen je nach Befund und Verlauf. Alle Augentropfen sollten phosphatfrei und ohne Konservierungsmittel sein.
- Bei mindestens mittelgradigen Verätzungen6
- Ascorbinsäure (Vitamin C) als Augentropfen und/oder Tabletten
- systemische und/oder subkonjunktivale Steroide/NSAID
- Doxyzyklin oder Tetrazyklin oder Makrolid-Antibiotika wie Azithromycin oral bei Hornhauteinschmelzung
- Antiglaukomatosa bei Sekundärglaukom
Schmerzlinderung
- Analgetika: je nach Bedarf
- Bei größeren Verletzungen sind häufig Opiat-Analgetika erforderlich.
Operative Therapie
- Unterschiedliche chirurgische Methoden zur Rekonstruktion der Augenoberfläche und zur Stimulierung des Heilungsprozesses nach Verätzungen
- Débridement von nekrotischem Material6
- Hornhauttransplantation zur Verbesserung der Sehschärfe
- Holoclar ist eine Stammzellentherapie, die im Dezember 2014 von der Europäischen Arzneimittelbehörde genehmigt wurde, und die auf Sicht die Hornhauttransplantation ersetzen kann.16
- Die deutsche Leitlinie erwähnt die Amnionmembrantransplantation (AMT) als mögliche Therapie bei mindestens mittelgradigen Verletzungen.6,17
Prävention
- Wichtig sind deutliche und klare Informationen über die Gefahr von Augenverletzungen auf den Chemikalienverpackungen.
- Lagerung von ätzenden Substanzen im Haushalt an für Kleinkinder nicht erreichbaren Stellen
- Schulung von Mitarbeiter*innen an Arbeitsplätzen mit chemischen Stoffen in der Notfall-Spülbehandlung von Augenverätzungen11
- Nutzung von Schutzbrillen und Vorhaltung von Dekontaminationshilfen beim Umgang mit Säuren und Laugen6
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Je nach Schweregrad er Verätzung
- Hängt erheblich von der Zeit bis Therapiebeginn (unverzügliches Spülen des Auges) ab.
Komplikationen
- Trübung der Kornea
- Vernarbung, Fornixverkürzung, Symblepharonbildung und Narbenentropium oder -ektropium6
- Symblepharon: strangähnliche Verwachsungen zwischen verschiedenen Teilen der Konjunktiva
- Sekundärglaukom:15–55 % der Patient*innen mit schweren Verätzungen der Augenoberfläche18
- Keratokonjunktivitis sicca (trockenes Auge); durch Mucusmangel aufgrund geschädigter konjunktivaler Becherzellen6,19
- Erblindung
- Entstellendes Äußeres mit psychischen Folgen
Prognose
- Vor allem Verletzungen durch Laugen können zu schweren Schädigungen der Kornea führen.
- Der Schaden ist von der alkalischen Stärke (dem pH-Wert), der Konzentration der Flüssigkeit und der Zeit abhängig, die bis zum Beginn der Augenspülung vergeht.
- Schwere Verätzungen haben eine schlechte Prognose.
- Leichte bis mittelgradige Verätzungen haben eine gute Prognose. Oftmals ist kein chirurgischer Eingriff notwendig.6
Verlaufskontrolle
- Bei Ophtalmolog*in
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Primärbehandlung in Form von Spülung
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft e. V. (DOG) und Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e. V. (BVA). Akute Verätzung am Auge. AMWF-Leitlinie Nr. 045-018. S1, Stand 2020. www.awmf.org
Literatur
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- Dua HS, King AJ, Joseph A. A new classification of ocular surface burns. Br J Ophthalmol. 2001 Nov;85(11):1379-83. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
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- Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft e.V. (DOG) und Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V. (BVA). Akute Verätzung am Auge. AMWF-Leitlinie Nr. 045-018. Stand 31.12.2020. www.awmf.org
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Autor*innen
- Franziska Jorda, Dr. med., Fachärztin für Viszeralchirurgie, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Kaufbeuren
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).